Antisemitismus

Aus: Neue Jüdische Monatshefte, Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West
Autor: Oppenheimer, Franz Dr. (1864-1943) Professor, Arzt, Soziologe, Nationalökonom und Zionist, Erscheinungsjahr: 1917

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Antisemitismus, Judenhass, Vaterland, Militär, Krieg, Kämpfer, Judenpolitik, Heeresdienst
Als in den Augusttagen 1914 jene unvergessliche Welle das deutsche Gemeinempfinden hob, eine elementare Naturerscheinung, schrecklich, erhaben und schön, wie der Ausbruch eines Vulkans, da ging durch die Herzen der deutschen Juden das starke Wollen: „Jetzt fechten wir uns heraus aus dem Viertelbürgertum, dem verhassten Metökentum, in die Vollbürgerschaft. Jetzt können und wollen wir zeigen, dass wir unser Vaterland nicht minder heiß lieben als alle anderen, jetzt wollen und werden wir beweisen, dass in uns nicht weniger Kraft und Mut und Opferfreudigkeit lebendig ist." Wie viele habe ich Abschied nehmen sehen, in denen dieser Doppelwunsch alle Kräfte fast zum Zerreißen spannte, der lieben deutschen Heimat zu leben und im Notfall zu sterben, aber gleichzeitig dem Namen der Väter. dem viel verlästerten, neue Ehre zu gewinnen. Es war wenig von der leichtherzigen Freude in den jungen Gesichtern meiner Schüler zu sehen, von der Lust am Abenteuer, an der Bewährung jugendlicher Kraft, die so viele andere Züge prägte: es war eher zäher Trotz, der mit zusammengebissenen Zähnen murrte: .,Jetzt zeigen wir's ihnen, denen drüben — und denen hüben".

Sie haben gehalten, was sie sich und uns gelobten. Die Statistik der jüdischen Kriegsteilnehmer wird einmal beweisen, dass sie gerade so brav und zäh zu kämpfen und zu sterben wussten, wie die christlichen Kameraden. Trotzdem sie fast überall, ungerecht gehandikapt, mit schwerem Gewicht zu laufen hatten, trotzdem sie gewiss bei gleicher Leistung nirgend die Ersten waren, die an die Reihe kamen, haben sie die beiden Ehrenkreuze und wahrscheinlich sogar den Pour le Mérite ungefähr im Verhältnis zu ihrer Anzahl in den gleichen Chargen und Jahrgängen erstritten. Jede andere Statistik wäre irreführend: da nahezu jeder höhere Offizier vom Major aufwärts das E. K. I. besitzt, während der Jude es höchstens bis zum Leutnant bringen konnte, darf man auch nur die dekorierten nicht-jüdischen Kämpfer der gleichen Jahrgänge und des gleichen militärischen Ranges zum Vergleich heranziehen. Selbst diese Statistik wird gegen alle Hasser und Verleumder zeugen.

Und noch mehr die Statistik des Todes! Der Schlachtentod macht keinen Unterschied zwischen den Anhängern der verschiedenen Konfessionen. Und er hat genommen, was ihm nach der Verhältniszahl zukam, und wahrscheinlich mehr. Denn unsere Jungen haben sich, mussten sich mehr aussetzen als die anderen. Sie taten es schon im Frieden. Es war nicht ihre Schuld, sondern die ihrer Umgebung, wenn ihr Ehrgeiz immer etwas überheiztes an sich hatte; sie hatten es so viel schwerer, sich durchzusetzen. Darum arbeiteten sie als Gelehrte und Künstler mit Überdruck. Darum ist ihr Prozentsatz unter den verwegensten Alpengängern immer erstaunlich hoch, und die Zahl der Opfer außer allem Verhältnis gewesen. So auch jetzt. Sehr oft ist mir von Vorgesetzten gesagt worden, dass ihre Juden immer die Ersten bei jeder Meldung zu gefährlichen Aufträgen waren, ja, dass man sie um ihrer Waghalsigkeit willen tadeln musste. Der österreichische Minister von Stürgkh sagte mir wörtlich: „Unsere Juden haben sich in der Front und hinter der Front so trefflich gehalten, dass der österreichische Staat entschlossen ist, ihren Wünschen so weit wie möglich entgegenzukommen." Und ein Generalstabsoffizier: „Zwei Vorurteile haben wir abgelegt: von der Minderwertigkeit der Reserve-Offiziere und der militärischen Unbrauchbarkeit der Juden."

Es wurde dafür gesorgt, von Anfang an, dass das Feuer unter dem Kessel ihres Ehrgeizes nicht geringer wurde. Man hat sie schwer gehandikapt, vom ersten Tage des Krieges an, und trotz, vielleicht wegen ihrer Leistungen, von Tag zu Tag mehr. Wir sprechen es in tiefer Scham aus, nicht in Scham für unser Judentum, sondern für unser Deutschtum, dass undeutsches Wesen unsere Jungen — nicht überall, aber furchtbar häufig — kränkte und beleidigte, in ihren heiligsten Empfindungen erkältete und zum Übermaß stachelte. Ich sage mit vollem Bedacht: undeutsches Wesen! Denn dem Deutschen galt immer für einen Neiding, wer den Waffenbruder schmähte, dessen Blut mit dem eigenen in eins zusammengeflossen war.

Als das schöne Kaiserwort gesprochen wurde, dass es fortan nur noch Deutsche gebe, blieb ein Teil des deutschen Volkes kalt und ungerührt, der herrschende Stand Preußens. Dass er stand und focht, brav wie je, der alte tapfere Kriegeradel, verstand sich von selbst, und es soll wahrlich nicht verkleinert werden, was er geleistet hat. Auch uns ist der Name Hindenburg ein Palladium. Aber von dem „neuen Geist" im Reiche wollte er nichts hören. Seine herrschende Stellung war gefährdet, war verloren, wenn im neuen Deutschland das ganze Bürgertum, auch die Juden, wenn gar die Arbeiterschaft zu voller Gleichberechtigung vollwertigen Bürgertums aufstieg. Und so bremste er von Anfang an und goss sein Wasser in den Wein der nationalen Begeisterung. Als Soziologe hatte ich es nicht anders erwartet: jede Gruppe wehrt sich bis zum äußersten um ihre Stellung und hat dabei — das ist das sozialpsychologische Grundgesetz! — das beste Gewissen von der Welt. Sie ist schlechterdings nicht imstande, andere verstandesmäßige Vorstellungen und sittliche Wertungen aufzunehmen oder auch nur bei anderen zu verstehen, als die, die das Gruppeninteresse verteidigen. Das wusste der Soziologe, und dennoch litt der Mensch in mir, als nach einem Vortrage, in dem ich Ludwig Franks gedacht hatte, eines der edelsten Opfer dieses Krieges, auch Eines, der mit vollem Bewusstsein für sein Deutschtum und sein Judentum gleichmäßig in den Tod gegangen war, des ersten Reichstagsmitglieds, das geblieben war, — als damals die antisemitische Presse hohnvoll über mich herfiel: „Macht euch keine Hoffnung, ihr seid und bleibt die Pariahs Deutschlands."

Das war noch in den ersten Kriegswochen. Schon damals stand unser alter Todfeind auf der Wacht, und seitdem, trotz allem Blut, was floss, trotz aller gemeinsamen Trauer und Not, ist er nicht müde geworden, sein Gift in alle Ohren zu träufeln, und hat leider auch dort Erfolge gehabt, wo staatsmännische Weisheit und Gerechtigkeit hätten gegen eingewurzelte Vorurteile die Oberhand behalten müssen. Wir haben die Statistik über die Juden in der Etappe und den Kriegsämtern nicht vergessen, der der Reichstag zustimmen zu müssen glaubte, um einer bösen Legende ein Ende zu machen, und von der es dann so still wurde, offenbar weil das erwartete Ergebnis nicht herauskam — oder weil man sich doch vor dem Auslande schämte? Wir haben nicht vergessen und werden nicht vergessen, dass das Preußische Ministerium des Innern seine hergebrachte Judenpolitik nicht um ein Haar änderte; es hat nach wie vor auch denjenigen ausländischen Juden die Naturalisation verweigert, deren Söhne im Heeresdienste stehen, und wir kennen wenigstens einen Fall, wo der Vater, ein seit Jahrzehnten in Deutschland wohnender Mann vom besten Rufe, noch immer nicht das deutsche Bürgerrecht erhalten konnte, obgleich sein Sohn, mit dem eisernen Kreuz erster Klasse geschmückt, vor dem Feinde geblieben ist. Und wir haben nicht vergessen und werden nicht vergessen, dass von gewissen hohen militärischen Stellen der ausdrückliche Befehl ergangen ist, nicht etwa die sämtlichen in Etappen und Garnisonen befindlichen Mannschaften, sondern nur die Juden aufs schärfste nachzumustern, und so der ganzen Gemeinschaft das Stigma des Drückebergertums aufzuprägen versuchte.

Gewiss gibt es auch jüdische Drückeberger: gibt es keine nichtjüdischen? Gewiss gibt es auch jüdische Kriegsspekulanten und Schieber: gibt es nur jüdische? Es sollte uns nicht einmal wundern, wenn es so viele, ja, wenn es ein paar mehr gäbe, als der Beteiligung der Juden am kaufmännischen Stande entspricht. Wer hat sie in den Handel hineingepresst, weil ihnen kaum ein anderer Weg zum Aufstieg frei blieb? Wer hat im Anfang des Krieges zum Schaden des Reiches den legitimen, alteingesessenen soliden Handel mit einem Schlage fast ausgeschaltet, brotlos gemacht und dadurch viele gezwungen, auf krummen Wegen zu gehen? Wer hat sie zu Pariahs herabgedrückt und hat jetzt die Kühnheit, von ihnen, von allen, die Handlungsweise des stolzen freien Vollbürgers zu fordern? Nicht jedem steift, leider, die Ungerechtigkeit das Rückgrat, manchem bricht sie es; nicht jeden stachelt sie zum edlen Ehrgeiz der sittlichen und beruflichen Höchstleistung, manchen macht sie auch zum Halunken. Wir sind ja doch nur Menschen! Was dem Baum Sonne und Wind, ist dem Menschen seine Ehre! Ihr habt sie uns geweigert, und jetzt scheltet ihr, dass einige von uns krüppeln?

Was oben gesündigt und zugelassen wurde, hat sich nach unten tausendfach durchgesetzt. Auch das ist ein sozialpsychologisches Hauptgesetz, dass ein Volk in seiner ganzen Masse, trotz aller Gegensätze der Klassen, die äußere Lebenshaltung der Oberklasse in Kleidung, Benehmen und Ausdruck nachahmt. Natürlich plumper und gröber! Der Reserve-Offizier, vor allem der junge, der von der Schulbank weg zum Heere eilte, der noch keine Erfahrungen aus dem bürgerlichen Leben mitbrachte, der oft schon als Knabe der gleichen allmächtigen Suggestion der Oberklasse verfallen war, ahmt in allem sein Vorbild, den aktiven Offizier, nach (hat auch gar kein anderes Modell und Muster) und daher auch in der Weise, vom und zum Juden zu sprechen. Und von da geht es zum Unteroffizier und zum Mann, im immer gröberen Milieu immer mehr vergröbert und verplumpt. Sind es beim wohlerzogenen aktiven Offizier kaum mehr als Abschattungen des Tones und der Behandlung, die freilich gerade die besterzogenen unserer Jungen besonders hart und schmerzlich verwunden, so hält der junge Reserve-Offizier Miene und Zunge weniger sorgfältig im Zaume, und bei den Unteroffizieren ist oft genug von Zaum und Zügel kaum noch die Rede. So langer Krieg macht nicht sanft und höflich, und wir verlangen gewiss nichts Übermenschliches und wollen nicht jede Entgleisung und jedes schnelle Wort tragisch nehmen: aber das muss einmal in allem Ernst gesagt werden, dass unsere Jungen draußen oft seelisch schwer leiden, und dass es manchem Vater, der den seinen hergeben musste, den Schmerz vergiftet und den Stolz vergällt, wenn er an gewisse Dinge denkt oder andere hört. Wir sind eben doch auch nur Menschen!

Nur andeuten darf man heute, was diese antisemitische Stimmung gegen die Juden des Ostens gesündigt hat. Das ist ein langes Kapitel und kein erfreuliches. Gewiss: so langer und harter Krieg macht nicht sanft und höflich; gewiss: fremde Art ist nicht leicht verständlich, und diese Art nicht besonders ansprechend, zumal gerade der Dialekt reizt, der deutsch und doch kein deutsch ist; gewiss: der Jude des Ostens hat auch die deutsche Art nicht gleich verstanden und hat oft angestoßen, weil er nur an den Russen gewöhnt war, dessen Ehrbegriffe wesentlich — anders sind als die des deutschen Offiziers und Beamten; gewiss: es war oft harte Notwendigkeit, die dazu zwang, die Bevölkerung des eroberten Gebietes in ihrer Bewegung einzuschränken, auf schmälste Kost zu setzen, zu Zwangsarbeit heranzuziehen: aber oft hat es auch an allem guten Willen gefehlt, an Gerechtigkeit und — Menschlichkeit, und vieles, was geschehen ist, wird Deutschlands Rechnung auf Jahre hinaus schwer belasten.

Der Burgfrieden ist nicht gehalten worden. Wer ihn zuerst brach, haben wir gesehen: diejenigen, deren Privilegien vor dem Geiste des Burgfriedens nicht Bestand haben konnten, wenn er der Geist des neuen Deutschlands wurde. Man sagt uns täglich, dass wir unmöglich wirtschaftlich dort wieder anknüpfen können, wo wir am 1. August 1914 standen, und hat recht damit: aber politisch, vor allem innerpolitisch denkt man dort wieder anzufangen. Auch das ist unmöglich, aber der Herrenstand Alt-Preußens wird alles daransetzen, es zu tun. Die antisemitische Hetzmeute kläfft wieder fast ungehemmt durch alle Gassen; auch Herr Werner-Gießen steht, wo er stand.

Wir werden den Burgfrieden halten bis zum Frieden. Das sagt nicht, dass wir jede Beleidigung dulden werden. Aber wir wissen, dass wir nach dem Kriege nichts anderes zu erwarten haben als den alten Kampf in verschärfter Form. Und wir alle wissen jetzt, wir alle, was des Kampfes Ziel ist. Wir können nur frei atmen, wenn wir Vollbürger sind. Was uns aber das Vollbürgertum weigert, ist der Geist des alten Eroberertums, ist der Geist des patriarchalischen Großgrundbesitzertums, das nur so lange bestehen kann, wie es den Menschen als Objekt fremden, statt als Subjekt seines eigenen Willens betrachtet. Was uns beleidigt und in unserer Ehre kränkt, ist der üble, aber für diese Art von Betrieb unerlässliche Ton des Gutshofes. Dieser Geist und dieser Ton werden unten bis in die tiefsten Schichten nachgeahmt werden, immer gröber und plumper, so lange wie die oben die Herrenklasse sind.

Wir hallen den Blutpreis ehrlich bezahlt, und wir werden um unser Recht kam; das man uns freiwillig nicht gibt. Und wir wissen — gegen wen!

Oppenheimer, Franz Dr. (1864-1943) Professor, Arzt, Soziologe, Nationalökonom und Zionist

Oppenheimer, Franz Dr. (1864-1943) Professor, Arzt, Soziologe, Nationalökonom und Zionist