Aphorismen und Miszellen. 071 bis 080.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
71. Der süße Brei ist aufgegessen ... jetzt balgen sie sich um die Schärre ... darüber zerbrechen sie den Topf ... dann gibt es keinen Brei und keine Schärre mehr ... dann schlagen sie sich auch nicht mehr.

72. Die Fürsten hätten sich und ihren Völkern viel Unglück ersparen können, wenn sie die Hofnarren nicht abgeschafft hätten. Seit die Wahrheit nicht mehr sprechen darf, handelt sie.

73. Heringe oder Sardellen – das ist der ganze Unterschied zwischen sonst und jetzt. Gesalzen sind sie immer noch und werden es immer bleiben.

74. Sie wollen keine Preßfreiheit, weil sie glauben, der Wind drehe sich nach der Wetterfahne.

75. Man kann nie genug bewundern, mit welcher Schlauheit das Schicksal die Schwächen, Eitelkeiten und Leidenschaften der Menschen benutzt, um seine Zwecke zu erreichen. Dieses ist so klar geworden, daß man sich freuen muß, wenn der Unverstand oder der böse Wille einflußreicher Menschen hervortritt; denn das ist ein untrügliches Zeichen, daß das Wünschenswerte sich seiner Erfüllung naht.

76. Auf der Weltbühne ist das Schicksal der Souffleur, der das Stück ruhig und leise abliest, ohne Gebärden, ohne Deklamation, und ganz unbekümmert, ob es ein Lustspiel oder ein Trauerspiel ist. Das Zappeln, das Schreien und übriges tun die Menschen hinzu.

77. Wenn es wahr ist, daß der Bandwurm sich erneuert, solange der Kopf besteht, dann bleibt den Völkern nur die traurige Wahl zwischen Verbrechen und Krankheit. Darum bedenkt euren Vorteil, die Tugend des Volkes und die Ruhe der Welt – seid nicht länger der Kopf des Bandwurms.

78. Gewisse Leute leben, als wüßten sie, daß sie am andern Morgen gehängt werden. Auch sind sie wirklich verurteilt, nur daß die Tage des Schicksals keine Sonnentage sind. Darum wollen wir ihrer letzten Mahlzeit, so teuer sie uns auch zu stehen kommt, mit Vergnügen zusehen, ihr Appetit sei unser Trost.

79. Die Schreiberregenten. – Es geht drunter und drüber in unsern Staaten her, weil die Beamten nicht verstehen, auf das Volk zu wirken. Sie schlagen darauf los, und das nennen sie verwalten. Verstimmen ist leicht, aber stimmen kann nicht jeder. Und wie sollte es anders sein? Schuster, Schneider, Schlosser müssen in Deutschland einen großen Teil ihres Lebens in der Lehre stehen und wandern, bis ihnen verstattet wird, ihr Handwerk auszuüben; Bierbrauer und Faßbinder lernen, der Himmel weiß wie viele Jahre, an einer einzigen Suppe kochen, an einem einzigen Gefäße schnitzen, und das Regieren, denkt man, sei eine angeborne Fähigkeit. Oder etwa das Studieren auf der Universität bilde den Beamten? Regieren ist eine Kunst, keine Wissenschaft, und ein Schneiderjunge, der lesen und schreiben gelernt hat, versteht darum noch keinen Rock zu machen. Das Regieren von ehemals steht von dem gegenwärtigen so weit ab, wie die Schiffahrt auf Strömen von der auf dem Meere. Unsere Beamten sind Ruderknechte, sie verstehen die Segel, den Kompaß, das Steuerruder nicht zu gebrauchen, und die Vornehmen in der Kajüte verstehen es auch nicht. Sie wissen nichts von Sandbänken und Klippen und Meeresstille. Sie haben ein paar Brezeln, die hinreichen nach Offenbach oder Niederrad, aber nicht Mundvorrat genug für große Seereisen. Der öffentlichen Meinung zu gefallen und sie zu leiten, das ist freilich schwerer, als dem S.T. Herrn Vorgesetzten einen unerträglichen Bückling zu machen und ihn bei seinen Launen zu führen. Das lernt sich nur aus der Erfahrung, aus der großen Welt- und Völkergeschichte, nicht aus dem albernen Knigge und dem eiteln Chesterfield. Man besuche nur ein Kollegium oder ein Bureau; wie das höflich ist, wie das einander kennt, wie das pfiffig aussieht, wie sich das wechselseitig forthilft, wie das dekretiert, tabelliert, kontrolliert und kabaliert! Der Direktor ist ihnen Fürst, Staat, Volk, Himmel und Erde, Engel oder Teufel. Das geht in seidnen Strümpfen auf schön gebahntem Wege, von einem Protokolle zum andern, von einem Dekrete zum andern, von einer Weisung, von einer Rechnung zur andern. Steckbriefe schreiben, die Schatzung einnehmen, eine Schildgerechtigkeit erteilen oder abschlagen, einen bettelnden Handwerkspurschen ins Loch stecken, einen Wirt bestrafen, der abends nach zehn Uhr noch einem Bürger den Durst gelöscht, eine Hure auspeitschen, das sind freilich leichte Sachen. Aber jetzt sind Staatsverbrecher zu verfolgen, Schuldentilgungen von tausend Millionen anzuordnen, die Rechte der Völker zu bestimmen, Millionen Bettler zu befriedigen, berauschte Länder in Achtung zu erhalten, und zu diesem allen ist euer Konzept- und Stempelpapier viel zu klein. Geht nach Paris, das ist eure Universität; leset den alten Moniteur, das ist euer Corpus Juris; hört die Deputiertenkammer, das ist euer Praktikum; und dann laßt euch den Doktorhut geben, kehrt zurück, heiratet und regiert.

80. Karamsins Geschichte des russischen Reichs. – Könnte man ein Buch, das ganz aus Titelblättern besteht, anders lesen als mit Unwillen oder Überdruß? Aber Könige sind nur die Titelblätter der Geschichtsbücher ihrer Völker. Darum durchwandert man gleichgültig die dürren Heiden der neuen europäischen Geschichten, wo weder Schatten noch Obdach, noch labende Herberge den müden Forscher stärkt. Sie sind nichts als Flurbücher, worin die Staaten mit dem Maßstabe der Besteuerung nach Länge und Breite abgemessen und Völker wie Grundstücke nach jedem Kaufe, Tausche und Todesfalle neu ab- und zugeschrieben werden. Wer flüchtete nicht froh in eine andere Weltgegend, wo nicht ein schwacher Stab als schlauer Hebel der Stärke gebietet, sondern der schwächere Geist dem mächtigern gehorcht? Wer stiege nicht gern hinauf zu einer älteren Zeit, da noch die Menschengeschichte frisch aus der Quelle der Natur floß, da die Völkerströmungen sich ihr selbstgewähltes Bett gruben und unbekümmert um Herkommen und Federsatzungen ihren angetretenen Weg fortsetzten? ... Das alles finden wir in der russischen Geschichte.

Dieses und das weitere könnte in klaren verständlichen Worten dargetan werden; aber wir Sünder werden genötigt, uns die heilige Sprache der Propheten anzumaßen und wie Ezechiel in Bildern zu reden. Das russische Reich, ein Mann, wenn man es mit seinen Gespielen vergleicht, aber da die Dauer des Wachstums die Dauer der Kindheit bestimmt, noch ein Kind – hat, wie Herkules schon in der Wiege, die Europa umschnürende Riesenschlange zerdrückt. Was es auch noch werden möge, genug, es ist im Werden und in Europa das einzige aufsteigende Licht. Wie man auch gesinnt sei, geneigt oder abgewendet, hoffend oder fürchtend, nur gleichgültig sollte man nicht sein, man sollte stets, selbst mit Verluste des nötigen Schlafes, die Augen offen halten und sich nicht einlullen lassen von denen, die ungleich den Anwohnern des Vesuvs ruhig sind, weil der Berg nicht raucht. Wenn die Pest im Lande, freut man sich des rettenden Winters und bezahlt gern das Leben mit der Freundlichkeit des Lebens. Es hat der Menschheit nie an einem kehrenden Herkules gefehlt, sooft ihre Augiasställe überfüllt waren.

Schon das ist ein Zeichen von der Größe eines Volkes, wenn es in seiner Mitte einen großen Geschichtschreiber findet; denn jeder Künstler, auch wenn er verschönt, kann doch nur an einer schönen Wirklichkeit sich begeistern. Karamsins Geschichte des russischen Reichs ist ein Meisterwerk, das seines Gegenstandes würdig ist. Die Anordnung ist zweckmäßig, klar und verständlich. Die verwickelten Massen von Gebieten und Völkern, aus denen sich das ungeheure Reich nach und nach zusammengebildet, sind mit vieler Kunst gesondert und je nach ihrer Bedeutung mehr oder weniger beleuchtet. Der Stil ist edel, kräftig und, wo es geschehen durfte, malerisch. An herrlichen Betrachtungen fehlt es nicht, aber sie folgen alle den Ereignissen wie freiwillig nach und werden nicht von dem Verfasser als pomphafte Begleitung mitgegeben. Ohne Religion und Vaterlandsliebe, wo es die Wahrheit gilt, hat Karamsin die Verbrechen und Niederlagen seines Volkes, zwar minder froh, aber nicht minder aufrichtig erzählt als dessen Siege und Tugenden. Angenehm überraschend ist die Offenheit, mit welcher er warm und beifällig gewisse Grundsätze aussprach – und also aussprechen durfte – von deren Aufnahme ins Leben Rußland noch so weit entfernt ist, weniger weil es der Regierung an Freisinnigkeit, als weil es dem Volke an Sinn für Freiheit mangelt. Es wird überall gezeigt, wie sich die Herrschaft der Sterblichen irdisch gebildet habe, und nicht, wie man zu glauben befiehlt, als Unsterbliche von dem Himmel herabgestiegen sei. „Der russischen Geschichte Beginn stellt uns ein bewunderungswürdiges, in den Annalen vielleicht beispielloses Ereignis dar. Die Sklaven vernichten freiwillig ihre alte Volksregierung und verlangen Herren von den Warägern, ihren Feinden. Überall führte das Schwert der Starken, oder die Verschlagenheit der Ehrgeizigen die Herrschermacht ein (denn die Völker wollten Gesetze, fürchteten aber den Verlust der Freiheit); in Rußland wurde diese mit der allgemeinen Zusammenstimmung der Bürger gegründet ...“