Die Linie, nicht die Farbe, das Ausschlaggebende und Bestimmende in der altdeutschen Malerei

Dass die Linie, nicht die Farbe, das Ausschlaggebende und Bestimmende in der altdeutschen Malerei ist, hat dazu geführt, mitunter von ihren Werken als eigentlich nur kolorierten Zeichnungen zu sprechen. Man muss mit solchen Schlagworten sehr vorsichtig sein, soviel Richtiges sie immer enthalten mögen. Raumperspektive und Körperlichkeit, ihre eigentliche Aufgaben, fand die Farbe in der altdeutschen Malerei nicht vor, ja geradezu negiert. Die Linie hatte die führende Rolle bereits übernommen und damit die zeichnerischen Probleme vor den koloristischen als primäre festgelegt. Es war nur natürlich, dass zunächst der Zusammenhang zwischen der ursprünglichen, der zeichnerischen Form und der sekundär hinzugekommenen Farbe ein loser und äußerlicher sein musste. Dass er dies nicht bleiben konnte, ergab schon die starke Schulung der Künstler, mit der sich auch der Sinn für rein farbige Probleme immer bewusster entwickeln musste. Es konnte den deutschen Malern nicht verborgen bleiben, dass — wie solches Fühlen schon in den Volksliedern auftaucht — Rot, die Farbe des Blutes, ein Gefühl der Leidenschaft im Beschauer weckt, Blau die Treue symbolisiert usw., mit anderen Worten, dass auch die Farben nicht nur Träger der Raumillusion, sondern auch in stärkster Weise solche der seelischen Gefühle zu sein vermögen. In dieser Richtung entwickelt sich langsam und bewusst die altdeutsche Farbenlehre der Malerei, bis dann schließlich, gerade als Dürer in der italienischen Kunst die Farbe als Träger der Raumillusion entdeckt und so leider bereits am Beginn des Verfalls deutscher Kunst steht, Mathias Grünewald die seelische Illusion der Farbe zum Höhenpunkt hebt und damit erst die eigentlich nationale Malerei als solche vollendet, eine Tat, die, einsam und zu spät geschehen, ohne Folgen bleibt.

Die Tendenz zur Natur der südeuropäischen Kunst führte zum Idealismus, das die Wirklichkeit Wollen der nordischen zum Naturalismus. Die Linien, welche zur Herrlichkeit des erträumten Übersinnlichen hinführen, entspringen aus einer krass naturalistischen, der ganzen nordischen Anlage nach pessimistischen Auffassung des rein tatsächlichen Lebens. Aus der Welt, mannigfaltig, voll hässlicher, wilder, sich widerstreitender Leidenschaften erfüllt, wie sie ist, strebte die gequälte Seele an der abstrakten geometrischen Linie zur reinen Heiterkeit des Übersinnlichen empor.


Das alles darf nicht dahin verstanden werden, als bemühe sich die altdeutsche Malerei um eine Erstarrung des Lebens in tote Formeln, es ist ihr vielmehr um denkbar kräftigsten, stärksten Ausdruck des Lebens zu tun. Mag ihr Wunsch immerhin auf eine Entsinnlichung der Materie, ihre Unterwerfung unter das Übersinnliche gerichtet sein, ihr Auge ist deswegen keineswegs der Mannigfaltigkeit des Lebendigen und ihren Reizungen verschlossen. Der kräftige Daseinstrieb des deutschen Menschen, seine ursprüngliche, unbesiegbare Lebenskraft mildern zum wenigsten die Schwermut seiner Weltanschauung. Mit welcher unendlichen Liebe sind doch neben der brutalen Wahrheit der Wirklichkeitsdarstellung die Kinder und ihre himmlischen Geschwister, die Engel gesehen! Wie besäen etwa die kölnischen Meister die Flur verschwenderisch mit Blüten und Gräsern! In den Ateliers werden Ateliertiere gehalten — eine Katze und ein Affe bei Dürer —, die wo nur irgend möglich mit Humor und gutem Verständnis für ihre Eigenart angebracht werden. Es ist dieselbe naive, weil infolge des übersinnlichen Prinzips unzielbewusste Lebenslust, die dann später nach dem Siege der Renaissance etwa in Altdorfer den Zusammenhang im Gemälde in überquellender Spielfreude überhaupt zerstört.

Freilich ist auch hier — keine Blume sieht in der Natur so aus wie bei einem rheinischen Meister — alles bewusste Stilisierung. Der Maler folgt den Ausdruckslinien bis zum Antlitz, ja noch mehr, er verfolgt sie bis ins Antlitz hinein. Je weiter sich die altdeutsche Malerei entwickelt, desto deutlicher tritt dies hervor. Das ganze Menschenantlitz ist nur um einiger weniger Linien willen da, in denen die Meister schließlich alles menschliche Leben, alle möglichen Freuden und Leiden konzentrieren. Ein Mund Dürers, Grünewalds oder Holbeins sagt doch wohl mit seiner einen so unglaublich variablen Linie mehr als dies irgend ein ganzes italienisches Gemälde vermag. Als Porträtist steht der Altdeutsche in jeder Beziehung in der Well voran. Diese natürliche Anlage zum rein Charakteristischen in der Malerei, bewusst zum Kunststil ausgebildet, bewirkt die „Hässlichkeit“ der Menschen in den altdeutschen Gesichtern. Ein ausdrucksvolles Gesicht ist nie schön im klassischen Sinne, heute, wo das ästhetische Ideal wieder allmählich zu verbleichen beginnt, aber lernen wir es nach seinem wahren Werte schätzen.

Es ist zu alledem gut, einmal über die ganze besondere Prägung nachzudenken, welche das Christentum sehr bald auf deutschem Boden annahm. In Italien war es eigentlich recht fremd in die antike Welt getreten, schließlich hatten sich die verschiedenen Elemente gemischt, und es entstand eine Art christlicher Klassizismus, der vom Wesen des Stifters weit entfernt war. Die deutsche religiöse Auffassung ist dem Urchristentum von vornherein wesentlich näher. Hier findet der nordische Mensch ja ganz die abstrakte Linie, an der er seine durch die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Welt beunruhigte Phantasie aufwärts ranken kann. Bald deuten ihm seine ganzen Ausdruckslinien auf den himmlischen Heiland hin. Christi Leben, Tod und Auferstehung sind ihm die Geschichte seiner eigenen Seele, eine leidenschaftlich persönliche Angelegenheit. Der südliche Mensch ehrt seinen Heiland und dessen Familie, indem er sie immer mehr verfeinert, bis sie schließlich bei Tizian zu vornehmsten Aristokraten geworden sind. Und die schöne Maria steht ihm näher wie der Heiland. Für den nordischen Maler spielt Christus von vornherein eine ganz andere Rolle, er ehrt ihn, indem er ihm und den Seinen alle Sorgen, Freuden und Kleinlichkeiten seiner eigenen bürgerlichen, handwerksmäßigen Existenz verleiht, ihn so ganz zum Sprecher seiner Seele macht. Der Heiland ist im Norden zu einem Volke gekommen, dessen Mehrheit aus armen, unterdrückten, mit Grund ewig unzufriedenen Menschen bestand, und er ist ihnen dadurch zum Erlöser geworden, dass er in Wort und Kunst als ihresgleichen zu ihnen trat genau wie damals, als er seine wundervollen Reden zum ersten Male sprach.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Altmeister deutscher Malerei