3. Die Wichtigkeit und Bedeutung der Sprichwörter.

Wenn es noch eines Beweises für die hohe Wichtigkeit und Bedeutung der Sprichwörter bedürfte, so wäre er schon in der Tatsache gegeben, dass die Weisesten aller Zeiten sich mit denselben beschäftigt haben. Es genügt, auf die Sprichwörter Salomons, des Buches Ecclesiastes und in den verschiedenen Teilen des neuen Testaments der heiligen Schrift, auf Socrates, Plato, Aristoteles, Aristides, Cleantes, Clearchus, Chrysipus, Diogenianus, Hesychius, Plutarchus, Suidas, Theophrastus, Theognis, Zenobius und viele Andere, auf die Schriften der Kirchenvater, auf das große Werk der Chiliaden des Erasmus von Roterdam, und auf die zahlreichen anderen Schriftsteller der späteren Zeiten bei den verschiedenen Völkem, die im zweiten, die Literatur der Sprichwörter bringenden Teile gegenwärtigen Werkes selbst besprochen werden, in dieser Beziehung hinzuweisen. Ja der Welterlöser, Jesus Christus selbst, hat es nicht verschmäht, seine Heilslehren häufig im Gewande von Sprichwörtern und Gleichnissen zu verkünden, was Erasmus zu dem Ausspruche veranlasst:

Quis non etiam veneretur (proverbia), ut rem quampiam sacram et mysteriis accomodatam, cum ubique nobis imitandus Christus ipse peculiariter hoc sermonis genere delectatus fuisse yideatur? (Deutsch: Wer sollte nicht die Sprichwörter als etwas heiliges und den Mysterien anpassendes hochstellen, da doch Christus selbst, welchen wir in allen Stücken nachzuahmen haben, an dieser Redeweise ein besonderes Wohlgefallen gehabt zu haben scheint?)


Die Sprichwörter sind ein Teil der Culturgeschichte der Völker und zugleich der Schlüssel zum Studium, zur Kenntnis derselben. Wer die Sprichwörter eines Volkes nicht kennt, der kennt weder dieses und seine Sprache, noch dessen Geist und Charakter, denn die Sprichwörter sind das getreueste Abbild desselben, sie sind so zu sagen das Volk selbst, das sich in denselben abmalt. Das Studium und die Kenntnis derselben ist also unerlässlich. Wenn dieser thatsächlichen Wahrheit nicht immer und überall Rechnung getragen und bei den Sprachstudien die gebührende Würdigung zu Teil wird, so ist dies sehr zu bedauern. Die daraus erwachsenden nachteiligen Folgen liegen auf der Hand, und bedürfen keiner weiteren Auseinandersetzung.

Der Italiener Tommaseo sagt:

„Se tutti se potessero raccogliere e sotto certi capi ordinare i Proverbi italiani, i Proverbi d’ogni popolo, d’ogni età, colle varianti di voci, d’imagini e di concetti, questo, dopo la Biblia, sarebbe il libro più gravido di pensieri.” (Zu deutsch: „Wenn man alle italienischen Sprichwörter, die Sprichwörter jedes Volkes; jedes Zeitalters, mit den Verschiedenheiten in Worten, Bildern and Ideen sammeln and unter gewisse Kapitel ordnen könnte, so wäre dies, nach der Bibel, das gedankenreichste Buch.“)

Der Engländer Richard Chenevix Trench sagt in seiner vortreffIichen Schrift „On lessons in Proverbs“ (siehe meinen Literaturband über denselben und diese Schrift) „Über Lehren in Sprichwörtern“:

„Die Thatsache, dass sie (die Sprichwörter) dem Volke gefallen und Jahrhunderte lang gefallen haben, — dass sie ein so kräftiges Lebensprinzip besitzen, dass sie ihren Platz behauptet haben, immer neu und immer jung, durch all’ die Jahrhunderte des Daseins einer Nation — ja, dass viele derselben nicht blos einer Nation allein, sondern vielen gefallen haben, so dass sie in den verschiedensten Ländern heimisch wurden, — und ferner, dass nicht wenige von ihnen aus dem entferntesten Alterthum auf uns herabgekommen sind, wohlbehalten getragen auf den Wassern jenes großen Stromes der Zeit, der so viel unter seinen Wellen verschlungen hat, — all das mag uns wohl veranlassen inne zu halten, wenn wir uns versucht fühlen sollten, uns mit Gleichgültigkeit oder Missachtung von denselben abzuwenden.“

Der oben schon erwähnte griechische Philosoph Aristoteles verfasste eine Sammlung von Sprichwörtern und gilt als erster Sammler solcher. Shakespeare hat mehreren seiner Stücke volkstümliche Sprichwörter zu Titeln gegeben (wie „Measure for measure“ (Mass für Mass) und „All’s well that ends well“ (Ende gut, Alles gut). Cervantes lässt in seinem „Don Quixote“ seinen getreuen Schildknappen Sancho häufig kaum den Mund öffnen, ohne dass demselben fast ebenso viele Sprichwörter als Worte entströmen. Der Römer Plautus, die Franzosen Rabelais und Montaigne, der Engländer Fuller, den Coleridge den geistreichsten der Schriftsteller nennt, alle diese machen den umfassendsten Gebrauch von Sprichwörtern.

Der alte Römer Quintilian (Institutiones 5, 11, 41) sagt von den Sprichwörtern:

„Neque enim durassent haec in aeternum, nisi vera omnibus viderentur.“ (Und sie wurden nicht von ewiger Dauer gewesen sein, wenn sie nicht Allen als wahr erschienen.)

Cervantes legt dem „Don Quixote“ die Worte in den Mund:

„Parece me, Sancho, que no ay refrán que no sea verdadéro, porque todas son sentencias sacadas de la misma experiencia, madre de las ciencias todas.“ („Es scheint mir, Sancho, dass es kein Sprichwort gibt, das nicht wahr wäre, weil alle Aussprüche (Urtheile) sind, die der Erfahrung selbst, der Mutter aller Wissenschaften, entnommen sind.“)

Und aus einem alten englischen Dichter führt Trench die folgenden Verse zum Preis der Sprichwörter an:

„The people’s yoice the voice of God we call;
And what are proverbs but the people’s voice?
Coined first, and current made by public choice
Then sure they must have weight and truth withal.“

(Des Volkes Stimme nennen wir Gottes Stimme,
Und was sind Sprichwörter andres als des Volkes Stimme?
Gemacht zuerst und durch Volkes Wahl in Umlauf gesetzt
Müssen sie daher sicherlich Gewicht und Wahrheit dazu haben.)

Was nun die „Wahrheit“ der Sprichwörter betriflfl, welche die drei hier angeführten Autoren betonen, so ist diese nicht im absoluten, sondern im relativen Sinne zu nehmen. Ein Sprichwort kann absolut genommen einen der Wahrheit geradeweg zuwiderlaufenden Aussprueh thun und relativ doch wahr sein. Wenn z. B. viele italienische Sprichwörter das Gefühl der Rache und die Befriedigung derselben preisen, so sprechen sie damit etwas vom Gesichtspunkte der Moral durchaus Falsches, Verwerfliches aus; aber insoferne sie damit die Sinnesart und Denkweise des italienischen Volkes aussprechen, sind sie doch vollkommen wahr, sie zeichnen genau den Charakter des italienischen Volkes. Es geht daraus hervor, welch’ hohe Bedeutung die Sprichwörter für die Beurteilung der Sinnes- und Denkart eines Volkes, seiner Gefühlsrichtung und seines ganzen Charakters haben und wie wahr der Satz ist, dass die Sprichwörter eines Volkes das getreueste Abbild desselben sind.

Die Sprichwörter sind nicht die Erzeugnisse der Bücherwürmer oder der Mitternachtlampe. Sie waren da vor den Büchern, sie kamen — wie der Engländer Long sagt — aus den großen Büchern der Natur und des gesunden Menschenverstandes, aus der nicht durch Bücherkram abgestumpften Beobachtung and fanden daher auch allgemeines Verständnis in der Masse des Volkes. Daher haben auch, wie der Engländer Trench bemerkt, große Kanzelredner, welche mit ihren Worten Eingang fanden in die Herzen der Volksmassen, stets von Sprichwörtern einen ausgiebigen Gebrauch gemacht.

Und den Orientalisten gegenüber bemerkt der Engländer Long:

„Sie erkennen endlich die Wahrheit an, dass Sprichwörter ebenso sehr ihre Erforschung verdienen, als Münzen und Inschriften, und dass, während diese hauptsächlich auf Könige und die oberen Klassen Bezug haben, Sprichwörter ein Licht werfen auf die verschiedenen Falten des gesellschaftlichen Lebens, auf alte Ausdrücke, Gebräuche, die Geschichte und Ethnologie. Selbst die Zenana (das Frauengemach), welche dem Fremden verschlossen ist, öffnet ihre Pforte, um uns einen forschenden Einblick thun zu lassen in die Gedanken und Gefühle des Weibes, welches im Orient dieselben in Sprichwörtern und geistreichen Sprüchen darzulegen pflegt.

Nach solchen Zeugnissen, wie die angeführten, wird jeder Versuch, die hohe Wichtigkeit und Bedeutung der Sprichwörter in Abrede stellen zu wollen, vergeblich sich erweisen.