Toronto, den 25. August 1893.

Nun sind wir schon einen Monat auf unserer Reise und ein Telegramm ist das einzige Lebenszeichen, das wir von Euch Lieben erhielten! Morgen hoffe ich am Niagara-Falle ein zweites Telegramm mit guten Nachrichten zu finden. Alles ist schön, dass wir aber so von allem, was uns lieb und teuer ist, getrennt sind, wird uns doch sehr schwer und unsere Gedanken fliegen recht oft über den Ozean!

Gestern ist es uns zum ersten Male ein bisschen schiefgegangen. Wir fuhren Vormittags in zwei Stunden von Montreal nach Cornwall, um von dort mit dem Dampfer in sechs Stunden stromabwärts über die Rapids, reißende Strömungen im Lawrence-Fluss, zu fahren. Dieser führt von allen Strömen, den Amazonenstrom ausgenommen, das meiste Wasser ins Meer, ist oft so breit, dass er selbst ein Meer zu sein scheint und wird plötzlich wieder durch zahlreiche Inseln zusammengedrängt. Die Ufer sind flach, meist bewaldet und nur selten kommen kleinere Orte zum Vorschein, auch sieht man fast gar keine Schiffe, die wegen der Rapids auf Seitenkanälen mit Schleusen ihren Weg nehmen müssen. Das Wasser macht in den Rapids, die oft einige Meilen lang sind, einen Höllenlärm, und es ist schauerlich schön, über dieselben zwischen den Klippen bergab zu dampfen.


Cornwall ist ein kleines Städtchen wie Kapuvár, hat aber Gas- und elektrische Beleuchtung, auch überall, selbst bis Montreal, telefonische Verbindung und wird sicher bald eine elektrische Bahn bekommen. Die Telefonbenutzung kostet jährlich 20 Dollars, ein elektrisches Glühlicht 65 Cents = 1 fl. 62 kr. pro Monat, die Trottoirs sind aus Pfosten, die dort sehr billig sein mögen, hergestellt. Der Holzhandel soll in Kanada, namentlich von Quebec aus, noch sehr bedeutend sein, aber große Depots habe ich nirgends wahrgenommen. Es regnete, wie ich es noch niemals regnen sah, als wir um 1 Uhr von dem ziemlich großen Dampfer aufgenommen wurden, er war vollgestopft von Damen und Herren, die über die Rapids fahren wollten. Die ersten wurden glücklich überwunden, dann trat aber ein solcher Nebel ein, dass der Lotse, ein alter Indianer, erklärte, vor Tagesanbruch nicht weiter fahren zu können, bei der nächsten Station blieben wir denn auch, statt um 6 Uhr nach Montreal zu kommen, vor Anker liegen. Als der Kapitän dies laut verkündete, fügte er hinzu, dass er zuerst die Damen und dann die Herren zum Souper einlade und für Unterkunft, d. h. Schlafstellen tunlichst sorgen wolle. Und wahrlich, wir standen, was wir sehr befürchtetet hatten, nicht hungrig von dem gastlichen Tische auf. Meine Damen bekamen eine Kabine, auch ich in Gemeinschaft mit einem wildfremden Herrn. Als wir uns in dem halbdunklen Loche gegenseitig Komplimente machten, wer unten, wer oben schlafen solle, bemerkten wir zu unserem Schrecken, dass oben schon ein Gast von unserer Schlafstelle Besitz ergriffen hatte, und mussten uns nun das untere Bett teilen! Wie ich auf dem Lawrence-Strom geschlafen, könnt Ihr Euch denken, aber auch diese Nacht ging vorüber, es folgte das herrlichste Wetter, um 5 Uhr wurden die Anker gelichtet und um 8 Uhr kamen wir glücklich über alle Rapids nach Montreal, um sofort in zehn Stunden mit dem Schnellzuge nach Toronto am Ontario-See zu fahren. Meinen Ladies war es nicht viel besser ergangen, ihre Kabine lag unmittelbar neben dem Salon, in welchem die Jugend die ganze Nacht sang, so dass an Schlaf nicht zu denken war.

Der Lawrence-Strom ist in der Verkehrswelt noch eine Hauptrolle zuspielen berufen. Er bildet bekanntermaßen eine Fortsetzung der Wasserstraßen auf den großen kanadischen Seen und eine Verbindung derselben mit dem offenen Meere. Die Entfernung von Duluth am oberen See bis ins Meer bei Belle Isle beträgt 2.384 englische Meilen (4.000 Kilometer), d. h. zwei Drittel der Entfernung zwischen Amerika und Europa. Was für ein Weltverkehrsweg wird geschaffen werden, wenn man jene Wasserstraße so reguliert, dass sämtliche Ozeanschiffe von Montreal bis Duluth, von Europa bis in das Herz von Nordamerika fahren können! Bis jetzt gehen dieselben bis Montreal auf dem Lawrence-Strom und nehmen dort die von den kanadischen Seen kommenden Frachten auf. Die Schifffahrtsverhältnisse auf dieser Wasserstraße sind folgende. Dieselbe beginnt bei Duluth am westlichen Ende des oberen Sees, welcher 20 Fuß höher als der Michigan- und Huron-See liegt. Die Verbindung ist durch eine Schleuse bei Sault St. Marie hergestellt, die 1855 erbaut, 1881 verlängert und gegenwärtig auf 800 Fuß Länge, 100 Fuß Sohlenbreite und 21 Fuß Wassertiefe gebracht wird, so dass die größten Seeschiffe darin Platz finden werden. Der Huron-See liegt zwar 8 Fuß höher als der Erie-See, aber die Verbindung erfordert keine Schleusen, so ist ein direkter Wasserweg von 1.000 englischen Meilen (1.610 Kilometer) zwischen Duluth und Buffalo für die größten Schiffe geschaffen. Von Buffalo gibt es nun zwei Wasserstraßen, die eine auf dem Erie-Kanal, die andere durch den Ontario-See und Lawrence -Strom. Der Erie-Kanal verbindet Buffalo mit Albany am Hudson-Fluss und dadurch mit New-York. Er ist 530 Kilometer lang, hat eine Sohlenbreite von 56 Fuß, eine Wassertiefe von 7 Fuß und muss 72 Schleusen überwinden. Die Kanalboote auf demselben tragen 200 Tonnen und werden mit Pferden in einer Geschwindigkeit von 4 englischen Meilen pro Stunde gezogen. In Buffalo muss daher mit Hilfe von 34 Riesenelevatoren eine Umladung erfolgen. Um zu zeigen, um welchen Massentransport es sich hierbei handelt, erwähnen wir, dass 1890

9 Millionen Tonnen Erze
5 Millionen Tonnen Getreide und Mehl
8 Millionen Tonnen Holz
8 Millionen Tonnen Kohle
4 Millionen Tonnen Diverse

zusammen 34 Millionen Tonnen Güter von Duluth bis Buffalo mit 4.000 Schiffen und zu einem Frachtsatze von 30 Cents pro Tonne verfrachtet wurden, während den Suez-Kanal nur 7 Millionen Tonnen passierten. Da der Verkehr auf den Seen, der von Duluth ja nicht allein nach Buffalo, sondern auch auf dem Michigan-See nach Milwaukee und Chicago, auf dem Erie-See nach Detroit und Cleveland und von Chicago nach Buffalo geht von Jahr zu Jahr zunimmt; so baut man gegenwärtig Dampfer mit 6.000 Tonnen Tragfähigkeit, die von Duluth Buffalo in drei Tagen erreichen können, mithin beinahe so schnell wie die Personendampfer zwischen Amerika und Europa gehen.

Die zweite Wasserstraße von Buffalo ins Meer geht durch den Ontario-See und Lawrence-Strom. Der Erie-See ist 326 Fuß höher als der Ontario-See, zwischen beiden liegt eben der Niagara-Wasserfall. Dieser kolossale Höhenunterschied ist durch einen 26 englische Meilen (42 Kilometer) langen Kanal, den Welland-Kanal überwunden. Derselbe hatte ursprünglich nur 10 Fuß Wassertiefe und trug Schiffe bis 600 Tonnen, also dreimal so viel als der Erie-Kanal, 1881 hat man aber einen zweiten Welland-Kanal von gleicher Länge mit einer Sohlenbreite von 100 Fuß mit 25 Schleusen von 270 Fuß Länge erbaut. Der Wasserstand dieses neuen Kanales ist aber erst 13 Fuß hoch, also noch nicht genügend tief, um die größten Seeschiffe, welche mindestens 17 Fuß erfordern, tragen zu können. Vom Welland-Kanal geht die Wasserstraße durch den Ontario-See in den Lawrence-Strom. Oberhalb Montreal sind die von uns durchfahrenen Rapids, Stromschnellen, die durch den 50 Kilometer langen Cornwall-Kanal, und wenn wir nicht irren, noch durch einen zweiten Kanal umgangen sind, die ebenfalls noch keine genügenden Dimensionen für den Meeresverkehr besitzen. Es wird aber die Zeit kommen, in der durch amerikanische Tatkraft auch diese Anstände behoben werden, die größten europäischen Seeschiffe vor den Häfen von Chicago und Duluth erscheinen und den amerikanischen Weizen auf 6.000 Meilen Seewege zu einem Spottfrachtsatze nach Liverpool oder in den Rhein hinein verführen, werden vielleicht nicht teurer als wir von Kapuvár in die Schweiz bezahlen müssen.

Die Tour nach Toronto bot wenig Interessantes, verschiedene kleine nette Städte, sonst aber Farm an Farm mit ihren bescheidenen Gebäuden, schlechten Haferfeldern, mageren Kühen, halb verfaulten und in der Rodung begriffenen Waldparzellen.