Aphorismen aus der Feder von Johann Gottfried Herder.

Autor: Herder, Johann Gottfried (1744-1803)
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Über Herder

Herder stand im Umfang des Geistes und des Dichtungsvermögens gewiß Goethe und Schiller nach, allein es war in ihm eine Verschmelzung des Geistes mit der Phantasie, durch die er hervorbrachte, was beiden nie gelungen sein würde.
Wilhelm v. Humboldt


Wenige Geister waren auf die große Weise gelehrt wie er. Die meisten verfolgen nur das Seltenste, Unbekannteste einer Wissenschaft; er hingegen nahm nur die großen Ströme, aber aller Wissenschaften, in sein himmelspiegelndes Meer auf, das ihnen aufgelöst seine Bewegung von Abend gegen Osten aufdrang. Viele werden von der Gelehrsamkeit umschlungen wie von einem austrocknenden Efeu, er aber wie von einer Traubenrebe.
Jean Paul



Die Natur scheint bei der unendlichen Varietät, die sie liebt, alle Lebendigen unserer Erde nach einem Hauptplasma der Organisation gebildet zu haben. Ein Geschöpf erklärt das andere. Der Mensch ist die ausgearbeitete Form, in der sich die Züge aller Gattungen sammeln. Die Fiber, den Muskel, den Nerv bewegt eine Kraft. Es mögen viele Medien in der Natur sein, von denen wir nichts wissen, weil wir kein Organ dazu haben. Jedes Geschöpf hat seine Welt.


Wer ein Maß von Wichtigkeit, wer ein Weltall in der Seele trägt, dem wird unmöglich jedes Kümmel- und Staubkorn ewige Welt der Beschäftigung sein können.


Siehe das ganze Weltall von Himmel zu Erde, was ist Mittel? Was ist Zweck? Ist nicht alles Mittel zu Millionen Zwecken? nicht alles Zweck von Millionen Mitteln? Tausendfach die Kette der allmächtigen, allweisen Güte, in- und durcheinander geschlungen; aber jedes Glied in der Kette ist an seinem Orte; Glied hängt an der Kette und sieht nicht, wo endlich die Kette hängt. Jedes fühlt sich im Wahne als Mittelpunkt, fühlt alles im Wahne um sich nur sofern, als es Strahlen auf diesen Punkt oder Wellen gießt – schöner Wahn. Die große Kreislinie aber aller dieser Wellen, Strahlen und scheinbaren Mittelpunkte: wo? wer? wozu?


Das Reich der geistigen Anlagen und ihrer Ausbildung ist die eigentliche Stadt Gottes auf der Erde, in welcher alle Menschen Bürger sind, nur nach sehr verschiedenen Klassen und Stufen. Glücklich ist, wer zur Ausbreitung dieses Reiches der wahren inneren Menschenschöpfung beitragen kann; er beneidet keinem Erfinder seine Wissenschaft und keinem König seine Krone.


Die Morgenröte des Lebens, Jugendeindrücke, frühe Freunde, Situationen von Jugendliebe, sie machen meistens den Anklang unserer Bestimmung. Sie weben das Grundgewebe, in welches spätere Schicksale und eine reifere Vernunft nur den Einschlag geben.


Niemand verzweifle an der Wirkung seines Daseins; je mehr Ordnung in demselben ist, je gleichförmiger in den Gesetzen der Natur er handelt, desto unfehlbarer ist seine Wirkung. Er wirkt wie Gott, in Gott; er kann nicht anders als ein Chaos um sich her ordnen, Finsternis vertreiben, damit Licht werde; seiner schönen Gestalt verähnlicht er alles, was mit ihm ist, selbst mehr oder minder, was streitend ihm entgegenfährt, sobald er durch Güte und Wahrheit überwindet.


Es liegt eine unnennbare Kraft im Dasein eines Menschen, ich meine, wie sein handelndes Beispiel wirkt. Das innigste, stillste Gute in mir ist auf diese Weise mein geworden; ohne Geräusch der Worte ging es in mich über.


Je enger der Kreis des Lebens und je bestimmter das Werk ist, in dem man Vollkommenheit sucht, desto eher wird diese erhalten.


Alles, was geschah, hatte seinen Grund, auch jede Verirrung des menschlichen Verstandes, jede falsche Anhänglichkeit des menschlichen Herzens. Naturbegebenheiten erklärt man, vor gefährlichen Naturbegebenheiten sucht man sich und andere zu sichern, tadelnder Spott bewirkt keins von beiden.
Ein bescheidenes Gemüt wünscht wenig; es beschneidet der fernerhin flatternden Phantasie die Flügel; die Wünsche aber, die es in seiner stillen Einsamkeit ausbrütet, sind um so gewisser erfreuliche Boten einer schönen Zukunft.


Grenzen- und gesetzlose Gewalt ist die furchtbarste Schwäche. Mäßigkeit des sinnlichen Genusses ist ohne Zweifel eine kräftigere Methode zur Philosophie der Humanität als tausend gelernte künstliche Abstraktionen.


Mißlingt das Werk der Vernunft und Tugend von außen, so hat nicht sie, sondern das Zeitalter davon den Schaden. Es wird gelingen, wenn seine Zeit kommt.


Ist die Menschheit überhaupt in einem jetzigen Zustande reiner Vollkommenheit fähig? Gipfel grenzt an Tal. Um edle Spartaner wohnen unmenschlich behandelte Heloten. Der römische Triumphator, mit Götterröte gefärbt, ist unsichtbar auch mit Blut getüncht; Raub, Frevel und Wollüste sind um seinen Wagen, vor ihm her Unterdrückung, Elend und Armut zieht ihm nach. Mangel und Tugend wohnen also auch in diesem Verstande in einer menschlichen Hütte immer beisammen.


Nicht nur was ausgerichtet ward, sondern auch wie es ausgerichtet wurde, die Erweckung des Geistes, es auszurichten, ist der Zweck lebendiger Institute.


Mit jedem Jahr des Lebens fällt uns ein beträchtlicher Teil des Flitterstaates nieder, mit dem uns von Kindheit auf, so wie in Handlungen, so auch in Wissenschaften, in Zeitvertreib und Künsten die Phantasie schmückte. Unglücklich ist, wer lauter falsche Federn und falsche Edelsteine an sich trug; glücklich und dreimal glücklich, wem nur die Wahrheit Schmuck ist und der Quell einer teilnehmenden Empfindung im Herzen quillt. Er fühlt sich erquickt, wenn andere, bloß Menschen von außen, rings um ihn winseln und darben; im allgemeinen Gut, im Fortgange der Menschheit findet er sich gestärkt, seine Brust breiter, sein Dasein größer und freier.


Wo Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Je tiefer, reiner, göttlicher unser Erkennen ist, desto reiner, göttlicher und allgemeiner ist auch unser Wirken, mithin desto freier unsere Freiheit. Leuchtet uns aus allem nur Licht Gottes an, umwallt uns allenthalben nur Flamme des Schöpfers, so werden wir in seinem Bilde Könige und Sklaven und bekommen, was jener Philosoph suchte, in uns einen Punkt, sie mit allem, was sie hat, zu bewegen. Wir stehen auf höherem Grunde und mit jedem Dinge auf seinem Grunde, wandeln im großen Sensorium der Schöpfung Gottes, der Flamme alles Denkens und Empfindens, der Liebe.


Wie unser Gang ein beständiges Fallen ist zur Rechten und zur Linken, so der Fortschritt der Völker zur Kultur.


Wenn Leibniz den menschlichen Witz und Scharfsinn nie wirksamer erklärt als in Spielen, wahrlich, so ist das menschliche Herz und die volle Einbildungskraft nie wirksamer als in den Naturgesängen wilder Völker. Sie öffnen das Herz, wenn man sie hört, und wieviele Dinge in unserer künstlichen Welt schließen und mauern es zu!


Jede vermehrte sittliche Aufklärung erleichtert den bürgerlichen Regierungen die Sorge für die öffentliche Glückseligkeit.


Das menschliche Geschlecht ist zu einem Fortgange von Szenen, von Bildung, von Sitten bestimmt. Wehe dem Menschen, dem die Szene mißfällt, in der er auftreten, handeln und sich verleben soll. Wehe aber auch dem Philosophen über Menschheit und Sitten, dem seine Szene die einzige ist und der die erste immer auch als die schlechteste verkennt. Wenn alle mit zum ganzen fortgehenden Schauspiele gehören, so zeigt sich in jeder eine neue, sehr merkwürdige Seite der Menschheit.


Heute und hierin hat dieses, gestern und darin hat jenes Volk, jene Sprache triumphiert. Wer sich an eine Zeit, gehöre sie Frankreich oder Griechenland zu, sklavisch schließt, das Zeitgemäße ihrer Formen für ewig hält und sich aus seiner lebendigen Natur in jene Scherbengestalt hineinwähnt, dem bleibt jene unerreichbare lebendige Idee fern und fremd das Ideal, das über alle Völker und Zeiten reicht.


Die Vorsehung selbst ist die beste Bekehrerin der Völker; sie ändert Zeiten, Denkarten, Sitten, wie sie Himmel und Erde, Kreise von Empfindungen und Umständen ändert. Man vergleiche Deutschland mit dem, was es zu Karls des Großen oder Hermanns Zeiten war. Würden diese es erkennen, wenn sie wieder erschienen? Die größte Veränderung in der Welt ist dieser Fort- und Umlauf im Reiche der Geister nach veränderten Empfindungen, Bedürfnissen und Situationen. Die Geschichte der Völker forscht ihm nach; wer weiß aber bei den verwickelten Gängen des Schicksals Zweck und Ziel?


Es gibt Zeiten des Schlafes, Zeiten des Aufwachens der Nationen; beide wechseln miteinander wie Tag und Nacht, beide sind aufhaltbar, doch am Ende kaum hintertreiblich.


Es ist kein Bösewicht auf der Erde, dem nicht, wenn sein schuldloser oder gar edler Gegner mit hingestreckten Armen daliegt und die Totenglocke über ihm ertönte, das, wodurch er ihm im Leben wehe tat, jetzt im Herzen steht und nage. Die Schlangen der Rache, des Neides, des Undankes entschlafen am Grabe des Toten und wenden sich gegen den lebenden Verbrecher.


Aus Leidenschaft wird die Tugend geboren, sagt Archytas; wiederum besteht sie auch mit ihnen, wie eine wohlklingende Modulation aus scharfen und tiefen Tönen, wie ein gesundes Temperament aus Hitze und Kälte, wie das Gleichgewicht aus dem Schweren und Leichten. Man muß also nicht Leidenschaften aus der Seele ausrotten wollen. Dies wäre auch nicht nützlich; harmonisch zuordnen muß man sie dem Verhältnis dessen, was sich gebührt, dem Mittelmaße.


Bei mancher Gedankenreihe, die auch unser ganzes Leben durchläuft, können wir uns kaum selbst vom ersten Moment oder der Wurzel ihres Daseins Rechenschaft geben. Viel zu unbeachtet ist die Wirkung der Mitlebenden auf zarte Gemüter. Wir finden Beispiele, daß Menschen lebenslang in der Weise und Art, ja Kraft einer fremden Person handelten, ohne daß sie es wußten, welche sonderbare Besitzung nur in Krankheiten, in unvorhergesehenen Zufällen, am meisten im Alter an den Tag kommt; denn das Alter ist eine zweite schwächere Kindheit.


Alles Gute teilt sich mit; es hat die Natur Gottes, die nicht anders als sich mitteilen konnte, es hat auch seine unfehlbare Wirkung.


Je reiner die Gedanken der Menschen sind, desto mehr stimmen sie zusammen.


Ich glaube und bin's gewiß, daß Tugend die Menschen aufs innigste gleich macht; denn wir leben weniger im Geist als im Charakter. Gleich brave Charakter schätzen und achten sich als Brüder; sie finden sich nicht nur auf einer Stufe, sondern in einem Mittelpunkt, der inneren Quelle des Lebens, dem Gemüt miteinander. Da verschwindet alle Rücksicht auf Unterschiede der Meinungen, des Ranges, Standes, der Nation und Kleidung. Tugend macht gleich und vereint zum friedlichsten Wetteifer.


Wahrheit und Gerechtigkeit, die Ordnerinnen der Welt, als sie sich ein inneres Heiligtum suchten, fanden sie es auf Erden nirgends als im Geiste, in der Brust des Menschen. Da wohnen sie noch, da tönt ihre Stimme wider. In tausend Farben bricht sich der Strahl und hängt an jedem Gegenstande anders; alle Farben aber gehören einem Licht der Wahrheit. In vielen melodischen Gängen wandelt der Ton auf und nieder und doch ist nur eine Harmonie auf einer Tonleiter der Weltbegebenheiten und des Verhältnisses der Dinge möglich. Was jetzt mißklingt, löst sich auf in einem anderen Zeitalter.


Hypothesen sind Träume, und bei jedem Traum, sei er himmlisch oder irdisch, sei er durch die schwarze oder weiße Pforte zu uns geschlüpft, bleibt's für den Menschensinn die bildendste Kenntnis, zu wissen, wie der ward, wie sein Finder oder Dichter dazu gekommen.


Auch bei dem Irrtum ist Eifer für die Wahrheit schätzbar; die Leidenschaft, die daher entsteht, daß man keiner Leidenschaft, keinem Truge unterworfen sein will, ist hochachtungswürdig. Nicht jeder gelangt zu dieser warmen Kälte, zu dieser leidenschaftlichen Leidenschaft für Wahrheit und für alles, was zu ihr führt.


Nicht alles ist Wahn und Traum im Gebiet der Menschheit; es gibt für uns insonderheit im Praktischen wie im Moralischen eine gewisse sichere Wahrheit. Ihre Stimme spricht auch mitten im politischen Geräusch; sie spricht für jeden, der sie hören will, in seinem innersten Herzen und straft jede Sirenenstimme gefälliger Meinung Lüge. Auch in den dunkelsten Zeiten schien ihr Licht in reinere Seelen, auch in der größten Verwirrung der Welthändel war sie dem Unbefangenen ein sicheres Richtmaß.


Der Mensch ist nie so vergnügt, als wenn er nach Wahn handeln kann, zumal nach einem von andern verdammten, von ihm selbst geformten Lieblingswahn. Da lebt er recht in seinem Elemente und ist seiner Kunst Meister.


Menschen, die sich einander nicht mitteilen dürfen, denen die Sprache selbst einen Zwang, ein Zeremoniell auflegt, daß die freie Wahrheit, sie, die nicht anders als unmittelbar von Seele zu Seele, vom Herz zum Herzen sprechen will und kann, immer Umwege nehmen und unter niedrigen Schlagbäumen durchkriechen muß, Menschen, denen berufs- und standesmäßig ein Schloß am Munde hängt oder gar die Zunge am Gaumen klebt, sie kennen keine andere als chinesische Etikettwahrheit.


Das Beste kann zuerst mißbraucht werden, eben weil an ihm etwas zu mißbrauchen ist; ja die Wahrheit, die nicht auf der Gasse liegt, muß sich eben vom Sprachgebrauch manchmal entfernen. Nur ist's noch keinem Astronomen eingefallen, seine Theorie vom Weltsystem deshalb zu ändern, weil der Sprachgebrauch anders redet. Kann er es erklären, warum der so reden mußte? So ist alles getan, und seine Gründe gelten.


Wenn das Bessere dasteht, schämt sich das Schlechtere, und so sehr es der falsche Geschmack festhalten will, es verschwindet. Verzweifle niemand an der Macht des Wahren und Schönen; so wie die Sonne hinter Wolken, schafft es sich Raum und leuchtet. Verzweifle niemand an der Macht der Natur im Winter, der Frühling kommt, und das alte, dürre Laub fällt.


Das einzige Mittel, wie man dem Wahn beikommen kann, ist, daß man ihm nicht beizukommen scheine. Man schütze sich vor ihm und lasse ihn seines Weges wandern, oder man zerstreue ihn und bringe ihn ohne gewaltsame Überredung unvermerkt auf andere Gedanken. Die Zeit allein kann ihn heilen. Man hat mehrere Beispiele, daß mitleidige Krankenwärter von der Krankheit selbst angesteckt wurden; nichts aber teilt sich leichter mit als Krankheiten der Seele. Wer gesund ist, suche gesund zu bleiben. Alle Ansteckungen werden nur dadurch eingeschränkt, daß man sie isoliert.


Das Vermögen zu fehlen, konnte oder wollte die Gottheit uns nicht nehmen; sie legte es aber in die Natur des menschlichen Fehlers, daß er früher oder später sich als solchen zeigen und dem rechnenden Geschöpfe offenbar werden mußte. Wir haben daher die Gottheit zu preisen, daß sie uns bei unserer fehlbaren, schwachen Natur Vernunft gab, einen ewigen Lichtstrahl aus ihrer Sonne, dessen Wesen es ist, die Nacht zu vertreiben und die Gestalten der Dinge, wie sie sind, zu zeigen.


Die Schönheit der Welt ist nur für den ruhigen Genuß geschaffen. Mittels seiner allein teilt sie sich dem Menschen mit und verkörpert sich in ihm.


Schönheit hat von Schauen, von Schein den Namen, und am leichtesten wird sie auch durchs Schauen, durch schönen Schein erkannt und geschätzt. Nichts ist schneller, klarer, überleuchtender als Sonnenstrahl, und unser Auge auf seinen Flügeln, eine Welt außer und nebeneinander wird ihm auf einen Blick offenbar. Und da diese Welt nicht wie Schall vorübergeht, sondern bleibt und gleichsam selbst zur Beschauung einladet, da der seine Sonnenstrahl so schön färbt und so deutlich zeigt: was Wunder, daß unsere Seelenlehre am liebsten von diesem Sinne Namen borgt? Ihr Erkennen ist Sehen, ihr bestes Angenehmes Schönheit.


Die Wohlgestalt des Menschen ist kein Abstraktum aus den Wolken, keine Komposition gelehrter Regeln oder willkürlicher Einverständnisse; sie kann von jedem erfaßt und gefühlt werden, der, was Form des Lebens, Ausdruck der Kraft im Gefäße der Menschheit ist, in sich oder in anderen fühlt. Nur die Bedeutung innerer Vollkommenheit ist Schönheit.


Stärke und Schwäche unserer Augen ist eine Gabe der Natur, aber zu welchen Aussichten, zu welcher Nähe, zu welchem Sehwinkel wir uns gewöhnen, von welcher Seite und sogar oft in welcher Farbe wir die Gegenstände erblicken wollen, dies kommt auf die frühe Bildung an.


Sage jemand, daß Erziehung, wenn sie rechter Art ist, nichts fruchte, der Mensch ist ja alles durch Erziehung oder vielmehr er wird's bis ans Ende seines Lebens. Nur kommt es darauf an, wie er erzogen werde. Bildung der Denkart, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre.


Wer der Vernunft dient, kommt der Notwendigkeit zuvor.


Jeder einzelne Mensch trägt, wie in der Gestalt seines Körpers, so auch in der Anlage seiner Seele das Ebenmaß, zu welchem er gebildet ist und sich selbst ausbilden soll, in sich. Es geht durch alle Arten und Formen menschlicher Existenz von der kränklichsten Unförmlichkeit, die sich kaum lebend erhalten konnte, bis zur schönsten Gestalt eines griechischen Gottmenschen. Durch Fehler und Verirrungen, durch Erziehung, Not und Übung sucht jeder Sterbliche dies Ebenmaß seiner Kräfte, weil darin allein der vollste Genuß seines Daseins liegt. Nur wenige Glückliche aber erreichen es auf die reinste, schönste Weise.


Der kommt am weitesten, der anfangs selbst nicht weiß, wie weit er kommen werde, dafür aber jeden Umstand, den ihm die Zeit gewährt, nach festen Maßregeln gebraucht.


Alles zieht dich, du kannst der allgewaltigen Kette nicht entweichen. Wohl dem, der willig folgt; er hat den süßen, täuschenden Lohn in sich, daß er sich selbst bildete, obwohl ihn unablässig Gott bildet.
Unter Gelehrsamkeit und Büchern wäre sie längst erlegen, die menschliche Seele, wenn nicht durch mancherlei zerstörende Revolutionen die Vorsehung unserem Geist wiederum Luft verschaffte.


Der Weltweise Europas kann keine einzige Seelenkraft nennen, die ihm eigen sei. Bei manchen Wilden ist Gedächtnis, Einbildungskraft, praktische Klugheit, schneller Entschluß, richtiges Urteil, lebhafter Ausdruck in einer Blüte, die bei der künstlichen Vernunft europäischer Gelehrten selten gedeiht. Eine sitzende Rechenmaschine, wäre sie das Urbild menschlicher Vollkommenheit? Der Wilde, wenn er sich in Wortziffern keine unsterbliche Seele erweitern kann und glaubt dieselbe, so geht er mit glücklicherem Mut als mancher zweifelnde Wortweise ins Land der Väter.
Wo bist du hin, Kindheit der alten Welt, geliebte, süße Knabeneinfalt, in Bildern, Werken und Gestalten? Du bist hinweg mit deinem Traum voll angenehmer Wahrheit; und keine Stimme, kein heißer Wunsch des Liebhabers kann dich erwecken aus deinem Staube. Aufs Rad der Zeiten geflochten, rollen wir unaufhörlich weiter – wohin? und kommen nie auf die vorige Stelle wieder.


Die Geschichte ist Naturlehre der Sukzession; in der Naturlehre moralisiert man aber nicht, wie das Tier nach unserem Kopfe sein sollte, sondern wie, woher und wozu es da ist. Und dann sieht man hintennach, daß kein absolutes Gift in der Natur existiere, das nicht im Ganzen auch Arznei und Balsam sein müsse.


Ein politischer Weissager steht auf dem unsichersten Grunde, er möge aus Weltklugheit oder Eingebung Prophet sein; je mehr er Eingebung auch nur im lindesten moralischen oder politischen Verstande hineinmischt, desto mehr hat er Klugheit nötig, und gerade auf der Stufe hört meistens alle Klugheit auf.


Im Schimmer der Morgenröte und bei jedem Schritte der steigenden Sonne gibt es Regungen und Schönheiten in der Natur, die bei der höchsten Mittagshöhe nicht sind; durch jene muß das Auge auf diese vorbereitet und fortgeführt werden. Warum ließ uns Gott diesen ganzen Gang einer lebendigen Geschichte? Etwa weil sie unnütz war? Und sollte sie unnütz sein, weil dieser und jener sie nicht benützen kann und dessen für wert findet ? Bezieht sich nicht alle Folge auf die Vorzeit, so wie die Vorzeit auf die Folge und alle Teile eines Gebäudes auf einander?


Nur durch den Geist, den wir in die Geschichte bringen und aus ihr ziehen, wird uns Menschen- und Völkergeschichte nützlich. Geistlos zusammengestellte Fakta stehen unfruchtbar da; auch die Entwicklung historischer Umstände kann keinen anderen Zweck haben als Evidenz, Wahrheit. Was uns in der Geschichte zunächst anspricht, sind Sitten und Charakter, sowohl der Völker als einzelner Menschen. Diese ins Licht zu stellen, sie durch Erweise und Vergleichungen sprechend zu machen, ist der edle Zweck einer psychologischen Geschichte. Welche Nation dies am besten tat, die bearbeitete das Feld der Begebenheit aufs nutzbarste, aufs angenehmste.


Aus Geschichte wird unsere Erfahrung, aus Erfahrung bildet sich der lebendigste Teil unserer praktischen Vernunft. Wer nicht zu hören versteht, versteht auch nicht zu bemerken, und aus dem Erzählen zeigt sich, ob jemand zu hören gewußt habe.


Sprache ist das Band der Seelen, das Werkzeug der Erziehung, das Medium unserer besten Vergnügungen, ja aller gesellschaftlichen Unterhaltung. Sie verknüpft Eltern mit Kindern, Stände mit Ständen, den Lehrer mit seinen Schülern, Freunde, Bürger, Genossen, Menschen. In allen diesen Fugen und Gelenken sie auszubilden, sie richtig anzuwenden, diese Aufgabe schließt viel in sich.
Hängen nicht unsere abstraktesten Gedanken an Worten? Sind diese schlecht erfunden, bezeichnen sie halb oder gar nicht, was man durch sie bezeichnen wollte oder versteht man sie unrecht und glaubt an Worten Sachen zu haben, da sie doch nur Zeichen der Sachen oder unserer Gedanken von ihnen sind, in welcher Öde irrt der Verstand umher! Bald ein Verführter, bald ein Verführer.


Ist die Sprache eines Menschen, einer menschlichen Gesellschaft schleppend, hart, verworren, kraftlos, unbestimmt, ungebildet, so ist es gewiß auch der Geist dieser Menschen; denn sie denken ja nur in und mit der Sprache.


Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde; seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck »Weise« nennen könnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und Fortgang derselben, habe es Bild und Bilder und Zusammensetzung und Niedlichkeit der Farben, so viel es wolle, es ist kein Lied mehr. Oder wird jene Modulation durch irgend etwas zerstört, bringt ein fremder Verbesserer hier eine Parenthese von malerischer Komposition, dort eine niedliche Farbe von Beiwort u. a. hinein, bei der wir den Augenblick aus dem Ton des Sängers, aus der Melodie des Gesanges hinaus sind und ein schönes, aber hartes und nahrungsloses Farbenkorn kauen, hinweg Gesang, hinweg Lied und Freude. Ist im Gegenteil in einem Liede Weise da, wohlangeklungene und wohlgehaltene lyrische Weise, wäre der Inhalt selbst auch nicht von Belang, das Lied bleibt und wird gesungen, über kurz oder lang wird statt des schlechteren ein besserer Inhalt genommen und darauf werden, nur die Seele des Liedes, poetische Tonart, Melodie ist geblieben. Hätte ein Lied von guter Weise einzelne merkliche Fehler, die Fehler verlieren sich, die schlechten Strophen werden nicht mitgesungen, aber der Geist des Liedes, der allein in die Seele wirkt und Gemüter zum Chor regt, dieser Geist ist unsterblich und wirkt weiter. Lied muß gehört werden, nicht gesehen, gehört mit dem Ohr der Seele, das nicht einzelne Silben allein zählt und mißt und wägt, sondern auf Fortklang horcht und in ihm fortschwimmt.


Musik auch in wortlosen Tönen hat ein Erhabenes, das keine andere Kunst hat, als ob sie eine Sprache der Genien sei, nur unmittelbar an unser Innerstes als einen Mitgeist der Schöpfung spräche.


Wie weit ist's mit der Kunst gekommen, wenn sie keine leibhafte Wahrheit mehr hat, wenn sie statt des großen, einen, seeledurchwebten Ganzen nach einem Schmetterling von Witz, von Bedeutung hascht, der um oder neben oder über ihm schwebe. Und den sie doch auch, so klein der Preis wäre, nicht einmal zu erreichen, nicht auszudrücken vermag.
Trauriges Schicksal der schönen Künste, wenn sie am Willen oder an der Lust eines einzigen haften. In seiner Jugend spielen sie um ihn her, aus dem Frühlinge begleiten sie ihn etwa bis in den Sommer des Lebens, im Herbst, im Winter, wo sind sie? Der Nachfolger führt eine andere Jugend herbei.


Es ist wunderbar, welchen Blick in allem die beiden Geschlechter gegeneinander haben, wie tief der Mann die Frau und die Frau den Mann kennt. Jedes kann seinem Geschlechte Unrecht tun und tut ihm oft, nicht eben aus Neid, Unrecht; aber sein Urteil über das andere ist, wo es nicht Leidenschaft verblendet, sondern Leidenschaft wappnet, furchtbar streng. Die Liebe holt das wahre Ideal, den Engel, Haß den Teufel aus uns hervor, der in uns liegt und den wir oft selbst nicht zu sehen oder zu finden vermögen. Die Ursache ist klar. Zum allgemeinen menschlichen Gefühl kam noch ein Geschlechtsgefühl hinzu, das wir ja auch bei den erhabensten Urteilen über das, was Mensch ist, nicht ganz verleugnen. Der Mann muß immer, er mag dichten oder regieren, Menschen oder Statuen schaffen, als Mann, die Frau immer als Frau fühlen.


Einzeln ist der Mensch ein schwaches Wesen, aber stark in Verbindung mit anderen. Einsam müht er sich oft umsonst. Ein Blick des Freundes in sein Herz, ein Wort seines Trostes weitet und hebt ihm den niedrigen Himmel, rückt ihm die Decke des Trauerns weg.


Die Natur hat schmale Grenzen um jeden einzelnen gezogen; und es ist der gefährlichste Traum, sich unumschränkt zu denken, wenn man eingeschränkt ist, sich Despot des Weltalls zu glauben, wenn man von nichts als einzelnen Almosen lebt. Die ganze Schöpfung mit Liebe zu umfassen, klingt schön, aber vom einzelnen, dem Nächsten, fängt man an, und wer dies nicht tief, innig, ganz liebt, wie sollte er, was entfernt ist, was aus einem fremden Gestirn nur schwache Strahlen auf ihn herabwirft, lieben können, so, daß es auch nur den Namen der Liebe verdient. Die allgemeinsten Kosmopoliten sind meistens die dürftigsten Bettler, sie, die das ganze Weltall mit Liebe umfassen, lieben meistens nichts als ihr eigenes Selbst.


Treue und Glaube ist der Eckstein aller menschlichen Gesellschaft. Auf Treue und Glauben sind Freundschaft, Ehe, Handel und Wandel, Regierung und alle andere Verhältnisse zwischen Menschen und Menschen gegründet. Man untergrabe diesen Grund, alles wankt und stürzt, alles fällt auseinander. Es gibt keine einseitigen Pflichten und einseitige Rechte. Pflichten und Rechte gehören zusammen, wie die obere und untere, wie die rechte und die linke Seite. Was hier konvex ist, ist dort konkav und bleibt dieselbe Sache, derselbe Körper. Lasset Staaten, lasset Stände gegeneinander Treue und Glaube verlieren, wer seinen Pflichten entsagt, verliert seine Rechte, die der Pflicht anklebten; er täuscht und wird getäuscht, er handelt einseitig, so wird man auch gegen ihn handeln.


Was Geist ist, läßt sich nicht beschreiben, nicht zeichnen, nicht malen, aber empfinden läßt es sich; es äußert sich durch Worte, Bewegungen, durch Anstreben, Kraft und Wirkung. In der sinnlichen Welt unterscheiden wir Geist vom Körper und eignen jenem alles das zu, was Leben in sich hält und Leben erweckt, Kräfte an sich zieht und Kräfte fortpflanzt. In den ältesten Sprachen ist Geist der Ausdruck unsichtbarer, strebender Gewalt, dagegen Leib, Fleisch, Körper, Leichnam entweder die Bezeichnung toter Trägheit oder einer organischen Wohnung eines Werkzeugs, das der inwohnende Geist als ein mächtiger Künstler gebraucht.


Eine große Lebhaftigkeit, die immer neue Gedanken hervorbringt, ist selten mit der Stetigkeit verknüpft, die einen einzigen Gedanken bis in seine Tiefe verfolgt. Eine fruchtbare Seele gebärt Ideen, diese aber zu erziehen und auszubilden, wird andern überlassen. Eine starke sinnliche Aufmerksamkeit paart sich selten mit der Abstraktion, die sich wie Demikritus die Augen blenden muß, um nicht von außen gehört zu werden, sondern ein einziges zu zergliedern. Der philosophische Scharfsinn scheint oft gegen den ästhetischen Witz ein entgegengesetzter Pol zu sein.


Über Grundsätze können sich nur Geister einander erklären. Die Zusammenkunft ist sehr entbehrlich, wenn sie nicht zugleich auch meistens sehr zerstreuend und verführerisch wäre. Im Umgange mit Geistern auf Fausts Mantel bleibt meine Seele frei; sie kann jedes Wort, jedes Bild prüfen.


Wir hoffen auf Zeichen und Zahlen, wir knüpfen Wünsche an ein Phantom, ein kommendes Jahrhundert. Kinder des vorigen, nehmen wir es nicht in uns mit? in unserem Gemüt, in unserer Gewohnheit? In uns ist Zepter und Maß, am vorigen lasset uns lernen. Das neue Jahrhundert schaffen wir; denn Menschen bildet die Zeit, und Menschen schaffen Zeiten.


Was geboren ward, muß sterben, sagt der Brahmane, und was etwa durch Kunstmittel seinen Hingang aufhält, hat sich, indem es hierzu greift, schon selbst überlebt. Im Anfang des Frühlings sieht man das erstorbene Land und Gras des vorigen Jahres noch häufig; manches davon hält sich fest an, in kurzem aber ist alles verschwunden, und ein neues Gewand deckt Bäume sowohl als den Schoß der Erde.


Über Witz und Frohsinn sollte niemand urteilen, als wer selbst Witz und Frohsinn hat. In einem fremden Lande, über eine unbekannte Sache, in einer unbekannten Sprache, wie will er richten?


Die Sokratische Ironie, das attische Salz, Horazischer Scherz, Cervantes' ehrbare Lustigkeit, von der er am Ende des Lebens als seiner besten Freundin schied, diese Genien, Sylphen und Sylphiden sind nicht gemeine Gäste. Wen sie besuchen, wem sie gefällig folgen, er wird sie nicht verschwärzen, sondern mit ihnen andere erfreuen und seinen Umgang durch sie beleben. Denn wie sollen wir miteinander umgehen? Unverständig, geistlos, schwerfällig, sklavisch oder verständig, frohsinnig, geistig, artig?


Der Enthusiasmus, andere in Enthusiasmus zu setzen, so blendend er hervorsticht, so große Behutsamkeit hat er nötig. Zu bald verlockt er und gewöhnt an eine usurpierte Herrschaft über die Gemüter und Passionen anderer, schwächerer Menschen. Diese reißt der Taumel mit sich; in einer großen Versammlung wird die Begeisterung ansteckend; sie fliegt von Gesicht zu Gesicht, sie haftet an Stimmen, an Worten und Gebärden. Frage der Verständige sich selbst, was durch Erhitzungen und Abkühlungen solcher Art dauernd in ihm bewirkt werde.


Wenn das bloße Gefühl von der Schönheit den Virtuosen, das bloße Gefühl für Menschheit und Tugend den Verdienstvollen bis zur Begeisterung erheben kann, so wird, wo sich diese drei Göttinnen vereinigen, die Begeisterung eine Art von Enthusiasmus für die Wahrheit werden können.


Begeisterung, Enthusiasmus für alles Große, Wahre, Schöne und Edle ist ein so treffliches Vermögen, eine so unentbehrliche Disposition der menschlichen Seelenkräfte, daß sie sich nicht etwa durch ihre Wirkungen, sondern ihrer Natur nach selbst rechtfertigt oder verteidigt. Unwillkürlich zieht die Begeisterung an und teilt sich mit und reißt mit unwiderstehlichen Reizen; Mitbegeisterung, Verwunderung, Liebe, Nacheiferung folgen ihr. Den kalten Spott stößt sie hinweg, die schärfsten Pfeile des Witzes fallen vor ihr nieder.


Alles Übertreibende und Übertriebene geht vorüber. Jede Bewegung sucht den Schwerpunkt, auf welchem sie ruhen möge.


Die größten Wahrheiten wie die ärgsten Lügen, die erhabensten Kenntnisse und die scheußlichsten Irrtümer eines Volkes wachsen meistens aus Samenkörnern, die nicht dafür erkannt werden. Sie werden von Einflüssen belebt, die oft gerade fürs Gegenteil dessen, was sie sind, gelten. Der Arzt also, der Übel heilen will, suche sie im Grunde; aber eben, wenn er da sucht, wird das Kind oder das kranke Jahrhundert ihm schlecht danken. Läßt er sich zu seinem lieben Siechtum herab und sucht es mit Gesundheit zu überweben, wer ist größer und willkommener als er: die Säule aller Wissenschaft und alles Ruhmes! Nun aber greift er nach unserem Herzen, nach unseren Lieblingsempfindungen und Schwächen, mit denen uns so wohl war; hinweg mit ihm, dem Verräter der Menschheit, dem Mörder unserer besten Kenntnisse und Freuden! Wir wollten einen Bund mit ihm machen, droben am Baum zu bleiben und wollten ihm darum dienen, nun gräbt er zur Wurzel und schlitzt die glatte Rinde auf, der Undankbare!