Aphorismen und Miszellen. 021 bis 025.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
Themenbereiche
21. Feuerbach, in seinem Werke über die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Rechtspflege, erklärt sich für beide, kann sich aber dennoch nicht enthalten, gegen diejenigen Schriftsteller zu eifern, die derselben Lehre anhängen. Er bezeichnet sie als solche, „die davon gewöhnlich nicht mehr wissen, als daß man den Mund und die Türen dabei aufzumachen habe“. Das ist zwar witzig, aber der Spott scheint gar nicht am gehörigen Orte zu sein. Von jeder Staatseinrichtung, welche das Wohl der Bürger zum Zwecke hat, ist derjenige Teil, der von der Menge begriffen wird, immer der wichtigste. Die echte Regierung hat keine Kunstgeheimnisse. Spitzfindige Gelehrsamkeit mag in der Untersuchung über das öffentliche und mündliche Gerichtsverfahren noch mancherlei Verborgenes aufzudecken finden; Feuerbach mag das französische Verfahren hierbei mit Recht getadelt haben. Aber das Wichtigste bleibt allerdings, daß Mund und Türe dabei geöffnet werde. Feuerbach war empfindlich, weil ihm vorgeworfen worden, daß er seine Meinung, die früher gegen die Öffentlichkeit und Mündlichkeit gerichtet war, umgeändert habe. Aber das hätte ihn von seinen Landsleuten nicht überraschen sollen. Es ist ja auch eine von den unseligen Pedanterien, daß es für eine Unredlichkeit und für eine Schwäche erklärt wird, wenn man seine Meinung ändert. Als wäre der Mensch unfehlbar! Daß er es nicht ist, ist gerade schön; denn einen Wahn verlieren macht weiser, als eine Wahrheit finden.

22. Aus einer Rede, die der Abgeordnete Girardin in der französischen Kammer gehalten, erfährt man, daß unter der alten königlichen Regierung die Briefe auf der Post eröffnet wurden, daß dieses unter Napoleon auch geschah und daß es jetzt noch immer geschehe. Sooft man mit manchen Staatsmännern von dergleichen Gegenständen spricht, lächeln sie, und das ist auch wirklich das beste, was sie tun können, denn wie ließe sich ein Lächeln widerlegen? Es ist ein Alphabet, worin die Bestandteile aller möglichen Meinungen enthalten sind. Was antworten sie aber darauf, wenn man sie fragt: haben jene Eingriffe in das Eigentum Ludwig XVI. gerettet, haben sie Napoleon vor dem Untergange bewahrt? Wenn man sie fragt: haben tausend abgeschmackte Polizeikünste, deren Anwendung man sich immer noch nicht schämt, haben sie die spanische, die portugiesische und andere Revolutionen, haben sie den Abfall der südamerikanischen Staaten verhindert? – Was werden sie darauf erwidern können? Werdet ihr nie begreifen, daß ihr es nicht mit Personen zu tun habt, sondern daß euch Sachen feindlich gegenüberstehen, und daß eine Sache, wie die Luft, unverwundbar ist? Ihr jubelt, wenn es euch gelang, einen kleinen Raum luftleer zu machen, und ihr vergesset, daß es dann um so gefährlicher ist für euch, weil in luftleeren Räumen fallende Körper um so schneller fallen. Freilich sind solche Reden vergebens, und man wird damit ausgelacht; aber es ist besser, den Atem als den Verstand verlieren.

23. Herr Wilhelm von Schütz, ein Kampfgenosse des Offenbacher Staatsmannes, hat „Blicke in die amerikanischen Reiche“ geworfen. Wenn er nichts deutlich gesehen, so ist das durchaus nicht seine Schuld; denn Amerika ist eine dunkle Unterwelt geworden, seit es unsere superben Tarquinier zur Cloaca maxima gewölbt und es bestimmt haben, den europäischen Unrat abzuführen – die Liberalen nämlich. Auch ist Herr von Schütz so ehrlich, über das, was er dunkel gesehen, dunkel zu berichten. Wir mögen also nicht mit ihm streiten. Auch vermöchten wir es nicht. Denn hoch erhaben über den Wolken des Trugs thront Herr von Schütz in ewiger seliger Ruhe und lächelt des sterblichen Menschengeschlechts. Er redet die Sprache Goethes, der Diplomaten und der olympischen Götter. Läßt er die herrlichen Worte vernehmen: detachiert, Intentionen, supplieren, Independenz, Intervention, Perfektion, Revolten; sagt er, die Freigebung Südamerikas berührend: „kaum ist wegen des Reichtums an verborgenen Rücksichten hierüber ein durchgreifendes Wort zu sagen möglich“ – hören und schweigen wir mit heiliger Scheu, so sehr uns auch die Finger jucken, hinabzugreifen, um den Schatz verborgener Rücksichten zu heben. Aber mit Herrn Pfeilschifter, der zu jener Abhandlung einen „Nachtrag“ geschrieben, wollen wir ein Wort sprechen. Herr Pfeilschifter ist der Sterblichen einer; er kennt den Haß, den Zorn, die Liebe; er kann grob sein, er fühlt menschlich – mit ihm wollen wir rechten. Er sagt in seinem Nachtrage: „Gegen eine Faktion, welche ihren Sieg nur auf Betrug und Täuschung, den Betrug auf den allgemeinen Mangel an gründlichen Kenntnissen und das Schweigen ihrer Gegner gründet, gibt es keine bessere Taktik, als ihren Lügen die Wahrheit, ihren Deklamationen die Tatsachen, ihren Verkündigungen die Wirkungen ihrer Siege entgegenzusetzen. Aus diesem Grunde haben wir nachstehende Notizen über den Zustand von Neuspanien, wie er durch die revolutionären Unternehmungen geworden ist, zusammengestellt, um zu beweisen, wie nachteilig und verderblich sogar in materieller Rücksicht die Versuche der sogenannten Emanzipation für Südamerika selbst geworden sind.“ Und nun stellt Herr Pfeilschifter seine Berechnungen an. Wir wollen dem Manne von gründlichen Kenntnissen an seinem Fazit der ehemaligen Glückseligkeiten und gegenwärtigen Leiden der südamerikanischen Provinzen keinen Deut und kein Seelchen abziehen. Es soll sich alles so verhalten, wie er gesagt; jene Länder sollen durch den Versuch ihrer sogenannten Emanzipation den fünften Teil ihrer Bevölkerung verloren haben, und ihr Handel, Landbau und Gewerbtätigkeit sollen wirklich darüber zu Grunde gegangen sein. Was beweist dieses aber? Wenn die Gegner der Freiheit deren Verteidiger im offenen Kampfe bekriegen oder sie durch höllische Polizeikünste zu Bürgerkriegen betören – wer hat das vergossene Blut, wer die Verwüstungen zu verantworten? Wen hat Herr Pfeilschifter durch seine Gaukelrechnerei zu täuschen den Auftrag erhalten? Das ist das ewige Rätsel. Der Pöbel, der nicht denkt, liest auch nicht, und die, welche lesen, denken und lassen sich durch alte abgeschmackte Lügen nicht irreführen. Herr Pfeilschifter, der ja selbst gesagt, daß wir andern unsern Betrug auf das Schweigen unserer Gegner gründen, wird, uns dieses Fundament zu entziehen, sich ohne Zweifel rütteln und auf die hier gemachte Bemerkung die gebührliche Antwort geben.

24. In einer Sitzung, welche die Akademie der Wissenschaften in München zur Feier des Geburtstages des Königs hielt, las Professor Oken eine Rede über das Zahlengesetz in den Wirbeln des Menschen vor. Er suchte darin zu zeigen, daß fünf die herrschende Zahl in diesem Teile des menschlichen Leibes sei, und schließt dann mit den Worten: „Diese Gesetzmäßigkeit in unserm Leibe, ja in einem einzigen Systeme desselben, wen sollte sie nicht ergreifen, wen nicht begeistern zur Freude über jene Gesetzmäßigkeit, welche er auch in der Geschichte und im Leben, dem Ebenbilde der Natur und des menschlichen Lebens erkennt! Wen sollte sie nicht hinweisen auf das Land, in welchem Gesetz und Ordnung herrscht, in welchem Anstalten bestehen und werden, durch die es der Wissenschaft möglich wird, diese Gesetze zu erkennen, und der Kunst, diese Harmonie darzustellen: in welchem den Gelehrten und Künstlern Muße gegeben ist, in diesem fruchtbaren Felde zu arbeiten, und Lust, dem zu danken, durch den dieses alles hervorgebracht, erhalten und befördert wird, dem Könige der Gelehrten und Künstler!“ So ein deutscher Professor hat den Teufel im Leibe! Er ist zugleich Osteolog und Hofmann, er kann alles! Fünf Knochen zu einem Geburtstage, welch ein Angebinde! In welchen schönen Pentametern wird das Lob des bayerschen Königs besungen! Das bayersche Recht, fest wie eine Wirbelsäule! Was werden mißhandelte und gedrückte Völker sagen, wenn sie erfahren, daß ihr Rücken, weit entfernt, die Bestimmung zu haben, schwere Lasten zu tragen und geprügelt zu werden, vielmehr ihr Recht auf eine freie Verfassung beurkundet? Prinz Michel hat in Wien alles gelernt, aber leider die Osteologie nicht. Er weiß nichts von fünf Wirbeln, er weiß nichts von Konstitutionen. Selbst die Rücken reden von Freiheit, selbst die Wirbel werden revolutionär! Man muß die aufrührerischen Wirbel mit ihrem ganzen Anhange von verschworenen Gliedern einsperren. Geschwind die Anatomie zensiert, wenigstens auf fünf Jahre, mit Vorbehalt weiterer Verlängerung! Geschwind aus fünf drei gemacht, wie Villele. Geschwind die Zahl fünf ganz ausgestrichen aus der Reihe der Zahlen!

25. Es hüte sich der junge Dichter, an seinen Werken jene steinerne Ruhe herauszuarbeiten, von welcher Goethe so verlockende Beispiele gab. Bei den Alten warf die Anbetung den warmen Pupurmantel um die kalten, nackten Marmorgötter. Aber wir mit unsern Winterherzen lassen nackt, was wir nackt gefunden. Ruhe, Friede und Klarheit muß im schöpferischen Geiste wohnen; dann wird sie den Schöpfungen nicht ermangeln. Die Ruhe der Gleichgültigkeit schafft nur Werke, die gleichgültig lassen. Shakespeare und Calderon wurzelten tief, der in der Natur, der im Glauben, und weil sie so fest gestanden, gaben sie ihre Zweige dem Sturme, ihre Blätter kosenden Lüftchen hin und zittern nicht vor der rohen Gewalt des Windes und fürchteten nicht, nahende Vertraulichkeit möchte der Ehrfurcht schaden. Der Bewegungslose wird nie bewogen, und nur der bewegte Dichter kann dem bewegten Herzen Ruhe geben.