Gott ist seine eigene Erfindung

Die Menschheit ist nur eine Korrektur des Menschen.


‚Gott‘ ist das einfache Ergebnis eines Subtraktionsexempels: ziehe alles von dir ab, was abzuziehen ist, und der Rest ist — Mysterium.


Gott ist seine eigene Erfindung. Das sich selbst Unerklärliche sagt aus Menschenmund Gott zu sich.


In Christus ist zum ersten Mal auf der Erde Gott selbst sich zum Bewußtsein gekommen. In Christus erkannte Gott als Mensch zum ersten Mal sich selbst. Seitdem sind fast zweitausend Jahre vergangen. Aber freilich: ‚Tausend Jahre sind vor Ihm wie ein Tag.‘


Man empört sich gegen die Gottheit Christi — als liege man selbst in Hose und Rock nicht als ein Stück — Gottheit herum.


Ich sehe das Unvermeidliche herannahen: daß den Menschen eines Tages in größerer und größerer Anzahl zum Bewußtsein kommt — nicht nur nominell wie bisher, sondern faktisch — daß sie in der Unendlichkeit leben.


Heute sehen die Menschen noch nicht den Raum, sie sehen den Himmel, aber noch nicht den RAUM.


Auf Erden ist nichts, sondern alles im Himmel zugleich und in der Ewigkeit. (Geträumte Zeile.)


Auch wo Gott ‚sich‘ fühlt, wie im Mystiker, bleibt er noch Mensch.


Man soll nur in alle Ewigkeit leugnen, daß die Welt unerklärlich sei. Die Folgen dieser bornierten Leugnung, dieser stiermäßigen Annahme des Gottmenschenkopfes von seiner Anlage zur Selbsterkenntnis sind allzu wertvoll, verinteressieren — als Wissenschaft — das Leben in allzu hohem Grade.


Unbewußte Stupidität, bewußte Verlogenheit — als Voraussetzung aller Wissenschaft, ja aller geistigen Kultur überhaupt: das ist eine groteske Wahrheit Gottes, des Menschen.


Auch hier meine Ausführungen, was ich auch versuche, bleiben — Anthropomorphismus. Diese Feststellung sollte eigentlich der Tod Gottes sein. Der Tod Gottes — als einer auszuscheidenden Vorstellung. Aber diese Vorstellung war meine letzte, in der ich alle andern begrub. Kein Wort der Erde, das sich mir im Wort ‚Gott‘ nicht löste. Andre nennen ihre Grenzvorstellung Leben, Natur, Wirklichkeit. Aber ist das minder anthropomorph? Nein. Jedes Wort ist Vorstellung, jedes Wort ist demnach gleich viel wert. ‚Leben‘ ist das Wort einer andern Phantasie als ‚Gott‘, das ist alles.


Es gibt also zuletzt nur eine Grenzvorstellung, nur ein ‚Ur—wort‘. Dieses Urwort muß uns gelassen bleiben, wollen wir Menschen bleiben.


Gott wäre etwas gar Erbärmliches, wenn er sich in einem Menschenkopfe begreifen könnte.


Von mir: die Menschen sind ihm allein Köpfe Gottes.


Ja, gewiß, es ist vieles am Menschen lächerlich und verächtlich. Aber der Mensch ist ja auch nur ein winziger Teil Gottes. Und was wäre Gott, wenn er nicht irgendwo auch lächerlich und verächtlich wäre. Gott schenkt sich nichts. Das wollen nur die Kurzsichtigen, die meinen, man könne das Eine ohne das Andere haben, ja noch mehr: man dürfe es.


Die planetarischen Kulturen geistiger Wesen sind die großen Grotesken Gottes. Gottes materielle Erscheinungsform ist notwendig grotesk.


Man könnte eine Bibliothek schreiben von den Selbsttröstungen Gottes.


Nicht, daß gekämpft wird, ist das Tragische der Welt. Sie selbst ist das Tragische.


Wer sich einmal in die Idee des Teufels, an dem Gott immer wieder zu schanden wird, von dem er immer wieder zum Leben verführt wird, vertieft, dem wird die Größe und Schönheit des Lebens fürder nicht Einwand sein können: Denn je unfaßlicher dieser Gott ist, desto unfaßlicher wird auch die Kunst seines Teufels sein müssen, desto heiliger wird sie erscheinen müssen, desto bejahungswürdiger die Welt für menschliche Urteilskraft.


‚Die Welt‘ ist Gottes Weg zu seiner Schönheit. Überall und immer duftet diese Wunderpflanze ‚Welt‘. Um dieses Duftes willen ist sie da; er ist ihre Schönheit, ihre ‚Seele‘, ‚Gottes‘ — Seele.


Wir sind nie wirklich aus dem Paradiese vertrieben worden. Wir leben und weben mitten im Paradiese wie je, wir sind selbst Paradies, — nur seiner unbewußt, und damit mitten im — Inferno.


‚Alles was ist, ist vernünftig‘ — ganz gewiß. Freilich nicht vom Standpunkt des Reichstagsabgeordneten X oder des Privatdozenten Y aus; aber sub specie Dei.


Im Geist erst wird die Natur, wird Gott tragisch. Was ist der Mensch? Die Tragödie Gottes.


Wenn einer die Welt bejaht, bejaht sie Gott, wenn sie einer verneint, verneint sie Gott (und damit Sich). Gott sagt weder bloß ja noch bloß nein zu sich, sondern urewig ja und nein.


Wo einer keine Augen für sich — als Mysterium — hat, da hat auch Gott keine Augen für sich, als Mysterium. Aber als der, als der er Augen für sich hat, leidet er unter diesem andern, als der er keine Augen für sich hat, und zürnt sich, dem andern, aus sich, dem einen.


Die Welt könnte so groß angelegt sein, daß die unaufgelöste Dissonanz eines ganzen Planeten als solche mit hineingehörte. Ein schauerlicher, wahnwitziger Gedanke. Denn wer will seine Dissonanz — schon allein seine ganz persönliche Dissonanz — nicht aufgelöst und sei es auch erst — nach Äonen.


Gott ist die Welt im Einzelnen wie als Gesamtheit. Als Gesamtheit aber ist er vielleicht eine Zweiheit von Mann und Weib. Einheit als Gott, Zweiheit als Welt. Sagst du aber: Die Welt? das wäre wohl nicht genug, wenn nur das Gott wäre! so frage ich: weißt du, wo die Welt aufhört, daß du von genug und nicht genug redest? Wie kann etwas Un-Endliches noch-genug sein oder ‚nicht-genug‘?

Das ist gewiß: was auch von Gott, von Gottheit gedacht werden mag, kann auch noch nicht an den Saum des Mantels seines Ernstes rühren.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern