An Bord eines Auswandererschiffes. (Siehe das Bild auf Seite 560.)

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1895
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Auswanderer, Auswandererschiff, Europa, Nordamerika,
An Bord eines jener gewaltigen Dampfer, die heutzutage den Verkehr zwischen Europa und Nordamerika vermitteln und die mit ihrer Besatzung von 120 bis 200 Mann und einer Passagieranzahl von oft 1000 und mehr Personen schwimmenden Städten gleichen, gibt es für den denkenden Menschen viel zu beobachten. Nicht der Riesenbau des Schiffes, der Luxus seiner Einrichtung, die vollendete Technik seiner Maschinen ist es, was den Beobachter am meisten fesselt, sondern das Leben und Treiben der Fahrgäste. Zwar die Passagiere der ersten Kajüte bieten nicht gar viel Interessantes. Sie kleiden sich nach der neuesten Mode, speisen luxuriös im großen Salon — die Hauptbeschäftigung während der ganzen Reise — spielen oder plaudern auf dem Hinterdeck, singen, musizieren, kurz, bieten das Bild der stets etwas gleichförmigen, international gefärbten Gesellschaft wohlhabender Leute in einem Gasthofe ersten Ranges.

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Aber die Zwischendeckspassagiere! Welcher Gegensatz! Und welche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, der Nationalität, der Stände, Charaktere, Trachten, der Stimmung und des Benehmens. Drüben die Vergnügungs- oder Geschäftsreisenden — hier die Auswanderer, die mit den Trümmern ihrer Habe oder selbst ganz ohne solche den Boden des Vaterlandes verlassen, um drüben unter veränderten und in vielen Stücken ungünstigeren Verhältnissen den Kampf ums Dasein aufs Neue aufzunehmen. Wegen der Enge des Raumes unten im Zwischendeck, der schlechten Luft, des Mangels jeder Bequemlichkeit, halten sich die Auswanderer, sobald es das Wetter irgend gestattet, auf dem Vorderdeck des Schiffes auf, wo sie sich bis zur Kommandobrücke frei ergehen können. Da liegen, stehen und gehen sie herum, schlafen, essen, trinken, spielen Karten, träumen, sinnen nach, rauchen — Jeder lässt sich in seiner Weise frei gehen. Jeder sucht mit den Unannehmlichkeiten der Reise, dem nagenden Kummer des Innern, den Gedanken an die Vergangenheit, die Hoffnung oder Sorge für die Zukunft in seiner Weise fertig zu werden, so gut er kann. Und auf all' den Gesichtern der meist einfachen Leute, die nicht, wie die Kajütpassagiere, gelernt haben, sich völlig zu beherrschen und ihr Inneres zu verbergen, steht mehr oder minder deutlich geschrieben, was sie bewegt. Das macht hier die Beobachtung so interessant, und der warmherzige Menschenfreund wird hier auch reichlich Gelegenheit finden, zu raten, zu trösten, zu helfen. Unser Bild auf S. 560 zeigt uns einen Teil des Decks eines solchen Auswandererschiffes, während das einfache Abendbrot verteilt wird, das sich Jeder, der nicht unter Deck essen will, in seinem Blechnapfe selbst zu holen hat.

An Bord eines Auswandererschiffes

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