Am Ramadanfest in Tunis.
Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1904
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Tunis, Orient, Tunesien, Fastenmonat, Ramadan, Medina, Kasba,
Wer einen Blick in den Orient tun will, hat es heute leicht, er braucht nicht einmal mehr bis Konstantinopel oder Kairo zu reisen, denn von Neapel aus bringt ihn eine kurze Dampferfahrt von nur 24 Stunden nach Tunis, der Hauptstadt der bekanntlich unter französischer Oberherrschaft stehenden Regentschaft Tunesien. Die meisten unserer Italienfahrer benutzen auch die ihnen gebotene günstige Gelegenheit, um durch einen Ausflug nach Nordafrika ihrer Reise nach dem sonnigen Süden einen effektvollen Abschluss zu geben.
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Am Hafen in Tunis breitet sich das ganz moderne europäische Viertel mit seinen internationalen Gasthöfen aus, man ist dort vollständig von abendländischer Zivilisation umgeben, aber eine nur kurze Wanderung bringt den Fremden in die Altstadt, die Medina, die amphitheatralisch zur Zitadelle, der Kasba, aufsteigt, und in die Vorstädte Bab-Suika und Bab-Dschasira, wo ganz orientalisches Leben sich entfaltet und in den Bazaren und auf den freien Plätzen ein buntes Völkergemisch von farbigen Leuten aller Art seinem Auge sich darbietet. Araber, Kabylen, Mauren, Beduinen, Marokkaner, Ägypter, Schwarze und Oasenbewohner aus der Sahara in ihren verschiedenen Trachten kann man dort täglich sehen. Ein besonderer Sammelplatz der Eingeborenen ist der Halfaouineplatz, ein offener Markt in Bab-Suika, der nördlichen Vorstadt, der von der Moschee Saheb-al-Tabatsch, mehreren arabischen Kaffeehäusern und dem Palast des Kasnadar begrenzt wird. Wer das Glück hat, gar im Fastenmonat Ramadan nach Tunis zu kommen, wird dort unvergessliche orientalische Bilder in sich aufnehmen. Im Ramadan dürfen die gläubigen Mohammedaner zwischen Sonnenaufgang und -untergang weder Speise noch Trank berühren, und sie halten dies Fastengebot tatsächlich mit äußerster Strenge ein, indem sie den Tag nach Möglichkeit verschlafen und sich für die ertragenen Entbehrungen während der Nächte entschädigen, die mit Schmausereien und Lustbarkeiten aller Art hingebracht werden. Sobald in Tunis im Ramadan von der Kasba der Kanonenschuss fällt, der den Untergang der Sonne verkündet, entwickelt sich auf dem Halfaouineplatz ein tolles Fastnachtstreiben, denn er ist der Hauptplatz der Festfreude für das Volk. An gewissen Tagen führen auch die Derwischorden unter dem Schwingen der heiligen Fahnen mit dem Halbmond und einer wilden Musik ihre religiösen Tänze auf, denen stets eine begeisterte Menge andachtsvoll zuschaut.