Niagara, den 28. August 1893.

Es regnete echt amerikanisch in Strömen, uns störte das aber nicht, bis 2 Uhr Mittags war das schönste Wetter und wir hatten reichlich Zeit, uns die gewaltigen Fälle von jeder Seite gründlich anzusehen, man kann sich aber auch nicht sattsehen. Nun haben wir auch bereits vier unserer Spree-Reisenden getroffen, zwei Engländer in Saratoga und Montreal, und im Clifton-House zwei der drei technischen Räte aus Budapest. Letztere sind von Amerika sehr unbefriedigt, sie mussten bei glühender Hitze drei Wochen in New-York zubringen, ihr dritter Kamerad, Herr v. Bodner, wurde dort gefährlich krank und kehrte nach Europa zurück. Derselbe war nach den amerikanischen Zeitungen auch lebendig in Southampton eingetroffen und dann spurlos verschwunden, vermutlich ausgeraubt und ins Meer geworfen. Erst im Dezember erfuhr ich in Budapest, Herr v. Bodner sei unerwartet, aber gesund in Ostende wieder zum Vorschein gekommen, Gott sei Dank! Die übrigen zwei Landsleute hatten bisher nur New-York und den Niagara-Fall gesehen, wo waren wir indessen schon gewesen!

Der Niagara-Fluss bildet zwei Fälle, die aber nur durch die kleine bewaldete Goat-Island voneinander getrennt sind, der amerikanische Fall, 332 Meter, und der Hufeisen-Fall auf kanadischer Seite, 915 Meter breit, beide circa 150 Fuß hoch, von beiden zusammen fallen in einer Minute 15 Millionen Kubikfuß in die Tiefe, von diesen 90 Prozent über den Hufeisen-Fall. Man muss dort gewesen sein, um sich von dem Getöse, dem smaragdgrünen Farbenspiel, den Sprühwolken einen Begriff machen zu können, hinreißend, gewaltig! Gestern Abend fuhren wir bei Vollmond mit der elektrischen Bahn 9 Kilometer dem kanadischen Ufer entlang, vor uns immer die feenhaft beleuchteten Fälle — himmlisch! Unbegreiflich ist mir, dass dieselben nicht Abends, wie ich es am Rheinfalle und in Gastein gesehen, in verschiedenen Farben elektrisch beleuchtet werden, das müsste einen unbeschreiblich schönen Eindruck machen. Heute Morgen gingen wir das steile Ufer hinab auf ein kleines Dampfboot und fuhren, durch wasserdichte Mäntel geschützt, neben beide Fälle, hierauf auf die amerikanische Seite und mit einem Elevator zur Reise unter die Fälle. Wir mussten uns vollständig entkleiden und einen sogenannten wasserdichten Anzug nehmen, dann ging es eine circa 30 Meter lange Holztreppe hinab und nun auf einem Holzstege von Klippe zu Klippe vor dem Falle vorüber, endlich unter den Fall auf Steingeschieben zurück bis zur Treppe. Einer klammerte sich an den Anderen. Mimi und Miss P. mit dem Führer voran, ich als letzter, ein Höllenlärm umgab uns, das Wasser strömte auf uns herab und schien uns zusammenschlagen zu wollen, ein Fehltritt und wir wären verloren gewesen. Wir waren trotz wasserdichtem Anzuge wie gebadet, aber froh, aus dem Wasserschlunde lebendig wieder herauszukommen; mitten in diesem Hexenkessel bückte ich mich nieder und nahm zum Andenken einen Stein aus der Tiefe, der geschliffen und mit „Niagara" beschrieben werden soll. Graf Bela Szechenyi hat bereits zweimal solche Andenken unter dem Niagara-Falle hervorgeholt.


Zwei Brücken führen kurz vor den Fällen über den Niagara-Fluss, eine Eisenbahn- und eine Hänge-Brücke, um vom Clifton-hotel auf die amerikanische Seite kommen zu können, wo Niagara-Fall, eine nette Stadt mit 5.000 Einwohnern und eine Menge Hotels liegen. Hier steht auch der 300 Fuß hohe eiserne elektrische Elevator, den wir natürlich bestiegen und eine prachtvolle Aussicht auf die ganze Gegend und die Fälle hatten; bei klarem Wetter soll man sogar den Erie-See sehen können. Diese Elevators, Hotels, elektrische Bahn, Brücken und sonstigen Einrichtungen der Neuzeit tragen nichts weniger als zur Verschönerung der Fälle bei, ich hätte Coopers amerikanische Urwälder vorgezogen. Übrigens reißen die Fälle fortwährend Felsblöcke mit sich fort und gehen daher jährlich etwas (circa ½ Meter) zurück, so dass sie in einigen hundert Jahren weit höher im Strome und näher dem Erie-See liegen werden.

Etwa 2 englische Meilen von den Fällen stromaufwärts baut die Niagara-Katarakt-Konstruktions-Gesellschaft die größte elektrische Anlage der Welt, die wir ebenfalls besichtigt haben. Ein 33 Meter breiter, 400 Meter langer, mit Quadern eingefasster und mit starken Wehren versehener Kanal leitet eine Riesenwassermasse aus dem Niagara-Fluss in einen 26 Meter tiefen, 133 Meter langen, 33 Meter breiten Maschinenraum, in dem 24 Turbinen zu je 5.000 Pferdekräften, also zusammen mit 120.000 Pferdekräften, Platz haben, um die elektrischen Motoren zu betreiben. Vorläufig werden aber nur 5 Turbinen nach Schweizer'schem Modell mit 25.000 Pferdekräften erbaut. Das einströmende und benützte Wasser wird durch einen 3 Kilometer langen, 22 Fuß hohen und 19 Fuß breiten Tunnel in den Niagara-Fluss unmittelbar unter die Fälle zurückgeleitet. Das ganze Werk wird aus Quadern, die bis 10 Dollars pro Kubikmeter kosten, hergestellt und kostet 4 Millionen Dollars. Die besten Arbeiter dabei sollen Neger und Ungarn sein, die bis 6 Dollars täglich verdienen. Man erwartet jeden Augenblick den Durchbruch des Tunnels, dann sind noch die Maschinen und Gebäude aufzustellen, und schließlich werden unterirdisch Kupferdrähte von ½ bis 1 ½ Zoll Stärke zur Übertragung der Elektrizität nach Buffalo und wohin immer gelegt. Man behauptet hier, dass, wenn man die ganzen Niagara-Fälle in Kraft übertragen würde, Amerika gar keine Kohlen mehr benötigt; das ist aber nicht richtig, beide Niagara-Fälle in Kraft übertragen, würden kaum 5 Millionen Pferdekräfte liefern. Im Sommer 1894 soll das Werk vollendet sein, die benachbarte große Papierfabrik hat allein 6.000 Pferdekräfte von dort kontraktlich zu bekommen.