Die Lehre von diesen Dingen ist die Ästhetik

Die Lehre von diesen Dingen ist die Ästhetik, und wenn wir, die wir seit dem allgemeinen Siege des klassischen Ideales vollkommen mit ihren Augen sehen, nun vor die deutsche Malerei treten, so erfassen uns zunächst verständliches Befremden und Entsetzen. An der Stelle der schönen Einheitlichkeit begegnet uns eine leidenschaftlich bewegte Fülle, die auseinander zu fallen droht, wenigstens solange wir das verknüpfende Band nicht besitzen. Das für unser Gefühl wichtigste, die Raumillusion, ist zunächst einmal so gut wie ganz ausgeschaltet, und die ganze Tafel scheint uns von einer Menge von Fehlern und malerischen Unfähigkeiten geradezu zu wimmeln. Im Sinne der Ästhetik ist fast alles „falsch“. Erst wenn wir eine größere Anzahl altdeutscher Gemälde vergleichend betrachtet haben, beginnt sich in uns nicht ohne Zwang die Überzeugung zu entwickeln, dass sich in ihnen allen eine gleiche, wenn auch von unseren Anschauungen sehr verschiedene Gesetzlichkeit betätigt, dass diese Künstler bei ihrem überwältigenden Können sicher nicht andere Augen hatten als die Italiener und wir (tausend Einzelheiten beweisen uns das bald), sondern dass einfach ihr Wollen ein grundsätzlich anderes war und sich grundsätzlich andere Ausdrucksmittel schaffen musste und schuf. Die altdeutsche Malerei beginnt mit einem bewussten Gegensatze zur Raumillusion.

Die abstrakte, die geometrische Linie, welche wir schon durch die Ornamentik und durch die Architektur verfolgt haben, schwingt weiter, bleibt dem nordischen Menschen auch in der Malerei das ihm wesentliche künstlerische Ausdrucksmittel. Die Linie und ihre Bewegungsbahn, die Fläche. Sieht also der südliche Mensch körperlich und raumhaft, so der nordische linear und flächenhaft. Es handelt sich für ihn nicht darum, eine idealisierte Natur zu schaffen, sondern er will vielmehr die Natur überwinden, für sich überwinden, indem er trotz des sinnlichen Eindrucks und gegen ihn dessen Formen mit seinen Kunstmitteln geschaffene ähnliche gegenüberstellt. Raumillusion und Perspektive werden ausgeschaltet, daher uns denn diese alten Gemälde als „falsch“ anmuten, innerhalb der Fläche entwickelt sich alles aus Gesetzen, die einzig und allein aus der Linie abgeleitet sind. Man braucht nunmehr nur einige Bilder hintereinander zu betrachten, um jetzt zu erkennen, um eine wie strenge und bewusst weiter entwickelte Gesetzlichkeit es sich in diesem nordischen Gegenspiel zur italienischen Renaissance handelt. Von rein flächenhaftem Hintergrunde löst sich eine absolut lineare Kunstsprache, derjenigen der gotischen Architektur innerlich durchaus verwandt. Die Schwerkraft ist diesem Prinzip gemäß durchaus aufgehoben, der Körper ist zunächst recht unwichtig geworden. Man hat die seltsamen Gewandfiguren der altdeutschen Malerei damit erklären wollen, dass die Künstler Holzfiguren mit Seidenpapier drappierten und daraus ihren Faltenwurf gewannen. Das heißt eine Folge als Ursache setzen. Unser erster Blick auf ein altdeutsches Gemälde wird sofort durch das Menschenhaupt und seinen Ausdruck gefesselt. Tieferer Forschung ergibt dies sich als Absicht, das gotische Bauprinzip taucht im Gemälde wieder auf die Gewandfalten streben und weisen alle bewusst auf ein Ziel hin. auf das menschliche Antlitz, den Sitz der menschlichen Seele, die dem alten Glauben eben das Unsinnliche, das Übersinnliche ist. Das Wichtige. Entscheidende des Bildes rückt möglichst in das Zentrum des Bildes, alles andere sind ebenso viele Linien, die darauf hinführen, hinzwingen. Die körperliche Bewegung, die Geste, soll keineswegs körperlich richtig sein, sie wird in der Bildfläche in eine scharfe, oft gewaltsame, oft auch gewaltige Linie konzentriert, die ganz und gar bebender Ausdruck ist und die eigentliche Handlung betonen hilft, sie bis in die entfernteste Ecke der Tafel weiterschwingen lässt. Verkürzungen und Überschneidungen dienen ohne jede räumliche Absicht genau dem gleichen Zwecke. Haben wir also auch den Mut, uns über unsere Ästhetik hinwegzusetzen und die nordische Kunstlehre zu bekennen: alles, was im altdeutschen Gemälde diesen Zweck fördert und erreicht, ist richtig, alles andere falsch. Sie kennt kein anderes Gesetz.


Somit geht hier alles nicht auf die Schönheit, sondern auf den Ausdruck, will der klassische Mensch in der Kunst eine idealisierte Natur, so will der nordische Mensch Wirklichkeit als seelischen Ausdruck. Die bewussten Gegensätze ergeben sich aus diesem Satze von selbst: Natur ist alles Sein, wie die Sinne es rein aufnehmen, Wirklichkeit aber ist das menschliche Erlebnis. Infolgedessen strebt die klassische Kunst nach Ruhe, die nordisch nach Bewegung oder nach dem, worin diese am leichtesten fassbar wird, nach Handlung. Die ganze altdeutsche Kunst bevorzugt, wie ein Blick lehrt, die Themen, welche eine bewegte, eine soviel als möglich stark bewegte Handlung bedingen, in der eben ihr Ziel eingeschlossen ist, der Ausdruck. So wird das den Laien als erstes Befremdende der altdeutschen Malerei wohl immer sein, dass bei leidenschaftlicher, mit den schärfsten und oft krassesten Gesten durchsetzter Handlung das ganze Gemälde doch von einer merkwürdigen, unlebendigen (lies: nicht natürlichen) Erstarrtheit ist. Es ist, als wären erregteste Gefühle im Augenblicke der Explosion gewaltsam festgehalten worden. Dies ist eben die Eigenart, dies ist der bewusste, einheitlich ausgeprägte Kunststil, der alle Gefühle in konzentrierenden Linien auf das seelische Zentrum hinleitet und damit den ganzen geistigen Gehalt des Bildes in einem Punkte technisch so machtvoll zusammenfasst und ausstrahlen lässt, dass uns klassisch Abgeklärte oft ein tiefes Grauen vor dieser altdeutschen Empfindungsgewalt und Leidenschaft überläuft. Ein Grauen, das zur tiefsten Bewunderung wird, sobald wir uns einmal die mathematische Überlegenheil dieser konstruktiven Technik klar gemacht haben, was uns dann wohl leicht dazu verführen mag, eine Raffael’sche Madonna neben einer altdeutschen als einen seelenlosen Kitsch zu empfinden. Und in der Tat ist hieran sicher soviel richtig, dass keines Volkes Kunst der deutschen an seelischer Ausdrucksfähigkeit auch nur annähernd gleichkommt, wenn uns das auch freilich nicht verleiten soll, in den umgekehrten Fehler zu verfallen, d. h. die Gesetze der altdeutschen Malerei immer mehr etwa unseren Urteilen über die italienische Renaissance zu Grunde zu legen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Altmeister deutscher Malerei