Aphorismen und Miszellen. 091 bis 100.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
91. Die Natur der Dinge und was schön sei oder mißgestaltet, malt Euch jeder Batzenspiegel nicht minder treu zurück als das hohe stolze Glas am Pfeiler eines fürstlichen Gemaches. Die Weltgeschichte pulsiert in Täglichkeiten. Darum, wer emsig und frohen Mutes zu forschen und zu betrachten, der durchblättert das Buch der Menschheit in einer Taschenausgabe, die ihn überall begleitet, oft und gem.

92. Bei dem Einmarsche der königlich spanischen Truppen in Valencia im Jahre 1812, unter General Wittingham, wurde allerorten angeheftet und ausgetrommelt: die von Suchet eingeführte Polizei höre gänzlich auf. Das Volk war außer sich vor Freude, wobei es immer rief: „Nun sind wir wieder, wie vor diesem, sicher auf der Straße und in unsern Häusern; es gibt keine Polizei mehr.“

93. Seitdem das Wunderbare vor unsern Augen sich erfüllt hat, haben wir alle Berechnung für das Natürliche verloren.

94. Man heilt Leidenschaften nicht durch Verstand, sondern nur durch andere Leidenschaften.

95. Die Weiber haben Launen, weil sie zu gut sind, das Böse nach Grundsätzen, und zu schwach, das Gute mit Dauer zu üben.

96. Eitelkeit ist die sicherste Wächterin der öffentlichen Ruhe. Sie ist die Omphale des Ehrgeizes und legt ihm Rosenketten an. Wer am Schimmer des Goldes seine Freude findet, wird das Eisen nicht achten, und im Tanzschritte ist noch keiner auf den Thron gestiegen.

97. Die wahre feine Lebensart, welche mehr tut, als mit Blitzesschnelle eine gefallene Stricknadel aufheben, entspringt entweder aus der Tiefe des Geistes oder aus der Fülle des Herzens, und weder der Tanzmeister lehrt sie noch Chesterfield.

98. Beschränkten Menschen ist es eigen, daß sie die wenigen Ideen, die in dem engen Kreise ihrer Fassungskraft liegen, mit einer Klarheit ergreifen, die uns in der Schätzung ihres Geistes oft irre macht. Sie sind wie Bettler, die das Gepräge und die Jahreszahl jedes ihrer Kreuzer kennen.
99. Die Fürsten sehen immer noch nicht ein, daß die Polizei ihre gefährlichste Feindin, ja die einzige revolutionäre Macht ist, die sie zu fürchten haben. Sind wirklich Übel vorhanden, so werden sie von der plumpen und abgeschmackten Quacksalberei jener Staatsgewalt nur verschlimmert. Ist das Volk krank, so gebt ihm frische Luft und freie Bewegung, vertraut es aber nicht den ungeschickten Händen eitler, törichter und pflichtvergessener Pfuscher an.

100. Carneades hielt zu Rom öffentlich zwei Reden, die eine für, die andere wider die Gerechtigkeit, und – ward 90 Jahre alt. Hufeland hat es in seiner Makrobiotik zu bemerken vergessen, daß man, um alt zu werden, keine Grundsätze haben dürfe.