2. Entstehung und Quellen der Sprichwörter.

Die Sprichwörter sind wie die Blumen. Wie diese sowohl von selbst ohne Pflege auf dem freien Felde, auf Wiesen und Äckern dem Boden entsprießen, als auch unter der sorgsamen Hand des Gärtners im Gartenbeete oder im Blumentopf, stets aber ihre herrliche Farbenpracht entfalten und Wohlgerüche aushauchen, so entsteht das Sprichwort in gleicher Weise im Munde des Bauern, des Weisen und des Kindes, stets das Gepräge der Frische, der Unmittelbarkeit und häufig des Witzes an sich tragend.

Einen reichen Schatz von Sprichwörtern, Maximen und Sentenzen, eine wahre Fundgrube solcher bieten vor allem die heiligen Schriften des alten und neuen Testaments, im alten besonders das Buch der Sprüche Salomons und der Ecclesiastes oder der Prediger, gleichfalls ein Werk Salomons, im neuen die heiligen Evangelien und die Briefe des heiligen Paulus. Diesen schließen sich an die Schriften der Kirchenväter und Theologen, der heilige Hieronymus, Cyprianus, Augustinus, Bemardus u. A. Dann kommen die Orakelsprüche des Heidenthums, die mitunter ebenso beißenden als witzigen Sprüche und Antworten der Weisen des Alterthums, die Dichtungen, Volksgesänge, Sinn- und Wahlsprüche des alten Rittertums, die Komiker und Fabeldichter u. s. w.


Es soll damit aber nicht gesagt sein, dass die Sprichwörter, welche uns das alte Testament in den Sprüchen Salomons und im Prediger bringt, alle als ursprünglich zu betrachten seien. Viele davon stammen ohne Zweifel aus noch älteren Quellen, rühren von den Babyloniern und Assyriern her, welche ebenfalls schon ihre Sprichwörter gehabt haben.

Der gütigen Mittheilung des gelehrten Orientalisten und insbesondere Assyriologen Hrn. Dr. Fritz Hommel, Sekretair an der Münchener kgl. Hof- und Staatsbibliothek, verdanke ich das folgende altbabylonische (sumerische) Sprichwort, welches aus der Zeit von 2 — 3000 Jahren vor der christlichen Zeitrechnung stammt und in Keilschrifttext in II. Rawlinson 16, 14— 17cd, d. i. Tafel 16 des großen englischen Inschriftenwerks,
Zeile 14— 17cd, sich findet.

Deutsch

Da gingst, du nahmst
das Feld des Feinds;
es ging, es nahm
dein Feld der Feind.

Es drückt in feinster Form dasselbe aus wie unser deutsches Sprichwort: „Wie Du mir, so ich Dir.“*)

Bei diesen aus dem Altertum auf uns gekommenen Sprichwörtern läßt sich mitunter auch der Ursprung der einzelnen Sprichwörter, die Art und Weise und die begleitenden Umstände, so wie die Zeit ihrer Entstehung, wenigstens bis zu einem gewissen Grade erkennen. Bei den aus späterer Zeit herrührenden ist die Frage ihrer Entstehung meist eine schwer zu lösende. Die Forschung darnach liefert in der Regel unsichere Ergebnisse. Wo einigermasscn sichere Anhaltspunkte dartiber yorliegen, babe ich dieselben angegeben. Noch viel schwieriger aber ist die Beantwortung der andern Frage, welchem Volke die Priorität der Entstehung und Anwendung dieses oder jenes Sprichworts zukomme. Denn nachdem Vorausgeführten liegt ja die Möglichkeit vor, dass es bei einer größeren oder geringeren Anzahl von Völkern gleichzeitig entstand.

*) Nebenbei gesagt, dürfte es von Interesse sein, die Hauptvertreter der Assyriologie —
speziell Sumeristen — in den Hauptculturländern Europas hier hervorzuheben. Es sind gegenwärtig:

1. in Deutschland: die HH. a) Eberhard Schrader in Berlin, b) Friedrich Delitzsch in Leipzig, c) Fritz Hommel in München, und d) Paul Haupt in Göttingen;

2. in Frankreich: die HH. a) François Lenormant, b) Jules Oppert, c) Joachim Ménant, and d) Stanislav Guyard, sämtliche zu Paris;

3. in England: die HH. a) Rawlinson zu London, b) Sayce zu Oxford und c) Pinches zu London.