Aphorismen und Miszellen. 031 bis 035.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
31. Die deutschen Blätter, die politischen sowohl als die nichtpolitischen, sind, wenige ausgenommen, ganz unbeschreiblich abgeschmackt. Die Armut hat doch sonst etwas Romantisches, die Bettelei hat etwas Rührendes; aber die deutschen Blätter haben von der Armut nur das Widrige und von der Bettelei nur das Unausstehliche. Alle Zeitungen sind alle Tage und allerorten mit Berichten über Schauspieler und Sänger angefüllt, und die Ausländer, die unsere Blätter lesen, müssen denken, daß dreißig Millionen ehrwürdige Germanen nichts täten als spielen und singen und für nichts Sinn hätten als für Spiel und Gesang. Mag immerhin jedes Blatt das Schauspiel und die Oper seines Orts besprechen; geschieht es nur mit Kenntnis und Feinheit, hat das auch sein Gutes und Ergötzliches. Aber was kann einem Dresdener daran gelegen sein, wie Herr der in München den Franz gespielt, wie Frau die in Wien die Agathe gesungen? Was nützt es dem Frankfurter, am 4. Oktober zu erfahren, daß am 29. September Demoiselle Sontag in Berlin die Donna Anna singen werde? Kann er die fünf Tage, die beide Zeiten trennen, zurückleben, ungerechnet die drei, die er zu einer Reise nach Berlin brauchte, um der Vorstellung des Don Juan beizuwohnen? O! es ist eine Schmach! Man glaubt sich in die Zeiten des römischen Kaiserreichs zurückversetzt, wo entartete Fürsten und entartete Völker, vom Schlamme der Lüste über und über bedeckt, mit heißdurstigen Blicken einem Wagenführer in der Rennbahn nachsahen und überhörten, daß die Barbaren schon die Tore stürmten!

32. Ehe eine Zeit aufbricht und weiterzieht, schickt sie immer fähige und vertraute Menschen voraus, ihr das neue Lager abzustechen. Ließe man diese Boten ihren Weg gehen, folgte man ihnen und beobachtete sie, erführe man bald, wo die Zeit hinaus will. Aber das tut man nicht. Man nennt jene Vorläufer Unruhestifter, Verführer, Schwärmer und hält sie mit Gewalt zurück. Aber die Zeit rückt doch weiter mit ihrem ganzen Trosse, und weil sie nichts bestellt und angeordnet findet, wohnt sie sich ein, wo es ihr beliebt, und nimmt und zerstört mehr, als sie gebraucht und verlangt.

33. Daß die Diplomatik sich verrechnet, ist etwas sehr Gewöhnliches, auch etwas sehr Natürliches; man verlernt leicht das Rechnen, wenn die Folgen der Rechnungsfehler auf andere fallen. Daß aber auch jene sich verrechnen, die, entfernt vom Gedränge der Taten, ungestört in ihrem einsamen Zimmer nachdenken können und Zeit genug haben, hundert Male die Probe zu machen – darüber muß man erstaunen. Wenn die deutschen wissenschaftlichen Männer den Verstand auch noch verlieren, was bleibt ihnen übrig? Tatkraft, Reichtum, Macht und Ansehen haben sie nie gehabt.

34. Die deutsche Geschichte gleicht einem ungebundenen Buche; so beschwerlich und verdrießlich ist sie zu lesen. Man muß oft die Bogen umwenden, verliert den Zusammenhang darüber, und Titel und Register liegen nicht selten in der Mitte versteckt.

35. Im Weinmonat 1828 enthielt der Hesperus einen Aufsatz: „Das Wichtigste der Resultate und Verhandlungen des großherzoglich hessischen Landtages von 1826 bis 1827.“ Also ein Jahr, anderthalb Jahre nachher. Ein wenig spät, ein wenig spät – schadet aber nichts. In Deutschland kömmt nichts zu spät; die deutsche Zeit, ungleich den Postwagen, wartet auf jeden Passagier. Der Aufsatz erscheint in den acht Blättern des Hesperus, die vor mir liegen, nur als Fortsetzung und hat weder Anfang noch Ende. Ein wenig lang, ein wenig lang – schadet aber auch nichts. In Deutschland ist nichts zu lang; je länger, je lieber. Die Einsender langer Abhandlungen kommen unter die Mitarbeiter von der Garde, ihre Artikel bilden die Gardeliteratur der Zeitschriften, und sie erhalten größern Lohn. Aber etwas anders schadet, und davon will ich sprechen. Der Titel des Aufsatzes ist nicht zweckmäßig gewählt. Ein eleganter Leser weist die schönste Abhandlung zurück, die sich ihm unter einem so übellautenden Namen meldet. Man muß ihn täuschen, man muß ihn locken. Wer das Wichtigste, also den Geist einer deutschen Ständeversammlung mitteilt, der ist ein Destillateur, er macht Branntwein; er sollte also seinen Berichten einen wohlschmeckenden Liqueurnamen geben. Der Darmstädter Destillateur im Hesperus hätte seinen Aufsatz nennen sollen: Extrait d'Ennui, doppelte Langeweile, Darmstädter Wasser, Eau de Hesse, double patience, Esprit de Mirabeau; oder mit sonst einem Namen, der die Zungennerven reizt.

In diesem Landtagsberichte ist unter andern von der Wohnungssteuer die Rede, und bei dieser Gelegenheit lesen wir folgendes: „Sei nun z.B. das reine Einkommen des X aus seinem Grundvermögen = A, und verdanke er seiner sogenannten rein persönlichen Tätigkeit ein weiteres Einkommen = a; sei ferner der rein persönliche Erwerb des Y – der kein Grundvermögen besitzet und kein steuerbares Gewerbe treibt – = 2 a, und werde angenommen, daß überhaupt 1/b des Gesamteinkommens auf die Wohnung verwendet werde: so verwendet X: (A+a)/b und Y: 2a/b. Nehme nun endlich der Staat 1/c des Aufwandes für die Wohnung als Steuer in Anspruch, so muß X bezahlen: (A+a)/bc, und Y: 2a/bc. X versteuert also hier das reine Einkommen aus seinem Grundvermögen noch einmal, und kein Mensch wird behaupten können, daß sich der rein persönliche Erwerb beider, oder a: 2a, wie ihre Wohnungssteuer oder wie: (A+a)/bc:2a/bc verhalten müsse.“ – – Mein lieber Herr, ich glaube, Sie wollen uns zum besten haben. Spricht man so mit den Lesern des Hesperus? Ist das die Art, politische Aufklärung in Deutschland zu verbreiten? Ist das die Art, die Odenwälder Bürger und Bauern mit den Angelegenheiten ihres Landes bekannt zu machen? Kann man denn ohne X und Y, plus und minus, dieses alles nicht eben so deutlich machen? Wie viele unter den Schoppengästen, die sich jeden Abend bei Herrn Wiener, in der Post und in der Traube in Darmstadt versammeln, gibt es denn, die das verstehen? Wie viele im deutschen Volke überhaupt? Ich habe den Versuch gemacht. Norddeutschland ist bekanntlich viel gebildeter als Süddeutschland, und Hannover besitzt ohne Widerspruch die größte politische Aufklärung unter allen deutschen Staaten. Nun, ich, der ich gegenwärtig in Hannover sitze und schreibe, habe vier Kopisten abwechselnd zu meinem Gebrauche. Es sind die gebildetsten Kopisten, die mir je vorgekommen sind, wie es auch nicht anders sein kann; denn der eine ist im Kriegsministerium angestellt, der zweite in der Ständeversammlung (die man hier Landschreiberei nennt), der dritte bei einem Justizrate und der vierte in einer Torstube. Es ist wahr, sie haben beim Abschreiben ihre Eigenheiten. Sie schreiben gewöhniglich statt gewöhnlich; setzen den Punkt nicht über das i, sondern fünf bis acht Buchstaben weiter rechts; geben jeder Königin ein doppeltes n; haben einen unbesiegbaren Eigensinn, y für i zu setzen, c für z und ck statt k. Übrigens aber sind sie musterhaft und so genau und treu, daß sie aus jedem Dintenkleckse, der sich im Manuskripte befindet, einen Gedankenstrich ma chen, wodurch mancher meiner Sätze ein tiefsinniges Ansehen bekam, das er ursprünglich gar nicht hatte. Diesen vier Kopisten gab ich, einem nach dem andern, gegenwärtigen algebraischen Artikel zum Abschreiben; aber keiner konnte damit fertig werden, keiner schrieb ihn so, daß er in der Druckerei verständlich gewesen wäre, und ich war darum genötigt, ihn selbst zu kopieren. Wenn nun sogar vier hannövrische Kopisten keine Algebra verstehen, was läßt sich erst von süddeutschen Bürgern erwarten? Sprechen und schreiben denn die Franzosen in ihren Kammersitzungen, wenn vom Finanzwesen die Rede ist, auf solche algebraische Weise? Warum gehen wir bei ihnen nicht in die Schule, um reden und schreiben zu lernen? Wozu denn hielten wir zum zweiten Male Paris besetzt?

Es flog ein Gänschen über den Rhein,

Und kam als Gans wieder heim.