Harmonie - Umwelt - Linienornamentik

Der Südeuropäer leitet in seinem Bewusstsein der Harmonie mit der Umwelt seine ornamentalen Formeln ganz natürlich aus ihr ab. Blüte, Blatt und Tier liefern ihm die Themen, in deren Umformung in anderes Material, dessen Art gemäß, er die Aufgaben seiner frühen Kunst sieht. Seine eigene Welt wächst so im innigsten, ungestörten Einklänge mit der Umwelt empor, wie er sich selbst aus ihr gewachsen fühlt Ihm ist von vornherein klar, dass alles, was er schafft in der Natur sein Vorbild haben muss, dass ihm anderes zu schaffen gar nicht möglich ist. Dem nordischen Menschen ist die Natur etwas Fremdes, durch Unruhe der Mannigfaltigkeit etwas Erschreckendes und Feindseliges, dem gegenüber er einen Halt und eine Stütze suc4if, mit deren Hilfe er nicht in ihr aufzugehen braucht, sondern sich ihr gegenüber selbständig behaupten kann. Das ist aber die geometrische Linie. Hier fand der Nordeuropäer die einzige durchaus unsinnliche Form, etwas aus sich selbst scheinbar ganz Abstraktes und doch Formbares, das einzige ihm erreichbare Mittel zu einem Mutieren Ausdrucke seines erregten inneren Empfindungslebens. Alles Sinnliche hat Anfang und Ende, daher die den frühen nordischen Menschen beunruhigende Fülle der Erscheinungswelt, die Linie hat es aber an sich nicht, sie ist zeitlos und raumlos, sinnlich zunächst unfassbar, sie repräsentiert ihm zugleich symbolisch den Begriff des Unendlichen, der Ewigkeit, des über die sinnliche Erscheinung Hinauslangenden und ihr Überlegenen. Alle nordische Ornamentik ist reine Linienornamentik. Linienornamentik als Ausdruck geheimer seelischer Beziehungen, Während im Süden eine üppige und schöne Fülle ornamentaler Naturformen emporsprießt, entsinnlicht der Nordländer selbst da, wo er schließlich Pflanzen und Tiere, vor allem Tiere in seine Ornamentik mit einbezieht, diese vollständig, es sind Fantasietiere, rein lineare Ausdrücke seines seelischen Empfindens, durch die er über die umgebende Natur Herr zu werden sucht. Dieses einmal gewonnene Grundprinzip geht durch alle nordische, alle deutsche Kunst weiter und entwickelt sich von innen heraus immer vielfältiger zu einer ganz eigentümlichen Formenwelt, die vor der des Südens ganz unbedingt die viel größere Energie, Selbständigkeit und Ausdrucksgewalt bis zum Explosiven voraus hat, aber sicher auch viel einsiedlerischer, dem Fremden unverständlicher, lebensfremder bleiben musste. Zur Zeit, als in Italien und Deutschland mit reifgewordenen Mitteln an die Schaffung großer Kunst gegangen wird, stehen die beiden Ziele bereits vollkommen feindlich fest: Im Süden der Wille zur Schönheit als die vollkommenste Einbeziehung der Menschen in die Natur, im Norden der Wille zur monumentalen Erhabenheit als Ausdruck des menschlichen Innenlebens in bewusstem Gegensatze zur Natur. Das Ringen zwischen der Kunst der Renaissance und der des deutschen Mittelalters beginnt, um schließlich mit dem Siege der Renaissance zu enden und somit auch das klassische Ideal für den nordischen, ihm im Grunde der Seele aber fremden Menschen maßgeblich zu machen. Zweifellos, wir haben keine Ursache, diesen Sieg zu bedauern. Er ist vielleicht der wichtigste Faktor unserer Entwicklung geworden, hat unseren innerlichen Dualismus aufgehoben, den Deutschen aus seiner Isoliertheit in die allgemeine Kultur hinausgerissen und an ihr Teil nehmen lassen, in der er nach den Jahrhunderten schweren Ringens nun wieder obenauf sein dürfte. Wir sind keine altdeutschen Menschen, und wer die Entwickelung rückwärts zu schrauben versucht, kann sich nur lächerlich machen. Wohl ist aber jetzt die Zeit gekommen, da wir reif sind, uns zu erinnern, dass das klassische Ideal nicht unser eigenes, unser deutsches Ideal ist, dass es nur eine fremde segensreiche Hilfe zu unserer Entwickelung war, dass wir jetzt an dem Punkte angekommen sind, wo wir nicht mehr seine blinden Sklaven sein wollen und dürfen, sondern den Weg zurück zu unserer eigenen Kultur, den Zusammenhang mit der uns leider Gottes ganz abhanden gekommenen Vergangenheit unserer nationalen Kunst suchen müssen, um als neue, mit der Natur einige Menschen nunmehr diesen eigenen Weg weiter zu finden. Nur solchen Absichten kann diese Abhandlung dienen, sie möchte das Verständnis und die Freude für unser eigenstes Eigentum wieder zu erwecken. Wir müssen die einseitige Herrschaft der Ästhetik als Lehre von der Kunst überwinden und erkennen, dass sie nur die Lehre von der klassischen und klassizistischen Kunst ist. Dass aber unsere alte nationale Kunst ganz anderes Wollen, ganz andere Prinzipien hat, die eine eigene Kunstlehre fordern, deren Linien wir in diesen wenigen Seiten kurz zu umreißen versuchen.

Vielleicht ist an dieser Stelle der den eigentlichen Rahmen überschreitende Hinweis nicht ganz unsachlich, dass wir in der Gegenwart — freilich wieder mit Hilfe einer fremden Kunst, der französischen — praktisch bereits auf dem besten Wege sind, die einseitige Herrschaft der Ästhetik, der Lehre vom klassischen Schönen, gründlich zu überwinden. Womit denn auch wichtige Vorbedingungen für die Hoffnung gegeben sind, dass wir schon oder doch bald die Kunst des deutschen Mittelalters mit anderen, richtiger eingestellten Augen ansehen dürften, als solches bisher der Fall war ...


Die Antike und die Renaissance summieren die Natureindrücke und schaffen so ein übersichtlich gegliedertes Ganze, die nordeuropäische Kunst setzt die abstrakte Linie fort, verschlingt sie in sich und gewinnt ihre Eindrücke lediglich ganz und gar aus der Konstruktion. Der Parallelismus der Linien und ihre vielen mathematischen Verhältnismöglichkeiten zu einander erzeugen die Grundlagen eines neuen Kunstsystems, das auf einen aufwärts strebenden Rhythmus hinaus will und in diesem zugleich eben den Ausdruck der inneren gedrängten Leidenschaftlichkeit sucht. Eine gewisse Verwandtschaft der Tönefolgen mit den nordischen Linienfolgen fällt auf, wenn ich nicht irre, ist es Ruskin gewesen, der als erster einmal gelegentlich der Architektur von der Gotik als gefrorener Musik sprach. Und in der Tat ist es die Architektur, angesichts deren auch für das weniger geschulte Auge der prinzipielle Gegensatz zwischen dem klassischen und dem nordischen Menschen zum ersten Male ganz sinnfällig wird.

In der antiken Basilika wächst der Tempel als ein organisches Gewächs inmitten der organischen Natur aus dieser heraus. Ein Raum, der viele Menschen zu konzentrieren vermag, bleibt der einzige Grundgedanke, alles Darumherum ist sekundär, schließlich bloß Erzeugnis des ästhetischen Spieltriebs, Augen- und Sinnebefriedigung. Die Renaissance setzt das Beginnen fort, variiert es. Jed’ Ding soll organisch und im Maße seines Wertes, seiner Würdigkeit Platz haben. Es ist dem klassischen Menschen nur selbstverständlich, dass er in der heiligen Architektur gerade so wie in jeder anderen vom Prinzipe der Schwerkraft ausgehen muss. Sie ist ihm das von vornherein unumstößlich Gegebene. Die Säulen sind zum Stützen da, sie betonen diesen Zweck offensichtlich, suchen ihn durch ihre Form besonders auffällig zu machen. Das heilige Haus soll feststehen und steht fest, es ist eine verlässliche Zuflucht für die Gläubigen. —

Dem nordischen Menschen aber ist die Schwerkraft just gerade das Gemeine, Befremdende und Feindliche der Natur, durch das er seine eigene Seele gebunden, gehemmt fühlt, und das zu überwinden er eben zur abstrakten Linie geflüchtet ist. Er steht vor der schweren, scheinbar unlöslichen Aufgabe, nun in der Architektur in einem geradezu die Schwerkraft klassisch repräsentierenden Material, dem Stein, diese durch die abstrakte Linie zu überwinden. In der romanischen Baukunst kämpfen die beiden Style noch miteinander, der Wille des nordischen zeigt sich bereits, ist sich aber über seine Wege noch nicht klar, bis er schließlich in der Gotik zu seiner höchsten Blüte und restlosen Vollendung gelangt. Da die Gotik auf deutschem Boden gipfelt und ausklingt, trotz französischen Ursprungs, ist es nicht unwissenschaftlich, von ihr als dem stärksten und reinsten Ausdruck des deutschen Kunstwollens zu sprechen. Wir erleben es bei Verfolg der Geschichte nordeuropäischer Baukunst in bewunderndem Erstaunen mit, wie sich die Decken immer intensiver wölben, wie die Säulen in Form und Ausdruck immer mehr den Charakter des Stutzens verlieren, wir sehen den Spitzbogen sich wölben und den Zweck der Säule ganz beiseite setzen, bis schließlich die Gotik die ganze Form im Turm als Gipfel und Zielpunkt gewaltsam aufwärts reibt und für den inneren Sinn die Schwerkraft effektiv negiert. Die Musik der unendlichen Linie wird uns nirgends so eindringlich wie beim Betreten eines alten deutschen Domes, wo wir tatsächlich das Gefühl haben, in den grenzenlosen Raum zu treten, und überall von den scheinbar von der Schwerkraft unabhängigen, aufwärts strebenden Linien mit emporgerissen keinen anderen Weg linden als in die Unendlichkeit Gottes zu flüchten. Dieser gewaltige Eindruck dabei das Produkt einer überaus klaren mathematischen Konstruktion: Alles Stützende ist an die Außenseite des Gebäudes gelegt, um für die betende Seele nicht vorhanden zu sein.

Es dürfte ohne weiteres klar sein, dass ein derart gerichtetes Wollen und Temperament wie das nordische auch in der Malerei von den südlichen Ausdrucksmitteln grundsätzlich verschiedene Ziele sich setzen musste. Überträgt der Hellene und nach ihm der Italiener die Sprache der Natur in die Kunstsprache, fühlt er sich als deren Interpret, indem er ihren allgemeinen Gesetzen sein besonderes Menschliches hinzufügt, so erzielt er damit eine große Allgemeingültigkeit, eine nicht nur auf sein augenblickliches Vorstellungsleben, auf seine Zeit just beschränkte Typischkeit seiner Malerei. Als wertvollstes Ziel ist ihm darum von vornherein das Streben nach Raumillusion gesetzt. Alle Dinge befinden sich im Raum für das natürliche Sehen, ja. werden für dasselbe durch ihn in ihren Beziehungen und Verhältnissen zueinander bestimmt. Nun ist für das Gemälde als eine idealisierte, d. h. rhythmisch gesteigerte, in Harmonie abgewogene Natur das Problem des Raumes das in erster Reihe zu lösende. Eine Geschichte der italienischen Malerei ist bis zu einem gewissen Grade geradezu eine des Raumproblems, der Weg bis zu Tizian und den venetianischen Monumentalmalern ist gar kein anderer. Die Raumillusion im Gemälde aber verlangt als wesentlichstes Ausdrucksmittel die Farbe, da nur durch sie der Körper wirklich körperlich steht. Der Italiener ist somit dem Deutschen an sich durch sein rein malerisches Sehen voraus. Es entwickelt sich sicher und zielbewusst die Lehre von der malerischen Perspektive, nichts anderes als ein übertragen der natürlichen Gesetze auf die malerischen Mittel. Menschen und Dinge werden in ein Verhältnis zueinander gesetzt, das dem in der Natur gesehenen analog ist. Es handelt sich weniger darum, etwas auszudrücken, als alle Teile des Bildes in die vollkommenste Harmonie zueinander zu bringen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Altmeister deutscher Malerei