Das Wunder ist das einzig Reale

Vielleicht bin ich nur ein Bildschnitzer und nun schnitz ich Gottes Bildnis an allem.


Eine szenische Vorstellung ist für den Kontemplativen etwas wie eine Parade. Oder wie ein Schachspiel, gespielt mit lebendigen Puppen. Oder wie ein Glockenspiel mit kunstvollen Figuren.


Es gibt nichts, das ich Mir nicht vergeben könnte, und nichts, das ich nicht überwinden möchte.


Die Liebe zwischen Mann und Weib wird erst dadurch, daß sie Liebe Gottes zu sich selbst ist, zu einem Problem von schauerlicher Tiefe. Was allein kann das letzte Ziel dieser Liebe sein? Das Kind? Keineswegs. Das Kind ist ja nur wieder Gott als Individuum. Wenn der Mann mit dem Weibe plötzlich zusammenschmelzen könnte in einen dritten Körper, dann würde die Erde vielleicht im selben Augenblicke vor jähem Erschrecken untergehen.


Nietzsche sagt einmal, daß mit der Wissenschaft der Optimismus Herr geworden sei. Und fürwahr, mit dieser Zählmaschine in der Hand wird der Mensch ein beschäftigtes und beruhigtes Schulkind. Die Furchtbarkeit des Daseins verliert ihre Gewalt für ihn, er klassifiziert, klärt auf, korrigiert hier und dort. Eine Welt, für die es nur die Eine Bezeichnung ‚furchtbar‘ gibt, wird ihm zuletzt ein behagliches Wohnhaus, in das bloß der Tod seine ungemütlichen Schatten wirft. — Sei bedankt, Tod, millionenmal bedankt, daß du das unwegschaffbare Ingredienz unseres Lebens bist. Ohne dich müßte das ganze Sinnen jedes Denkenden unaufhörlich darauf gerichtet sein, dich zu erfinden. Ohne dich würde Gott am eigenen Leibe verfaulen.



Gott ist die Überwältigung unseres Innern durch die Unendlichkeit. Die Kapitulation des menschlichen Begriffsvermögens vor der Welt.


Philosophie und Religion ist für den Menschen vielleicht nur der Gefrierpunkt gegen den Wahnsinn. Vor der Kälte des Universums zieht sich das Wasser als Haut zusammen, so vor der Kälte des Unbegreiflichen der Geist zur Weisheit, das Herz zum Glauben. Gott, wo er nicht im Verfall, rettet sich vor dem Verfall, indem er denkt.


Wer das Wunder nicht als das Primäre erkennt, leugnet damit die Welt, wie sie ist, und supponiert ihr ein Fabrikspielzeug.


Das Wunder ist das einzig Reale, es gibt nichts außer ihm. Wenn aber alles Wunder ist, das heißt durch und durch unbegreiflich, so weiß ich nicht, warum man dieser großen einen Unbegreiflichkeit, die alles ist, nicht den Namen Gott sollte geben dürfen.


Gott ist gewiß nicht Persönlichkeit. Aber er wird sie in jedem Moment. Gott ist: Persönlichkeiten.


Der Körper, der Übersetzer der Seele (Gottes) ins Sichtbare.


Das Leben hat keinen Sinn als den Sinn — Gottes.


Im Anfang war — Mein Ziel.


Es gibt nicht zweierlei Geist, sondern nur einerlei, und er ist Gottes Geist, ebenso, wie es auch nur einerlei Leib gibt, nämlich: Gottes Leib.


Ich will den Menschen nicht schiffbrüchig sehen, aber er sollte dessen bewußt sein, daß er auf einem Meere fährt.


Der Mensch, der ganz erkannt haben würde, wäre der wieder geschlossene Ring Gottes.


Der Mensch ist ein an einer Stelle geöffneter Ring. Gott ist der Ring als Eines, Ununterbrochenes. Der Mensch stellt sich dar als dieser Ring, unterbrochen, mit seinen zwei Enden sich wieder zu vereinigen, zu schließen strebend. Der Mensch ist aus sich auslaufender und in sich zurücklaufender — aber noch nicht zurückgelaufener — Gott. Der Mensch ist die Offenheit des Rings, der noch nicht wieder zusammengeschmolzene Hingott und Widergott.


Der Irrtum ist das formbildende Prinzip. Wahrheit kann nur als Irrtum zur Erscheinung kommen. Alles Daseiende selbst ist Irrtum, aber Gott entwickelt sich, wird (ist) nur dadurch, daß er sich beständig ‚verrennt‘, verstrickt, verwickelt, zu Knoten schürzt, daß er sich selbst beständig Stationen schafft. Er würde wie ein Meer ins Unendliche verfließen — wenn er sich nicht fortwährend selbst im Netz gleichsam der Einzelerscheinung finge, diese Netzerscheinung wie als ein bereits Endgültiges zu höchster relativer Vollkommenheit emportriebe: um, wenn das ursprüngliche Netz sozusagen völlig in sie hineingenommen, nun den Persönlichkeitskern als Eigengewinn davon zurückzubehalten, das andere wieder zerfallen zu lassen.


Warum ist Mitleid nichts? Weil Mitleid dich ablenkt von dir auf den andern. Dich aber sollst du zu vollenden trachten, nicht den andern. Wer sich nach innen wendet in seiner Tiefe, von dem fällt Mitleid ab wie ein Müßiggang. Er kann niemanden mehr bedauern um seines Leides willen, er könnte ihn höchstens um dessentwillen bedauern, daß ihn sein Leid nicht in sich hineintreibt, daß es ihn nicht vertieft. Wer sich und den Nächsten als Gott erkannt hat, von dem fällt Mitleid ab wie ein Geschwätz. Er wird den Nächsten zwar mehr als sich lieben und ihm sein Menschliches zum Opfer bringen können, wenn es das gilt, aber ohne Mitleid; denn mit großem Auge wird er durch sein Leiden hindurch ihn als Sich sehen; in dem aber, was er da sieht, fallen, wie Ekkehart sagt, alle Worte dahin. Da hat Mit-Leiden keinen Sinn und keinen Platz mehr.


Es ist ein schauerlich tiefer Gedanke: Der grobe schwerfällige Körper, als Geist zugleich mit dem Geist aller Epochen unablässig verkehrend.


Denke dir einen Teppich aus Wasser. Und als die Stickerei dieses Teppichs die Geschichte des Menschen.


Zünde einen Magnesiumfaden an — und du hast das Leben des Menschen im blitzschnellen Bild. Leben und sterben sind nur zwei Ausdrücke für dasselbe. Und unser Ichgefühl das Gefühl des hineilenden feurigen Punktes.


Es gibt nur ein Neues: Die Nüance.


Die Welt, eine in sich zurücklaufende Spirale.


Wir müssen sehen, aus den Formen, als die wir erschienen sind, bis zu unserm Ende zu Kugeln zu werden: die Spirale der Ewigkeit hinabzurollen, nicht aber wie ungefügte Klötze hinabzurutschen und hinabzupoltern, muß unser erster Wunsch und letzter Wille sein.


Betrachte die Welt: Alles wesentlich, alles unwesentlich. Unwesentlich die Mücke, wesentlich der Mensch; unwesentlich der Mensch, wesentlich die Menschheit; unwesentlich die Menschheit, wesentlich das Universum; unwesentlich das Universum, wesentlich —



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern