Die Welt ist nicht bloß Pflanze, oder Tier, sondern — Mensch!

Weil wir niemals und nirgends etwas Totem gegenüberstehen, sondern immerdar dem Ausdruck irgendeines Willens — so ist alles Empfinden die unmittelbare Aufnahme jenes fremden Willens in unsern, auf die jedoch sofort auch seine Wiederausstoßung folgt, seine Distanzierung, Zurückweisung, Objektivierung. — Das Bild der Welt bietet so im Großen und Fortwährenden das Bild der — Liebe, als welche ein ewiger Wechsel zur Einheit zusammenfließender Zweiheit und in Zweiheit sich sichselbstgegenüberstellender Einheit ist.


Jeder konsequente Monismus führt unabänderlich zum — Dualismus. Denn eine absolute Einheit verträgt der menschliche Geist niemals. Und wo er ihr nicht entweichen zu können glaubt, wie in Schopenhauer, verneint er.
Aus diesem Grunde könnte auch die Gottheit ihrer schauerlichen Einheit in Legionen Vielheiten entflüchtet sein, von zwei Leiden das kleinere wählend.


Die Welt als Trieb und Vorstellung — diese Fassung hätte vielleicht manches Mißverstehen Schopenhauers unmöglich gemacht.


Die Welt ist nicht bloß Pflanze, oder Tier, sondern — Mensch!


Immer wieder Gott zu werden: Ziel aller kosmischen Entwickelungen.


Beobachte doch, wie alles Menschliche sich fortwährend selbstkorrigiert. Wie sich ein ganz bestimmter — und nicht nur beliebiger oder ‚notwendiger‘ — Sinn des Lebens entwickelt, vielfach verschleiert, aber immer wieder hervorbrechend, sich immer reiner klärend und persönlicher enthüllend.


Wenn wir tausend Jahre wie einen Tag übersehen könnten, so würden wir die Entwickelung der Menschheit mit unheimlicher Schnelligkeit sich vollziehen sehen. So aber ‚sieht‘ vielleicht der Planet. Wir sehen nur die Individuen wachsen, er — die Typen.


Sollte in immer höherer Erkenntnis und Liebe (in immer höheren Formen) nicht die Möglichkeit immer höheren Glückes liegen? Welche Genugtuungen, wieviel demütiger Dank, wieviel namenloser Jubel steht uns vielleicht noch bevor! Denn immer wieder, wenn alles, was ist, sich unaufhörlich höher ver- und emporgottet — wo braucht es eine Grenze zu finden, wo hat Gott — ein Ende? Solch ein Aspekt aber ist erst einer Gottheit würdig: — der ins Ewige und Unendliche.


Das Sein, das ist das Unvergängliche in uns, das Werden, das, als was wir dahingehen. Wie können Sein und Werden Gegensätze sein, wenn sie doch an uns in jeder Sekunde Eins sind, wenn das Ewig Seiende im Ewig Werdenden unaufhörlich ‚ist‘!


Warum sollte dies mein Leben ein Anfang oder Ende sein, da doch nichts ein Anfang oder Ende ist. Warum nicht einfach eine Fortsetzung, der unzähliges Wesensgleiche vorangegangen ist und unzähliges Wesensgleiche folgen wird.


Die Vorstellungen von Lohn und Strafe — müssen sie deshalb jeder tieferen Wahrheit entbehren, weil wir sie heute schroff ablehnen? Was hat sich eigentlich geändert? Daß wir uns heute unser Schicksal mehr oder minder selbst zu bereiten glauben, während wir früher glaubten, daß es uns bereitet würde. Ist nicht nur die Optik eine andere geworden, nur die Optik?


Man soll sich seiner Krankheiten schämen und freuen; denn sie sind nichts andres als ausgetragene Verschuldung.


Zukunft! — un-er-schöpfliches Wort! O Lust zu leben! O Lust, zu — — sterben!


Wohin können wir denn sterben, wenn nicht in immer höheres, größeres — Leben hinein!


Immer wieder: Nicht so sehr, was wir denken, ist das Höchste. Das Höchste ist das Denken selbst. Es allein verbürgt uns mit eherner Sicherheit den mit uns geborenen Gott.


— — — An der Pforte steht das Grauen.


Man versteht den Menschen erst — sub specie reincarnationis.


Die Hochzeit zu Kana. Christus verwandelt Wasser in Wein: Was bisher als Wasser (Mensch) gegolten, wird durch sein Offenbarungswort Wein (Gott!).


A. Was, was ist's, was den Menschen vom Christus trennt; sagen Sie mir das, können Sie mir das sagen?
B. Ja, das kann ich. Der Philister in ihm.


Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang des Christentums.


Der Gedanke Gottes muß freilich der Tod des Individuums sein. Darum hält er sich auch im Allertiefsten besser als im Vordergrund auf.


Die Menschheit ist ein großes Kind, dem feindliche Mächte unaufhörlich neues Spielzeug schaffen helfen, damit es sich nicht wesentlich entbabysiert. Was muß sie dagegen tun? Das Spielzeug, soweit es irgend geht, — spiritualisieren, das heißt sich von ihm nicht materialisieren lassen.


Wenn du die Lage einer Hütte auf einem Berge betrachtest, so machst du leicht deinen Standpunkt zu dem ihrigen, uneingedenk dessen, daß sich die Welt von da droben ganz anders ausnimmt als von dir aus. Ja, dies verhält sich bis zu einem gewissen Grade selbst dann noch so, wenn du dich mit aller Einbildungskraft auf ihren Standpunkt zu versetzen bemühst. Um einen Standpunkt ganz verstehen und würdigen zu können, muß man diesen Standpunkt selbst einnehmen oder wenigstens einmal eingenommen haben.

Aus diesem Grunde läßt sich alles Göttliche nicht eigentlich beurteilen, es sei denn von Menschen, die in persona im Über-Menschlichen zu verkehren vermögen.




Wer das feine zweite Ohr für den Souffleur hat, sieht die Geschichte der Menschheit anders an.


Werden wir hier auf Erden nicht schon von sichtbaren Lehrern erzogen und immer weiter befruchtet? Ist irgend ein großer Mensch, dem wir etwas verdanken, nicht unser Meister? Ist so das Leben nicht ein fortschreitendes Lehren und Lernen?

Und sollte das nach dem Tode der leiblichen Persönlichkeit — aufhören?


Wenn die Menschen sich weiter entwickeln, müssen auch ihre Götter sich mit und weiter entwickeln, all die geistigen Wesenheiten, die an ihnen gearbeitet haben und arbeiten. Der Lehrer, der das Kind bis zu dessen zwanzigstem Jahre geleitet hat, wird dann ebenfalls um zwanzig Jahre gealtert, gereift, weiter entwickelt sein. Wer überhaupt göttliche Demiurgen annimmt, der soll sie nicht als starre Götzen verehren.



Es ist ein ungeheures Schauspiel, mit welcher grenzenlosen Freiheit in einem Kosmos, wie dem unsern, alles seine Wege gehen darf. Jede Meinung, jede Handlung ist erlaubt. Jedes Wort, und sei es noch so wunderlich oder verkehrt, kann gesagt werden, jede Urteilsnuance bis zur höchsten Erkenntnis der Wahrheit hinauf, bis zur tiefsten Schmach der Verblendung hinab darf da sein und ist da und unterliegt keinem andern Gesetze, als dem der allmählichen Selbstkorrektur im Sinne einer von Liebe geläuterten Vernunft.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern