Amerika, wie es ist: Ein Buch für Kunde der neuen Welt.

Autor: Max Wiegandt, Erscheinungsjahr: 1854
Themenbereiche
Vorwort

Hier wohnt das Geschlecht, welches
keine Vergangenheit, keine Trümmer
kennt! Neue Welt, Welt der Freude! Der
Ocean umspielt sie, der Morqenthau
benetzt ihre Stirn – Alles ist für sie
Frische, Hoffnung, Zukunft! –

H. Mellville.

Die „neue“ Welt ist ein Phänomen, groß und großartig zugleich, in seinem Ursprünge und Wachsthume, in seiner Entwickelung und Fortbildung, wie es die Weltgeschichte zum erstenmale bildet. „Alles schon da gewesen!“, sagt der Rabbi Ben Atibai aber Amerika straft die Worte des alten Juden Lügen. Die Blicke Europa's, die Blicke der ganzen Welt sind seit lange dem Welttheile diesseits des Oceans zugewandt. Eine „neue Welt“ im buchstäblichen Sinne des Wortes bildet sich hier, die, wenn auch noch jung, aber in rastlosem Vorwärtsschritte, in vielen Bezügen, namentlich in allen praktischen Richtungen bereits die alte Welt überflügelt hat. Nach Amerika sind die Blicke der alten Welt gerichtet; das Interesse für unseren Welttheil ist im Laufe der Zeit fortwährend gestiegen und noch stets in größerer Steigerung begriffen!, seit Millionen Bewohner Europa's hergezogen, Heerd und Heimath verlassend, und in zu erwartender, andauernder Auswanderung noch Millionen folgen werden; denn der Strom der Auswanderer fluthet noch immer fort, Heimathmüde ziehen die Schaaren der alten Welt über das Weltmeer, Jung und Alt, Vornehm und Gering, Reich und Arm, aus allen Ländern, aus allen Klassen der Bevölkerung, an den Küsten Amerika's landend, dessen Kultur und Organisation neben der beispiellos wachsenden Volkszahl in einem, der Weltgeschichte bisher fremden Aufschwünge unaufhaltsam fortschreiten. Nach Irland stellt Deutschland das an Zahl stärkste Auswanderungscontingent; deshalb wachsen die Bezüge und Interessen Deutschlands zu Amerika, und deshalb erscheint die Veröffentlichung von Mitth eilungen, wie ich sie beabsichtige und hiermit beginne, für eine deutsche Lectüre aus der Zeit. Was Erfindung und Handel, was Industrie und Verkehr, was Gewerbfleiß und Ausdauer, was Speculation und Thatkraft Großes und Großartiges zu erzeugen, was persönliche Freiheit unter dem gesetzlichen Schutze politischer Freiheit und Verfassung zu schaffen, was vollste Geistes-, Glaubens- und Gewissensfreiheit in’s Leben zu rufen vermögen, das gestaltet sich hier im Lande sonder Hemm- und Hindernisse, Der erfinderische Menschengeist hat die alte und neue Welt im Laufe weniger Jahrzehende in schon unglaubliche Nähe gerückt. Die großen Entfernungen sind verschwunden; innerhalb zehn Tagen fliegt der Dampfer von der Ostküste Amerika's zur Westküste Europa's hinüber. Im Lande selbst wird der Verkehr durch zahllose Eisenbahnen, Kanäle und Straßen unterhalten. Aus den fernsten Ansiedelungen und Farmen kommen bereits die Erzeugnisse der Landwirthschaft nach den Märkten der großen See- und Binnenstädte des Landes und von hier nach Europa. Die dichten Urwälder lichten sich; der brachliegende Boden verwandelt sich zu urbarem Acker; wie hervorgezaubert aus der Erde erhebt sich Stadt an Stadt, eine größer und volkreicher als die andere. Das Handwerk hat hier goldenen Boden; alle Unternehmungen der Industrie erfreuen sich der glänzendsten Resultate, und Kunst und Wissenschaft beeifern sich im Fortschritte, Schon zählen die Vereinigten Staaten Nordamerika's ein Halbtausend Schriftstellernamen. Wozu die alte Welt Jahrhunderte bedurfte, das fördern in der neuen Welt Jahrzehende zu Tage. Aber man träume nicht von – paradiesischen Zuständen der Neuwelt; auch sie hat ihre schwarzen Schattenseiten! Das soll sich am deutlichsten ans meinen nachfolgenden Schilderungen ergeben, die ein getreues Spiegelbild des amerikanischen Landes und Lebens bringen.

Amerika ist ihr alleiniger Gegenstand, wie es ist, wie es sich gestaltet in wundersam wechselnden Metamorphosen, Was ein durch alle Zonen in unermeßlicher Ausdehnung sich erstreckendes Land, rings von Meeren umgeben und von Riesenströmen durchschnitten, was ein ergiebiger Boden, was jede Bestrebung fördernde Verfassungen, was eines Volkes Ausdauer und Arbeitstrieb zu schaffen vermögen, das tritt hier in beispielloser, noch nie dagewesener Weise uns entgegen. Der Schatz der Jahrtausend alten Errungenschaften und Erfahrungen der alten Welt ist das Fundament, worauf der Bau der neuen Welt aufgerichtet ist. Durch ihre Abstammung von Bewohnern des aufgeklärtesten und vorgeschrittensten Theiles Europa's haben die Colonieen Amerika's alle Erfindungen, Kenntnisse und Verbesserungen aus dem Mutterlaude gleichsam als Mitgift und Erbtheil mit herübergenommen, und eigene Einsicht und Energie thun das Uebrige zur stets weiteren, kräftigeren Entwickelung. Groß durch Arbeit ist Amerika geworden, gesteigert durch die Freiheit der Arbeit, fern von Einschränkungen, Privilegien und Monopolen, und siegreich schlägt diese praktische Erfahrung alle entgegenstehenden Theoreme der Vorzeit und Gegenwart zu Boden. Möge die neue Welt die Lehrmeisterin der alten Welt hierin werden! Der Drang nach Freiheit, .nach Geistes-, Glaubens- und Gewissensfreiheit zunächst war es, der die ersten Auswanderungen aus Europa in's Leben rief m Folge des bort in den vorigen Jahrhunderten herrschenden Drucks, und den neuen Welttheil so schnell und so gewichtig in die Geschichte der Menschheit einführte. Mitglieder von Religionsgesellschaften, welche gedrückt und verfolgt wurden wegen ihrer Lehren und Ueberzeugungen waren die Ersten, die sich den Wogen des Oceans anvertrauten, ihre Heimath verlassend, sich ein neues Vaterland suchten an den Küsten und im Innern des neu entdeckten Welttheils und einen neuen Heerd daselbst gründeten. Der Drang nach politischer Unabhängigkeit und staatsbürgerlicher Freiheit schuf darauf nach hartnäckigem, blutigem Kampfe gegen geübte überlegene Kriegsmacht aus den vom Mutterlande und seiner Verfassung abhängigen Colonieen freie, selbstständige Staaten. Mit der Erkämpfung der Unabhängigkeit trat neben der Freiheit der Arbeit die staatliche Freiheit; durch Beider Bereinigung ward die Union, was sie jetzt ist. –

Der Hauptgrund der Größe eines Volks ist sein Charakter; das lehrt vorzugsweise die Bevölkerung der Union. Es war der thätigste und energischste Theil der angelsächsischen Bevölkerung Englands, der Nordamerika colonisirte; der Angelsachse arbeitet eifrig und regelmäßig mit kaltbesonnener, nie ermüdender Thätigkeit. Die schweren Arbeiten , denen er sich in der Heimath hatte unterziehen müssen und die unaufhörlichen Gefahren, denen er seit seiner Ansiedlung in der neuen Welt fortwährend ausgesetzt war, trugen besonders zur Entwicklung seiner natürlichen Fähigkeiten bei. Stark, kräftig, einsichtsvoll, mit Kühnheit und Energie ausgerüstet, ist der Nachkomme jenes Ansiedlers, ein unvergleichlicher Arbeiter; keine Schwierigkeit schreckt ihn ab, er überwindet sie; kein Hinderniß hält ihn ab, er übersteigt es. Als klarer, praktischer Geist verfolgt er unwandelbar sein Ziel durch die einfachsten Mittel und auf dem kürzestem Wege. Als unternehmender Charakter unterläßt er nicht, jeden Weg zu erforschen, jede Erfahrung zu machen und jedes Verfahren anzuwenden; Kühnheit und Geschicklichkeit verbindend schreitet er sonder Zaudern an's Werk und führt es glücklich an's Ende, indem er mit tausend Hindernissen spielt. Geduldig und entschlossen schreckt ihn nichts ab, hält ihn nichts auf. Ein Mann der That ist er immer auf der Bresche; „sein Leben ist ein Kampf,“ Kaum kennt er Erholungen, er verläßt seine Privatgeschäfte nur, um sich mit Staatsangelegenheiten zu beschäftigen. Vom Morgen bis Abend in steter Thätigteit hat die Arbeit für ihn ein bestimmtes Ziel, Alles dieses adoptirt der Einwanderer von dem Nachkommen des Ansiedlers; er muß es, will er nicht weit hinter ihm zurückbleiben. Daß er sein Ziel erreicht, liegt in den politischen Verhältnissen des Landes, welches er sich zum neuen Vaterlande ausersehen hat.