Toronto, den 27. August 1893.

Toronto ist eine sehr schöne Stadt, wenn auch in amerikanischer Weise gebaut, mit ganz geraden Straßen und vielen villenartigen Häusern, da alle, selbst der Arbeiter, in einem Hause allein zu wohnen wünscht. Er zahlt für fünf Räume mit Wasserleitung etc. 120 Dollars, recht nette Häuser mit 10 Räumen, Badezimmer etc. sind schon für 250 Dollars jährlich zu haben. Toronto hat eine Viertelmillion Einwohner, zahlreiche Industrien und Handelshäuser für das ganze Land. Im Centrum der Stadt sind nur Geschäfte, weiter nach der Peripherie verändern sich die Straßen zu einer reizenden Villenstadt, breite, meist mit Holzstöckeln gepflasterte Straßen, Trottoirs mit Pfosten belegt oder mit Asphalt und mit schönen Bäumen in einem üppigen, wohl gepflegten Rasenstreifen und daneben hinter netten Zäunen, in reizenden Gärten, schöne geräumige Villen, kleinere Wohnungen oder nach gewissen Chablonen gebaute Arbeiterhäuser, jedes für eine Familie. Alle Häuser der Stadt aus Ziegelrohbau, mehr oder weniger mit einem vorzüglichen roten Quadersandstein geziert. Es gibt aber auch viele große Paläste der Banken, Assekuranzgesellschaften etc., die nur aus Quadern errichtet sind. Die ganze Stadt äußerst rein, durchaus mit Gas, elektrischer Beleuchtung und Bahn, Kanalisation, Pflaster etc. musterhaft versehen. Zahllos sind die neuen, schönen, oft großartigen Kirchen für alle möglichen Sekten, die meistens zur protestantischen Kirche gehören, die Muckerei ist riesig. Heute ist Toronto in größter Aufregung, das Volk, circa 26.000 Stimmen votieren, ob die elektrischen Bahnen auch am Sonntage verkehren dürfen und, wie ich eben höre, haben die Frommen mit 1.000 Stimmen Majorität gesiegt. "Wir wollten heute Früh zum Sonntage nach Niagara fahren, kein Schiff, kein Bahnzug, der erste um 1 Uhr, den wir benützen werden. Toronto ist voll von den besten Schulen und öffentlichen Anstalten aller Art, so besuchte ich auch eine öffentliche Lesehalle, wunderschönes Gebäude, ausgezeichnete Bibliothek, wo jeder, für welchen der Hausherr bürgt, Bücher bekommt; große Lesesäle mit Zeitungen der ganzen Welt und freiem Eintritt. Gerne hätte ich noch heute einige Kirchen besucht, aber ohne elektrische Bahn, bei endlosen Straßenlängen wie die King-Straße von 12 englischen Meilen Länge, unmöglich! Vergeblich suche ich Toronto mit einer bekannten deutschen Stadt, mit Hannover wegen seines Rohbaus, mit Bremen, Frankfurt etc. zu vergleichen, es ist viel schöner! Überhaupt Kanada hat unsere vollste Bewunderung.

Die Perle in Kanada ist die Provinz Ontario mit Toronto als Hauptstadt, der Osten ist mehr von Franzosen bewohnt, weniger kultiviert und der Westen kaum durch die kanadische Pazifikbahn aufgeschlossen. In Ontario finden wir alles, was Zivilisation und Intelligenz in unserer vorgeschrittenen Zeit hervorzubringen vermochten: ausgezeichnete Verwaltung, gute Finanzen, Pflege der Erziehung und Arbeit, blühende Industrie und Handel. Ontario hat eine landwirtschaftliche Akademie, eine Versuchsstation, Musterfarmen, drei große Milchgenossenschaften, die ihre Produkte mit bestem Erfolge nach England absetzen, einen landwirtschaftlichen Verein, dessen Verhandlungen einen weit höheren Standpunkt als die unsrigen einnehmen. Ich habe niemand gesprochen, der sich nicht zufrieden erklärt. Kanada hat gegen 160.000 deutsche Bewohner, die Gegend 50 Meilen nördlich von hier wie London, Berlin etc., blühende Städte von 25.000 Einwohner, wird nur von wohlhabenden deutschen Farmern eingenommen, die sich dort schon seit Generationen angesiedelt haben. Es gibt hier drei große, mächtige Parteien, die eine wünscht die jetzige englische Kolonie beizubehalten, die andere eine selbstständige Republik, die dritte Anschluss an die Vereinigten Staaten. Die allgemeine Meinung ist, dass der letztere einmal erfolgen wird, um das große amerikanische Kapital und die Schneidigkeit der Amerikaner in Kanada zu verwerten.


Bei dieser Gelegenheit ein Wort über die gegenwärtige Regierungsform dieses zukunftsreichen Landes. Kanada ist zwar eine englische Kolonie, hängt aber mit dem Mutterlande sehr lose, vielleicht weniger eng als Indien mit England zusammen. Die Stelle des Präsidenten in den Vereinigten Staaten nimmt in Kanada der von der Königin von England ernannte Generalgouverneur als vollziehende Gewalt ein. Sein Sitz ist Ottawa, das wir aus Zeitmangel leider nicht besuchen konnten. Das Ministerium besteht aus 13 Mitgliedern. Das Parlament mit ähnlicher Befugnis wie der Kongress in Washington, besteht aus 78 Senatsmitgliedern, die vom Gouverneur lebenslänglich ernannt werden, und aus 211 Parlamentsmitgliedern, die von den Provinzen gewählt werden. Die einzelnen Provinzen haben, insoweit sie nicht Territorien sind, eine gleiche Verwaltung wie die Staaten der Union, nur werden die Gouverneure derselben von dem Generalgouverneur ernannt.

Es herrscht vollständige Religionsfreiheit; es werden vom Staate 8.500 Schulen, 106 Gymnasien und 8 Universitäten erhalten. Ich sollte denken, die Kanadier tun besser, allein zu bleiben, das Reich der Union wird sonst zu groß, die Interessen der einzelnen Teile zu verschieden, um auf die Dauer nicht trennend zu wirken; soll sich dann Kanada neuerdings selbstständig machen?

Hier herrscht mehr die Solidität der Engländer, ein ruhiger Fortschritt, kein so großer Reichtum wie in den Vereinigten Staaten. Der deutsche Konsul mit 2.000.000 Dollars gehört zu den Reichsten des Landes. Hierbei möchte ich erwähnen, dass Deutschland in Kanada fünf, wir nur einen Konsul besitzen, dass wir hier in den verschiedensten Artikeln bedeutende Geschäfte machen könnten, dass wir aber beinahe nur über England mit Kanada handeln und diesem den Profit lassen. Kürzlich wünschte ein hiesiges Geschäft große Mengen Perlmutterknöpfe von Wien zu beziehen, Preis etc. konvenierten ihm, er benötigte aber eine etwas größere Form, schrieb deshalb nach Wien und erhielt nicht einmal eine Antwort! Dabei wollen die Perlmutterarbeiter in Wien verhungern! Deutschland macht hier bedeutende Geschäfte, über uns lächelt man nur mitleidig!

Durch die Güte des hiesigen deutschen Konsuls Herrn Nordheimer begleitete mich dessen Kanzler Herr Weichert gestern in die Umgebung von Toronto, um einige Farmen zu besichtigen. Kanada ist, wie erwähnt, außer in den Felsengebirgen in der Hauptsache eben, jedoch mussten wir einen ziemlich tiefen Taleinschnitt überwinden, bis wir die höher gelegene Farm des Herrn White erreichten. Die Einheit für eine Farm ist hier 100 Acres à 1.100 Quadratklafter, circa 70 Joch, aber durch Käufe, Erbschaft etc. sind auch größere Farmen zu 200 bis 300, selbst 400 Acres oder circa 300 Joch entstanden, die kleineren sind jedoch in überwiegender Zahl. Sie werden entweder von den Besitzern oder Pächtern bearbeitet. Der Kauf einer billigen Farm, weiter von den Städten, für 3.000 bis 6.000 Dollars ist nicht schwer, da der Kredit bei Banken gegen Hypothek ein sehr ausgedehnter ist. Die von mir besuchte Farm gehörte einem Herrn Tailer in Toronto, der sie mit 30.000 Dollars bewertete und von Herrn White 700 Dollars Pacht oder 2,5 Prozent dafür erhält. Letzterer ist ein Gentleman wie unsere kleinen Pächter in Ungarn, arbeitet aber, wie er mir an seinen Händen zeigte, wie ein gemeiner Knecht. Seine Hilfe besteht in seinem jüngeren Bruder, der 120 Dollars fürs Jahr erhält, und in einem Knechte für 6 Monate à 20 Dollars; beide haben freie Kost. Die Farm hat 200 Acres = 80 Hektar, davon 60 Wald; sie ist eingezäunt, so dass das Vieh unbeaufsichtigt weiden kann. Viehstand: 4 große schöne Arbeitspferde à 200 Dollars, 1 Einspänner à 100 Dollars, 5 Kühe Durham à 50 Dollars, 18 Jungvieh à 20 bis 40 Dollars, 6 Schweine à 10 Dollars, sämtlich im besten Zustande. Das Rindvieh in Kanada besteht beinahe überall aus Shortorn, Durham, hornloses Aberdeen Angus, Jersey und Holsteinern; die Wollträger sind durch die englischen Fleischschafe und die Schweine beinahe allein durch die Berkshirerace vertreten. In der Scheuer fand ich lauter gute Werkzeuge, Mähmaschine, Häckselmaschine etc. Gebäude bestanden in einem kleinen netten gemauerten Wohnhause, einem sehr primitiven Stall nebst Scheuer aus Holz, mit Brettern verschlagen, daneben eine liederliche Miststätte. Der Boden ist ein heller, wenig humoser sandiger Lehmboden. Der Anbau erfolgt Anfangs September und Ende April. Der Weizen ist beinahe weiß, aber schwer, Gerste lang, leicht. Hafer dagegen sehr schön. Herr White baut jährlich

34 Acres Weizen à 30 bushels = 9 Meterzentner
32 Acres Gerste à 30 bushels = 9 Meterzentner
18 Acres Hafer à 50 bushels = 15 Meterzentner
84

die übrigen 50 Prozent werden zu Rotklee und Weide, 3 Acres zu Kartoffeln, Rüben und Futtermais benützt. Die Steuern betragen 70 Dollars und 12 Tage muss mit zwei Pferden auf den guten öffentlichen Wegen gearbeitet werden. Herr White verkauft jährlich circa 1.500 bushels Früchte und 5 Stück Jungvieh und bekommt für

700 bushels Weizen à 65 Cents . . . . 455 Dollars
500 bushels Gerste à 45 Cents . . . . . 225 Dollars
300 bushels Hafer à 40 Cents . . . . . . 120 Dollars
für 20 Pferde auf der Weide à 20 Dollars 400 Dollars
300 Kilo Butter à 40 Cents . . . . . . . . . 120 Dollars
10 Schweine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .100 Dollars
5 Stück Jungvieh rote Durhams . . . . 200 Dollars
500 Dutzend Eier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Dollars
1.695 Dollars
1892 hatte der Pächter 2.100 Dollars Bruttoeinnahme. Nach Bezahlung sämtlicher Spesen und des eigenen Lebens bleiben jährlich circa 500 Dollars netto; Herr White meinte, er esse zwar nicht viel Rindfleisch (dasselbe kostet hier 20 bis 30 kr. das Kilo) aber ein Huhn habe er immer im Topfe; sehr schönen Obstkuchen sah ich selbst auf dem prächtigen Sparherde. Zucker kostet 12 kr. 1 Kilogramm, Kaffee 60 kr., 1 Dutzend Eier 24 kr. In unserem Queens-Hotel sind wir wunderbar untergebracht für 3 ½ Dollars pro Tag und Kopf, alles ist daher bedeutend billiger als in den Vereinigten Staaten.

Von Toronto fuhren wir bei einer anständigen Temperatur 84 Meilen am westlichen Ufer des Ontario-Sees ununterbrochen durch prächtige, hochkultivierte Felder mit den herrlichsten Anlagen von Obstbäumen aller Art, selbst Weinbergen, so dass ich unwillkürlich an das Elbtal erinnert wurde. Ich glaube, hier müssen größtenteils Deutsche wohnen. Auch durch mehrere liebliche Städte, wie Hamilton, St. Katherine, mit hohen Türmen, netten roten Häusern mitten in Obstbäumen gelegen, kamen wir und endlich um 5 Uhr zum Niagara-Fall — großartig, wunderbar! Ihn zu beschreiben ist meine Feder zu ungeschickt, ich lege ein Bild davon meinem Briefe bei und bringe Photographien mit nach Hause.