Alles ist Ausdruck eines Wesens

Wenn Gott nicht die ewige Sehnsucht zweier Seelen zu einander ist — wenn die Welt nicht der ewige Weg dieser zwei Seelen ist — so weiß ich nicht, was Gott und Welt bedeuten.


Der Mensch ist nur ein Moment innerhalb des MENSCHEN, und der MENSCH nur ein Moment innerhalb Naturae sive Dei.


Es versteht sich mir fast von selbst, daß das, was ich bin, sich irgend einmal seines ganzen Lebens — in allen seinen Erscheinungsformen — erinnern wird.


Und es wird nichts sein — kein Richten, kein Wundern, nur ein Schauen. Aber in diesem Schauen wird Gericht oder Freispruch beschlossen sein.


Ich und du, einmal groß und einmal klein geschrieben — das ist die Weltformel. Ich und Du, und ich und du.


Mußte der wahrhaft innerliche Mensch früher mit der Kirche ringen, so muß er es heute mit der Wissenschaft. Der sich selbst schauende Gott ist immer nur als — Ketzer möglich.


Vielleicht ist nichts von allem Gedachten ganz unwahr. Sollte Gott über Sich gänzlich falsch denken können? Sollte nicht die barbarischste religiöse Vorstellung ein Körnchen Wahrheit enthalten, enthalten müssen?


Wohin sollte die Natur in der Stufenfolge der Tiere im Menschen streben, wenn nicht dahin, daß Gott in ihm sich selbst erkenne? Dies aber, das Erkennen kann noch nicht sein letztes Ziel sein: er muß aus dieser Selbsterkenntnis noch zu irgend einem Handeln hervorschreiten, muß ja sagen und tun wie der Zarathustra Nietzsche's, oder nein wie der indische Buddha. Er muß das Schicksal der ‚Welt‘ an seinem Teile entscheiden; sie soll sein oder sie soll nicht sein. Und doch —.


Frage dich nur bei allem: ‚Hätte Christus das getan?‘ Das ist genug.


Jeder kann von Christus etwas fortnehmen. Verstehen aber wird ihn alle fünfzig Jahre — vielleicht — Einer.


Wenn, was sich so Theologen nennt, wirklich wissen könnten, wer Christus war, würden sie ihn allesamt als einen Irrsinnigen und Verbrecher verdammen. Ja, so weit weg steht der Mensch, der gesagt hat ‚Ich und der Vater sind eins‘ (und nur der johanneische Christus ist für mich Christus, so ausschließlich, daß, wenn es ihn nie gegeben haben sollte, er längst hätte ‚erfunden werden‘ müssen) von der übrigen ‚christlichen‘ Menschheit und insonderheit ihren Theologen, daß er wie der leibhaftige Teufel auf sie wirken würde, hätten sie ja den Mut und die Kraft, ihm sein Weltgefühl bis zum Letzten nachzufühlen.



Weltbild


Sieh einmal morgens nackenden Leibes beim Waschen an dir herunter, den Riesen-Zellenbau, das Zellenuniversum ohne Gleichen!


Welches naive Auge würde je darauf kommen, dich als eine einheitliche Ordnung von Legionen selbständiger Wesen zu verstehen und welches Auge würde folgen wollen, wenn der Verstand es wagte, die Wirklichkeit überhaupt als einen einzigen Zellenleib zu beschreiben, dessen Formen wir uns nur nicht vorstellen können?


Wie kann man sagen: Dies und das kommt hierher und daher; da doch alles überallher kommt.


Das Prinzip der Nachahmung (oder, vom Objekt aus: der Ansteckung) wirkt fortwährend in der ganzen Natur.


Ich habe zuweilen einen abgründigen Haß auf die Zahl. Sie ist die absurdeste Fälschung der ‚Wirklichkeit‘, die dem Menschen wohl je gelungen ist, und doch baut sich auf ihr ‚unsere ganze heutige Welt‘ auf.


Der große Irrtum ist der: man glaubt irgend einmal einen Mechanismus schaffen zu können, der schließlich wie ein Lebewesen wird und leben soll, und sei es auch nur ein Infusorium. Und übersieht dabei nur eins: daß es ein einzelnes Infusor für sich allein gar nicht gibt, daß man das ganze Weltall nachschaffen müßte, um auch nur ein kleinstes Tierchen in Wahrheit lebendig zu machen — denn man kann nichts von außen hineinstopfen, Ihr Herren, man muß dann schon von der Pike auf schaffen, nicht nur so ex tempore und ex machina.


Alles ist Ausdruck eines Wesens.


Wenn im großen Weltkonzert einmal ein Stern untergeht, so ist das auch nichts weiter, wie wenn einem irdischen Orchestermusiker eine Saite platzt. Sähe man den Mann nicht die Geige absetzen, so würde man vermutlich gar nichts merken, so unbekümmert geht das vielstimmige Zusammenspiel seinen gewaltigen Gang.


Die ‚Welt‘ gibt offenbar immer nur relative Vollendungs-Möglichkeit. Zwischen zwei Eisperioden kann eine Menschheit sich vielleicht so ‚vollenden‘, wie ein Einzelner zwischen Geburt und Tod.


Wir glauben als Menschheit eine Art fließende Ebene zu sein und sind statt dessen ein wandelnder Berg oder eine wandelnde Pyramide.


Es ist mit der Weltenuhr wie mit der des Zimmers. Am Tage sieht man sie wohl, aber hört sie fast gar nicht. Des Nachts aber hört man sie gehen wie ein großes Herz.


Diese Waschkanne vor mir — nimm die Zeit von ihr: und sie stürzt zusammen in nichts. Die Zeit macht erst den Raum.


Das Amüsante ist, daß es nun, seit dem Auftreten des Menschen, auf einmal Vergangenheit und Zukunft gibt (von vielem andern ganz zu schweigen), als hätte die ganze Wirklichkeit nur darauf gewartet, sich von ihm in vorn und hinten, oben und unten, früher und später usw. einteilen zu lassen. O Mensch, du Kindskopf aller Kindsköpfe, o Wissenschaft, du grandioses Orientierungs-System dieses Kindskopfes, nichts weiter!


Gestern und morgen haben im All keinen Sinn. Das All war weder, noch wird es sein, — es ist. Und so war nichts von dem, was wir ‚vergangen‘ nennen. Alles ‚Vergangene‘ ist. Vergangenheit wie Zukunft sind nur Formen der Gegenwart.


Für Pflanze und Tier gibt es das Wort ewig nicht und daher auch keine — Ewigkeit. Es sollte sie auch für uns nicht geben. Wir sind. Wir werden nie sein, ebensowenig, wie wir je waren. Die Ewigkeit ist in jedem Moment ‚gelebte Gegenwart‘ — oder sie ist nicht.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern