Anfänge deutscher Städte vor tausend Jahren. Mit neun Bildern

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: R. Hermann, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Städte, Quedlinburg, Goslar, Hildesheim, Burgen, Schutz, Ansiedler,
Ein Jahrtausend der Entwicklung deutschen Städtewesens ist vergangen. In diesem Jahre können mehrere deutsche Städte, voran Quedlinburg und Goslar, ihr tausendjähriges Bestehen feiern. Sage und Dichtung haben freilich Bilder von der Gründung aus jener Zeit übermittelt, die mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht in allem übereinstimmen. Wohl zeigt man in Quedlinburg noch heute die Stelle, wo „Herr Heinrich am Vogelherd“ im Wald überrascht zum Könige gewählt worden sei. Der Vorgang ist indes vermutlich anders gewesen, als wie wir ihn aus der vielgesungenen Löweschen Ballade kennen, und ebenso kann man auch nicht in dem Maße von eigentlicher Städtegründung durch Heinrich I. reden, wie man es lange getan. Diesem vor allem um die Einigung der deutschen Stämme so hochverdienten Fürsten war es jedenfalls noch nicht darum zu tun, Gemeinwesen, etwa nach römischem Muster ausgerüstet mit mehr oder weniger Selbständigkeit, Recht und eigener Obrigkeit, ins Leben zu rufen, ja nicht einmal um Zusammenfassung der verschiedenen Fertigkeiten und Fähigkeiten handwerklicher oder gewerblicher Art.

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Aber es lag König Heinrich daran, im Schutz von Burgen befestigte Zufluchtsorte anzulegen, die zwar in Friedenszeit geringere Besatzung hatten, für den Kriegsfall jedoch Vorräte aufspeicherten und dann dem flüchtenden Landbewohner Schutz gewährten. Leicht waren die starrköpfigen Sachsen freilich nicht für das Zusammenwohnen in Städten zu gewinnen, wie auch die Landleute damals lieber auf verstreuten Einzelhöfen saßen, als Gruppen- und Reihensiedlungen, wie in slawischen Dörfern üblich, anzulegen. Noch lange pflegte der Bauer zugleich Metzger, Schreiner, ja vielfach auch Kleidermacher in einer Person zu sein, glaubte deshalb auch fremde Hilfe entbehren zu können. Und doch war gerade damals nichts dringender, als sich zur Sicherung gegen die unaufhörlichen verheerenden Überfälle feindlicher Völkerschaften hinter dicken Mauern und Wehrtürmen zu verschanzen und gemeinsam Widerstand zu leisten, wo der einzelne rettungslos verloren gewesen wäre. Gegen die immer wieder hereinbrechenden Slawen und Magyaren seine Sachsen und Franken zu verteidigen, war König Heinrichs Wille. Und als er sie in harten Kämpfen über die Elbe zurückgedrängt hatte, wurde Merseburg befestigt, die Feste Meißen im Osten als ein Bollwerk gegen die andrängende Sorbenflut errichtet. Dass König Heinrich I. im Jahre 922 den Bau der ersten Häuser Quedlinburgs angeordnet hat im Schutz des in der Nähe des Wipertiklosters gelegenen Königshofes, „curtis Quitilinga.“, ist urkundlich bezeugt, also tausendjährige Vergangenheit der Stadt erwiesen. Auch Nordhausen, Duderstadt, Grona und andere Städte des damaligen Thüringen sind zu jener Zeit entstanden. Bischofsitze wie Hersfeld und Fritzlar, Pfalzen wie Gandersheim und Goslar wurden mit Mauern umgeben. Jeder neunte Mann des Heeres musste in die Häuser bei der Burg ziehen und für acht andere Quartier machen, während diese für ihn und sich Feldfrüchte bauten.

Wirkliche Städte mit eigener Obrigkeit und Rechtsordnung hatte es allerdings schon Jahrhunderte zuvor gegeben. Hatte sich doch am Rhein und an der Donau an so manchem befestigten Lagerplatz der Römer, wo sich germanische und gallische Ansiedler niedergelassen hatten, lebhaftes städtisches Leben entwickelt. Köln, Trier, Metz, Straßburg, Augsburg, Regensburg und andere Städte Süddeutschlands sind römische Gründungen, von deren erster Blütezeit noch heute manche bedeutende Reste zeugen. Freilich haben die Wogen der Völkerwanderung diese Stätten überspült, die Raubzüge der Normannen und Ungarn sie zerstört. Was dann nach langer Zeit, in der zwar der Handelsverkehr dort nie ganz erlosch, wiedererstand, war nicht römische, war germanische Kultur. Im Norden Deutschlands, wohin sich die römische Besetzung nicht erstreckt hatte, waren die Bauten König Heinrichs tatsächlich die Anfänge deutschen Städtewesens; die vereinzelten Gründungen Karls des Großen in Ostfalen, 809 des Bistums Halberstadt, 818 Hildesheims, können als solche nicht zählen.

Zur eigentlichen Herausbildung städtischer Gemeinwesen kam es erst im elften Jahrhundert. Erst in dieser Zeit taucht auch die Bezeichnung Bürger urkundlich auf, also immer noch für Leute in Abhängigkeit der Burgherrschaft. Auf den größeren Burgen, vor allem den Königspfalzen, entwickelte sich durch das höfische Treiben, das Ankommen und Abgehen von Gesandtschaften, die Abhaltung von Festlichkeiten nach und nach auch ein reger Handelsverkehr, und die Zahl der Ansässigwerdenden nahm zu. Aber nicht nur in der näheren Umgebung von Burgen entstanden städtische Niederlassungen; Mittelpunkte für Tausch und Handel aller möglichen Art waren wie schon im Altertum die Kultstätten. Um Kirchen und Klöster, Bischofsitze und Wallfahrtsorte mit wundertätigen Quellen sammelte sich immer viel Leben. Und weil zu den Kirchenfesten mit ihren Hochämtern und Messen von weither Hohe und Niedere herzuströmten, nannte man schließlich den dabei sich entwickelnden lebhaften Handel kurzweg Messe oder Duld. So wurden Frankfurts und Leipzigs Messen ursprünglich im Anschluss an kirchliche Tagungen abgehalten. Eine dritte Art der Entstehung von Städten ergab sich durch besonders günstige örtliche Lage, etwa am Zusammentreffen mehrerer großer Handelsstraßen oder, wie zum Beispiel bei Frankfurt, Fürth, München, an einer Furt oder einer wichtigen Brücke, in geschützter Bucht am Meer oder da, wo man aus unwirtlichem Gebirge in ebenes Land tritt. Politische Bedeutung gewannen die Städte erst zur Stauferzeit, wo sie vielfach, von den Welfen gefördert, die Stützpunkte der Opposition gegen die Kaiser wurden. Marktrecht und Burgrecht verschmolzen zu selbständigem Stadtrecht. Im zwölften und dem folgenden Jahrhundert mehrten sich die Städtegründungen so, dass damals dreihundertfünfzig Städte im Norden und Osten entstanden; eine Zahl, die später nicht mehr sehr zunahm, und viele dieser Städte behielten ungefähr den gleichen Umfang bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei. In den Städten schlossen sich die Handwerker zu Zünften, die Kaufleute zu Gilden zusammen, damals formte sich die Ratsverfassung und bauten sich die Stadthäupter ihre Ratshäuser, von denen so manches noch heute unser Stolz ist. Der Verkehr mit dem Orient und mit Italien brachte neues Leben, neue Güter und neue Götter, das heißt Änderung in Brauch und Sitte. Nach den Tagen der seegewaltigen Hansa [Hanse], der auch Quedlinburg angehörte, kam um Ende des Mittelalters die Zeit größten Wohlstandes in deutschen Städten, die Zeit der Fugger und Welser und Paumgartner, die ihren Reichtum Fürsten und Kaisern liehen. Zu ihrem großkapitalistischen Geldhandel standen die Zünfte als festgeordnete Vertretungen des schaffenden Mittelstandes in scharfem Widerspruch. Wie sehr man auch später über die Gebundenheit dieser sozialen Ordnungen die Nase rümpfte — hatten sie nicht Vorzüge, die uns in der heutigen zerfahrenen Wirtschaft allgemeinen Raubbaus, der Eigensucht vorbildlich erscheinen müssen? Damals war werktätige brüderliche Fürsorge für den Berufsgenossen noch hochgeachtete Tradition und das gesellige Leben von gemeinsamer religiöser und sittlicher Auffassung getragen. Das waren die Zeiten, in denen in den schönen alten Häusern, die heute noch in Städten wie Augsburg und Nürnberg, aber auch in den nordischen Goslar, Quedlinburg, Halberstadt, Hildesheim, Lüneburg und anderen immer wieder unsere Bewunderung erwecken, ein stolzes, aufrechtes Bürgertum wohnte und waltete. Der furchtbare Dreißigjährige Krieg hat freilich nur Reste damaliger städtischer Kultur uns hinterlassen in weit und breit verwüstetem, ausgesogenem Land. Goslar, einst Inhaberin mächtiger Berggerechtigkeiten, die Fürsten und Herzogen Fehde bot, verarmt, verschuldet und von Pest entkräftet, von Bränden verheert. Eine „modernde Reichsstadt“ konnte sie Goethe 1777 nennen, und Heine spöttelte über die menschenleere, schmutzige Stadt. Und wie der ehemaligen Kaiserstadt ist es den meisten anderen auch ergangen. Erst das neunzehnte Jahrhundert brachte wieder einen Aufschwung, und mit dem Anschluss an die im viertem und fünften Jahrzehnt erbauten Eisenbahnen nach und nach immer stärker pulsierendes wirtschaftliches Leben. Wie weit ist aber der Entwicklungsweg von den ersten städtischen Niederlassungen vor tausend Jahren bis zu der Blüte im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert und von jener Höhe durch jahrhundertelange Erschöpfung bis zum Erwachen neuer Kraft und neuer, freierer Formen in der Städteverfassung des Freiherrn vom Stein!

Wohl liegen heute dunkle Schatten über den Städten, die sich zur Jahrtausendfeier rüsten, wie über dem ganzen deutschen Land, aber nach den langen, sonnenarmen Wintern wird sich so, wie die Rebe im Lenz an neuen Trieben ihre alte Kraft erweist, auch der unversiegliche Lebenswille des deutschen Volkes aufs Neue aufrichten. Arbeit war in den tausend Jahren des Bürgers Preis, und geduldige Arbeit wird auch uns aus der Tiefe der jetzigen Ohnmacht erretten, wenn nur die Wurzeln gesund erhalten bleiben.

Das Bäckergildenhaus in Goslar.
Portal des Domes zu Meißen.
Das Gildenhaus der Gewandschneider in Goslar, jetzt Hotel. Photothek
Das Kaiserhaus in Goslar.
Klopstocks Geburtshaus in Quedlinburg.
Das Rathaus in Quedlinburg.
Das Knochenhauerhaus in Hildesheim
Hof der Albrechtsburg in Meißen.
Das Rathaus in Hildesheim.

Städte, Goslar, Das Bäckergildenhaus

Städte, Goslar, Das Bäckergildenhaus

Städte, Goslar, Das Gildenhaus der Gewandschneider, jetzt Hotel

Städte, Goslar, Das Gildenhaus der Gewandschneider, jetzt Hotel

Städte, Goslar, Das Kaiserhaus

Städte, Goslar, Das Kaiserhaus

Städte, Hildesheim, Das Knochenhauerhaus

Städte, Hildesheim, Das Knochenhauerhaus

Städte, Meißen, Hof der Albrechtsburg

Städte, Meißen, Hof der Albrechtsburg

Städte, Meißen, Portal des Domes

Städte, Meißen, Portal des Domes

Städte, Quedlinburg, Das Rathaus

Städte, Quedlinburg, Das Rathaus

Städte, Quedlinburg, Klopstocks Geburtshaus

Städte, Quedlinburg, Klopstocks Geburtshaus