1. Von den Sprichwörtern im Allgemeinen.

Die Sprichwörter sind in kurze Sätze zusammengefasste Wahrheiten, die durch lange und oft wiederholte Wahrnehmungen, durch Beobachtnng der Erscheinungen, des Ganges und der Entwickelung der Dinge im physischen wie im intellectuellen und moralischen Leben, also durch die Erfahrung festgestellt und allgemein anerkannt sind. Daher auch das Sprichwort: Sprichwort — Wahrwort. Sie sind also in der Natur der Dinge begründet. Da aber die Grundbedingungen der Existenz und der Bewegung des Menschen in der Welt, dessen Bedürfnisse, das Streben, diese Bedürfnisse zu befriedigen, der Kampf, den er zu dieser Befriedigung mit physischen und moralischen Hindemissen zu bestehen hat, die Triebe und Leidenschaften, welche die Hebel seines Thuns und Lassens sind, allen Menschen bei allen Völkern gemeinsam sind, so sind begreiflicher Weise auch bei allen Völkern gewisse Wahrnehmungen und Erfahrungen und die daraus hervorgehenden Lehren die gleichen. Es kann daher nicht Wunder nehmen, dass eine große Zahl der so festgestellten Wahrheiten auch bei allen Völkern die nämlichen und in Sprichwörter gefasst allen Völkern gemeinsam sind, wenn auch die Form und Fassung, die Bilder, unter welchen das nämliche Sprichwort bei den verschiedenen Völkern erscheint, nicht immer vollkommen gleich sind.

Sehr bemerkenswert ist in dieser Beziehung, was J. Long in dem Vorworte zu seinem interessanten Werke: „Eastern Proverbs and Emblems“ (S. VI) (siehe dieses Werk im 2., die Literatur der Sprichwörter behandelnden Bande meines Buches) sagt:


„Die in diesem Buch ausgewählten Sprichwörter, obgleich sie sich nur auf diejenigen beschränken, welche zur Beleuchtung moralischer und religiöser Themata dienen, zeigen, wie weit von einander entfernte Nationen unter gleichen Umständen zu gleichen Schlüssen gelangt sind. Viele von diesen Ähnlichkeiten entstehen aus der Identität der menschlichen Natur oder sind ein Teil des geistigen Erbgutes, welches die Menschen von der Wiege des Menschengeschlechts mitgebracht und durch darauf folgenden Verkehr unter sich vervollkommnet haben. Indem sie die seine Beobachtung und die scharfe moralische Empfindlichkeit der Massen zeigen, beweisen sie, dass Gott sich selbst nicht ohne einen Zeugen im menschlichen Herzen gelassen hat. Sie bilden daber eine Grundlage für Diejenigen, welche an Überbrückung der Kluft zwischen dem Denken des Ostens und des Westens arbeiten.“

Aber der Gang und die Entwickelung der Dinge im physischen, intellectuellen und moralischen Leben der Menschen und ganzer Volker sind anch verschieden, weil sie bedingt sind durch äußere Einflüsse von mancherlei Art. Der Mensch ist wie die Pflanze das Erzeugniss des Bodens, dem er entsprossen, des Elima’s, unter welchem er aufgewachsen, des physischen, intellectuellen und moralischen Culturstandes seiner Heimath. Je nach diesen sind auch seine Sitten, seine Lebensweise, seine physischen und moralischen Bedürfnisse verschieden. Der warmblütige Südländer wird von heftigeren Trieben und Leidenschaften bewegt als der kaltblütige Bewohner des Nordens, das Sinnen und Trachten beider ist ein anderes. Jenem bietet die Natur selbst, ohne dass es besonderer Mühe und Anstrengung seinerseits bedarf, die Mittel zur leichten Befriedigung der Bedürfnisse seines physischen Daseins, während dieser nur um den Preis schwerer und mühsamer Arbeit und im Kampfe mit den feindseligen Elementen, nicht selten mit Gefährdung von Leib und Leben, ihr diese Mittel abringen muss. Wie in Brasilien und den Tropenlänndern Bäume und Pflanzen in üppigster Pracht und Größe dem fruchtbaren Boden entsprießen und die mannigfaltigsten Blüten und Früchte tragen, im hohen Norden aber nur kümmerliches Zwergholz und Flechten und Moose denselben bedecken, während in den gemäßigten Zonen die fleissige Arbeit des Menschen der Tragkraft und Ertragsfähigkeit der Natur zu Hilfe kommen muss, so sind auch die Menschen und ihre Lebensbedürfnisse die Bedingungen ihres Daseins und Fortkommens, die Wahrnehmungen, die sie dabei machen, ihre Lebensanschanungen verschieden, sie gestalten sich eigenartig und um so eigenartiger, je verschiedener ihre körperliche, geistige und moralische Entwickelung, die gesellschaftlichen Verhältnisse durch die religiösen und staatlichen Einrichtungen, durch die Gesetzgebung, durch die Pflege von Kunst und Wissenschaft sich gestalten.

Verschiedene Ursachen haben aber natürlich auch verschiedene Wirkungen zur Folge. Und diese zeigen sich auch in den Sprichwörtern der verschiedenen Völker. Viele sind aus den vorangedeuteten Gründen allen gemeinsam, viele aber auch eigenartig, nur dem einen oder dem andem zukommend.

Auch der Wechsel der politischen Geschicke der Völker ist hierauf von wesentlichem Einfluss. Ein Volk, das, wie z. B. das spanische, die Fremdherrschaft zuerst der Römer, dann der Westgothen, dann Jahrhunderte lang in einem großen Teil des Landes jene der Araber zu ertragen und durchzumachen hatte, musste natürlich auch in seiner Sprache, in seinen Lebensanschauungen, und in Folge davon auch in seinen Sprichwörtern die Wirkungen und Einflüsse dieser fremden Elemene erfahren und die Spuren derselben treten in der That auch in den spanischen Sprichwörtern vielfach zu Tage, in denen mitunter noch rein arabische Worte sich erhalten haben. Unter den romanischen und germanischen Cultur-Völkern ist das spanische wohl dasjenige, welches die größte Zahl ganz eigenartiger Sprichwörter aufzuweisen hat. Überhaupt gibt es außer den Deutschen kaum ein Volk, das einen solchen außerordentlichen Reichthum an Sprichwörtern besitzt wie die Spanier.

Auch wird man, von den alten Völkern — Ägyptern, Chinesen, Persern, dann den Hebräern und Arabern — abgesehen — , die alle eine große Zahl von Sprichwörtern aufzuweisen haben, welche überhaupt so lange bestehen, als es eine menschliche Gesellschaft gibt, — Unter den neueren vergeblich eines suchen, das schon so früh eine so reiche Literatur über die Sprichwörter und so zahlreiche Sammlungen derselben besaß wie die Spanier, die darin allen andern voraus sind. Cervantes, welcher eine so große Zahl von Sprichwörtern in seinen „Don Quixote“ aufgenommen hat, nennt dieselben ebenso kurz als treffend: kurze Sätze aus langer Erfahrung (D. Quixote, Teil I, cap. 39), und Mayans y Siscar (Origenes, I. 188 — 191 und Dialogo de las lenguas S. 12) sagt: „Ihr seht in unseren Sprichwörtern die Reinheit der castilischen Sprache,“ und S. 170: „Das reinste Castilische, das wir besitzen, sind unsere Sprichwörter.“