Alle Materie ist ja nur geistiges Arrangement

Schauerlich, zu denken, daß alles nur ‚in der Flucht‘ ist. Es gibt nichts, als den Moment, in dem fortwährend alles ist.

So wie ‚ich‘ von Sekunde zu Sekunde lebe und mir dessen bewußt bin — (aber das alles ist nicht ich, das ist die Unendlichkeit, die in mir fortwährend weiter lebt) so lebt die gesamte Wirklichkeit wie ein einziger gigantischer Körper in ihrer eigenen, von mir ihr vermittelten Vorstellung von Sekunde zu Sekunde.


Alle Vergangenheit existiert nur als lebendige Erinnerung eines gegenwärtigen Kopfes.
Alle Vergangenheit ist eine Selbsterinnerung Gottes.


Die Welt ist eine sich ewig fortentwickelnde Kugel, deren Oberfläche — hier der dies von ihr aussagt.


Ist nicht einmal dasselbe Wort in deinem Munde je dasselbe, so bist auch wohl du selbst ein in jeder Sekunde Neuer, noch nie Dagewesener, Niemehrsodaseinwerdender. Und nicht du allein: Alles ist fortwährend neu, frisch, einzig, einmalig. Dies ist das Geheimnis des Lebens und damit Gottes, als eines ewig Seienden, ohne auch nur die Möglichkeit irgendwelcher Starrheit.


Bewußtsein: Wir stehen an einem Ende, wir sind ein Anfang.


Nicht nur Fortdauer, — — Zieldauer.


Alle Materie ist ja nur geistiges Arrangement.


Aus einem Drama. Ein Freund zum andern (drohend): Die Welt wird doch keine Narrheit sein, — Du!?


Wer das Gebet in irgend einer Form wieder in unser Leben zurückbringt — er wird uns Ungeheures wiedergegeben haben.


Was ist Religion: Sich in alle Ewigkeit weiter und höher entwickeln wollen.


Einen Tempel bauen mit der Aufschrift: Dem heroischen Leiden.


Es gibt keinen größeren Stilisator in der Natur als den Tod. Gib das Leben dem Tod in die Hand und du übergibst es — seiner Kultur. Selbst mit dem Menschen ist es nicht anders. Je mehr uns der Tod in Händen hat, desto höhere Kunstwerke werden wir.


Im Menschen vollendet sich und endet offenbar die Erde. Der Mensch — ein Exempel der beispiellosen Geduld der Natur.


Wer mag denn wissen, ob unsere Erde in der Rangstufe der Planeten nicht eine der untersten, niedersten ist? Ob sie der Mehrzahl anderer Wandelsterne nicht etwa vorkommen möchte, wie einem Paris, einem London der Marktflecken Schildburg, oder wie einem Lionardo sein Hund oder sein Pferd.


‚Der Übermensch ist der Sinn der Erde‘ — das heißt: der Erde Sinn ist ihr Untergang in — Höheres.


Gefühl von Gnade: seliges Vorgefühl des uns zum Heil, unserer ganzen Entwickelung nach, Erwartenden — ohne den vollen Glauben, daß es auch wirklich kommen werde und ohne jeden Glauben daran, daß man es wirklich verdiene. Ein Gefühl, der objektiven Wahrheit zwar vielleicht nicht entsprechend, aber eine Schönheit des Herzens, ein Mehr — als — Wahrheit.


Alles Vollkommene darf angebetet werden, freilich nicht, daß es uns etwas schenke (außer sich selbst durchs Mittel seiner Schönheit), sondern angebetet im Sinne ehrfürchtiger Liebe.


Ja, dies Gebet, als kein Bitten um irgend etwas andres als um die immer reinere Offenbarung der Schönheit des Angebeteten soll bleiben, soll als das neue Gebet wiederkommen, nachdem wir das alte in uns niedergekämpft, ohne doch je vergessen zu können, daß es nicht nur eine Form des gemeinen Bedürfnisses, nein, noch weit mehr war: eine Form des edelsten Bedürfnisses der Seele: der Liebe. Als Liebe darf das Gebet wieder auferstehen, frei werden.


Gott ist der tiefste Gedanke, den der Mensch je gedacht hat. Gott ist der eigentliche Gedanke der Erde, der einzige all unsrer Gedanken, der, geschweige denn in Jahrtausenden, innerhalb ihres, der Erde, ganzen Daseins nicht zu Ende gedacht werden kann. Gott ist die große Frage der Erde, aller Erden: Ihr Leben ihre offenbare zugleich und geheime Antwort.


Es ist eines der tiefsten Worte: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Gott ist die Möglichkeit aller Möglichkeiten.


Göttliches (Theon) immer wieder in unzähligen Lebenslinien, Lebensläufen, Gott werdend (Theos) … Gott ein ewiger und unendlicher Prozeß des Sich-Verlierens und Sich-Gewinnens … Gott ein ewiges Ringen zahlloser dumpfer und lichter Individuen um Sich, als Schönheit der Schönheit. — Sich fortwährend auf irgend einer höchsten Formenstufe als diese gewinnend und besitzend und beschließend … und doch nie ganz und überall und gleichzeitig vollendet.


Im Kugelbegriff grenzt sich Gott gegen sich selbst ab. Gott ist, worin dieser letzte Begriff als in seiner höheren Einheit aufgeht.


Vielleicht wird jeder Planet so alt, bis er sich selbst erkannt und damit vollendet hat, oder doch so, wie Goethe sagt: der Mensch muß von einem gewissen Zeitpunkte an wieder ruiniert werden.


So wie ich — außer etwa als mystischer Seher — den Geistkörper des Menschen nicht schaue, so schaue ich auch nicht den Geistkörper der Erde. Und doch muß auch der Planet als Ganzes seinen Geistkörper haben und wer weiß, ob er damit nicht Brust an Brust mit Geistkörpern andrer Sterne lebt, sodaß …


Ein Kunstwerk schön finden, heißt, den Menschen lieben, der es hervorbrachte. Denn was ist Kunst andres als Vermittlung von Seele. Eine Landschaft schön finden, heißt, uns ihrer als eines göttlichen Geschenkes unbekannter Mächte freuen. Dankt meine Ergriffenheit z.B. dem Meere selbst? Nein, sie dankt den schöpferischen Geistern, der ganzen Natur dafür, dem schöpferischen Geist — des Lebens selber. Interesselos aber ist mein Wohlgefallen am Schönen so wenig, daß es vielmehr alles tiefste Schöpferische in mir aufregt und, indem es ihm Gelegenheit gibt im ausgiebigsten Maße ‚mitzutun‘, bis zu einem gewissen Grade zugleich befriedigt. Nur bis zu einem gewissen Grade — denn über dies Befriedigen hinaus bleibt noch — ob bewußt oder unbewußt — etwas von jener nie ganz gestillten Sehnsucht, die wir allem gegenüber empfinden, was uns zur Liebe zwingt: die Sehnsucht, es noch mehr, noch besser, noch gründlicher zu lieben, als wir es lieben können, des Wunsches einer noch viel vollkommeneren, sublimeren Liebe, die den Dank wirklich zu erstatten vermöchte, den wir fühlen.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Aphorismen aus der Feder von Christian Morgenstern