Der politische und gesellschaftliche Hintergrund

Vorbereitet wurde die in Literatur, Musik und Kunst hervorragende und heute neuerdings hochgeschätzte Epoche des biedermeierischen Alt-Wien durch die allen freiheitlichen Ideen und aller geistigen Arbeit so liebevoll gesinnte Regierungstätigkeit des Kaisers Josef II. Eine „Revolution von oben“ könnte man mit einem in jüngster Zeit geprägten Schlagwort die einschneidenden Reformen bezeichnen, die Josef, selbst ein Anhänger der Aufklärung, der Freiheit und Gleichheit, ein Verehrer des dritten Standes, ,,Schätzer der Menschheit“ — wie er sich gern auf Inschriften nannte — oft zum größten Entsetzen des Adels und der Geistlichkeit mit leidenschaftlichem Eifer durchzuführen suchte. Man weiß, dass viele von seinen Neuerungen in der nachfolgenden Zeit wieder abgeschafft wurden; in mancher Hinsicht ist er ja vielleicht auch zu radikal gewesen. Gewiss ist, dass er Tausenden Ängstlicher und Unterdrückter die Hände befreite, die Zunge löste. Ganz Europa sprach von seiner geistvollen, impetuosen Persönlichkeit. So sehr auch die erschreckenden Vorgänge in Paris die Geister beschäftigten, so brachten doch alle Gazetten jener Tage ausführliche Berichte über Josefs II. Reformen, seine Art zu leben und zu wirken, dazu politische, soziale, moralische Abhandlungen. — Als im Sommer 1905 das Museum der bedeutenden nordböhmischen Industriestadt Reichenberg eine Kaiser -Josef -Ausstellung veranstaltete, da zeigte sich eine so intensive Teilnahme der Bevölkerung, da kamen so zahlreiche wertvolle Kunstdokumente aus jenen Tagen zum Vorschein, dass man von der mächtigen Nachwirkung dieser bewundernswerten Erscheinung über ein volles Jahrhundert hinaus eine imponierende Vorstellung bekam. Das Bildnis des Kaisers in den verschiedensten Auffassungen und Techniken, von in- und ausländischen Künstlern hergestellt, die Abbildungen seiner wichtigsten Taten und der charakteristischen Szenen füllten mehrere Säle.

Was in anderen Ländern erst mit Blut und Schweiß erkämpft werden musste, wollte er seinem Volke aus freien Stücken geben. Und wenn auch das Wenigste endgültig zur Durchführung kam, so hat doch der Schimmer von Größe, Freiheit und Selbständigkeit die Werke der Folgezeit verklärt und dem Widerstand gegen hemmende Fesseln, gegen die Zensur z. B., kräftige Nahrung gegeben. Die Einigkeit zwischen Regierung und Volk, die zeitweilige geistige Freiheit, die erst aus Angst vor den Schrecken der Revolution, als man den an Erhaltung des Bestehenden interessierten Mächten des Feudaladels und der Geistlichkeit wieder alle Vorrechte einräumte, eingeschränkt wurde, erweckten die Teilnahme jedes Einzelnen an den Fragen der Zeit. Und wenn die Folgezeit nicht gar so traurige Ereignisse, vor allem die Invasion der Franzosen unter Napoleon und den Staatsbankerott (1811), gebracht hätte, verwirrende, einander überstürzende Vorgänge, denen der schlichte Geist des in bürgerlichen Tugenden erzogenen Kaisers Franz nicht gewachsen war, so hätte Wien in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine klassische Kunstblüte erlebt. Nun muss man mit den bescheidenen, halb im verborgenen erblühten Veilchen vorlieb nehmen, die in unserer nervös überreizten Zeit die Feinschmecker als raffiniertesten Modezauber herausgesucht haben.


Onkel Biedermeier! Dieser sparsame häusliche Mann hatte sich überall Geltung verschafft, wo man von übergroßen, himmelstürmenden Unternehmungen mit zerschlagenem Kopf und verbrannten Fingern heimgekehrt war. Auch im Paris der katzenjämmerlichen Abrechnung ging er mit seinem großen Parapluie spazieren. Auch dort war es für die jungen Genies eine böse Zeit, die uns Musset in seinen „Confessions d'un enfant du siècle“ ergreifend schildert. In Wien gab es doch wenigstens einige Momente der Erhebung: die glänzende Versammlung von Vertretern aller Mächte beim ,,Wiener Kongress“ (1814), die Begeisterung der Freiheitskriege. Und wenn es uns auch heute scheint, dass in Regierung und Mode der Onkel Biedermeier allein diktierte, so war das in Wirklichkeit nur die äußere Form, das Kostüm, die Maske. Wie ja auch der weltberühmte blaue Frack Werthers eine Brust voll leidenschaftlicher, revolutionärer Gefühle umschloss. Vielleicht ist es gerade der Kontrast zwischen dem freieren, an der stolzen Vergangenheit groß gezogenen Geist und dem anspruchslos altvaterischen Gewande, der uns an den Werken jener Zeit so entzückt. Im Leben aller Schaffenden offenbart sich dem tiefer eindringenden Beobachter ein vehementer Kampf zwischen innerem Antrieb und äußerer Vorschrift; bei Grillparzer, Waldmüller, Schwind zeigt er sich besonders lebhaft. Und doch war das, was sie als Freiheit erträumten und schufen, so ungefährlich liebenswürdig, so charmant individuell. Das Sonnenlicht, das „Pleinair“ in den Gemälden des Bahnbrechers Waldmüller, umflutet es nicht eine Welt der zartesten Poesie, des innigsten Heimatsgefühls, der reinsten Menschenliebe?

Die verbindende Brücke von der im selbständig erfassten Barock sich bewegenden Wiener Kunst des 18. Jahrhunderts zu der Biedermeierkunst schlug die kurzdauernde Mode des Klassizismus, des Empire. Sie fand in Wien nicht so viel zu bekämpfen, als in anderen Gebieten — denn man hatte hier schon längst die wuchtige Sprache einfacher Formen gesucht — , andererseits konnte hier niemals eine so nüchtern verstandesgemäße Pflege des vermeintlich Antiken sich breit machen, wie im nördlichen Deutschland; die eingewurzelte Geschmacksbildung und die vollsaftige Lebensweise hätte das nicht gelitten. Immerhin sind einige stattliche Bauten, das äußere Burgtor, die Paläste der Grafen Fries, Pallavicini, auch viele Bürgerhäuser in dieser Stilart entstanden. Eine der schönsten Plastiken Wiens, das Grabmal der Erzherzogin Marie Christine in der Augustinerkirche, ein Hauptwerk Antonio Canovas, viele kleinere Arbeiten italienischer Klassizisten sind zu nennen; von den Wiener Bildhauern dieser Epoche ist vor allem der tüchtige Zauner hervorragend, der an der Akademie wirkte; am bekanntesten ist sein Denkmal Kaiser Josefs II., in antikem Gewande, zu Pferd, mit der Rechten sein Volk segnend. Eine weitergehende Wirkung auf den Geschmack haben diese Arbeiten nicht ausgeübt, wenn auch in manchen kunstgewerblichen Objekten, in Mobiliar, Tafelgeräten und Nippessachen sich Anklänge an ihre Formen finden.

Auch in der Malerei war der Klassizismus strenger Observanz nicht erfolgreich. Wohl hat Heinrich F. Füger (1751—1818), der, aus Deutschland nach Wien gerufen, die Akademie leitete, eine Menge griechischer und römischer Historienbilder in einer glatten, an Jacques Louis David, Mengs und Angelika Kauffmann anschließenden Manier gemalt und auch andere Künstler — Abel z. B. — mit sich gezogen; das war seine, „akademische“ Tätigkeit. Viel größer als im Heroischen ist er in der Porträtkunst und gerade im Miniaturbildnis, wo seine angeborene feine Begabung unter dem Geschmack seiner Auftraggeber sich zu einer unvergleichlichen Delikatesse entwickelte. Auf der Jahrhundert-Ausstellung zu Berlin haben seine Bildnisse ihre Auferstehung gefeiert; seitdem jagen die Sammler und Kunsthändler nach diesen Werken wie nach Gemälden von Reynolds. Das Urteil Tschudis in der Einleitung des Jahrhundert-Werkes ist bezeichnend: ,,Mag er (Füger) auch als Maler großer historischer oder allegorischer Kompositionen vor dem Forum der Kunstgeschichte ein unrettbar verlorener Mann sein, die Porträts der Ausstellung zeigen ihn von einer besseren Seite. Dem schwäbischen Pastorssohn, dem Enkelschüler von Mengs und Schüler von Oeser, war doch so viel von jener lebensfrohen Anmut der Kaiserstadt angeflogen, dass sich der trockene Klassizismus seiner Vorbilder zu einer spielenden Empiregrazie verfeinerte.“ Das entzückende, an Reynolds Mrs. Siddons erinnernde Bildnis der Gräfin Bellegarde (in der Wiener Akademie), in weißem Gewände mit purpurrotem Mantel, im Freien sitzend ; das in zartesten Übergängen von silbergrau zu braunrot abgestimmte Porträt einer Prinzessin von Württemberg, das in der Wiener Porträtausstellung auftauchte und — leider — von einem Pariser Kunsthändler für eine hohe Summe entführt wurde; das graziöse, auf der Berliner Ausstellung viel bewunderte Bildnis der Fürstin Galitzyn und ein neuerdings dem Wiener Hofmuseum einverleibtes Porträt seiner schönen Gattin (das der Leser als Titelblatt des II. Teiles in vortrefflicher Heliogravüre wiedergegeben findet; es ist hier zum ersten male publiziert!) geben Kunde von einer schönen Geschmackskultur, die ebenso über die in gebrochenen Halbtönen schwebenden Nuancen der besten Fragonards im Louvre, wie über die sanfte Tonskala der englischen Meister, Reynolds etwa, verfügt. J. B. von Lampi der ältere (1751 — 1830), ein Südtiroler, der als Porträtist des Hofes und der Notabilitäten eine erste Rolle spielte und gern ,,Chevalier de — „signierte, erscheint daneben leer und pomphaft, wenn auch korrekt und nobel (wir zeigen hiervon ihm das Porträt des berühmten Bildhauers Canova, und ein bisher unveröffentlichtes Werk aus dem Badener Rollett-Museum); ja, Lawrence, der Liebling der Kongressherrschaften, von dem unser Hofmuseum jetzt zwei Hauptstücke birgt, das Porträt des Reichskanzlers Metternich und seiner ätherisch-graziösen, früh verstorbenen Tochter (als Hebe dargestellt, schwebend, die Schale kredenzend, mit dem Adler des Zeus), wird im Vergleich zu diesen Arbeiten Fügers zum süßlichen Schmeichler.

Ein wenig Schmeichelei und Schönfärberei haftet wohl allen Produkten der damaligen Porträtkunst an. Es ist kaum glaublich, dass wirklich alle Damen in jener Zeit so engelhaft schön waren, und dass alle Herren in so tadelloser Eleganz, so ritterlichen Allüren erschienen, wie auf diesen Porträten. Einer der feinsten Schmeichler, der alle Schönheiten und Berühmtheiten der Kongresszeit malte, war Moriz Michael Daffinger, von dem später, in einer speziellen Übersicht der Miniaturmaler, noch die Rede sein soll. Aber auch die derberen, aus der Mitte des Volkes erstandenen Elemente, die sich der Pflege von Genreszenen, der Darstellung von Bauern oder Soldaten zuwandten, zeigen sich von diesem Streben nach Schönheit beherrscht; so der köstliche Fendi, der drollige Karl Schindler, der lehrhafte, elegante Danhauser, ja auch Schwind und Waldmüller in ihren Anfängen. Die Gesellschaftsszenen des ersteren zeigen nur holdverklärte Weiblichkeit in spielend graziöser oder anmutig schmachtender Pose; und Waldmüller bekannte selbst, dass ihm erst die Verpflichtung der Naturtreue klar wurde, als er beim Porträtieren einiger alter Damen das Charakteristische dieser vom Leben geformten Züge, der Falten und Runzeln erkannte. Die Grabschrift, die Grillparzer für Daffinger aufsetzte, hat typische Geltung für die Tendenzen der damaligen Kunstübung: ,,Einer der begabtesten Maler seiner Zeit. Im Menschenantlitz und in der Blumenwelt suchte er einzig die Natur, und er fand sie, aber in ihrem Brautschmuck als Kunst.“

Zartheit der Empfindung, Ritterlichkeit gegen die Frauenwelt sind einer der schönsten Charakterzüge in dem Gesellschaftsleben des vormärzlichen Wien. Wenn man vergleicht, welche Rolle die Frau in der französischen oder spanischen Welt um die Wende des 18. Jahrhunderts spielte, als an die Stelle des mondänen Rokokopüppchens oder der ehrgeizigen Maitresse die blutdürstige Furie racheheischend trat, und die Zügellosigkeit der Sitten als Resultat der Aufklärung galt, so wird man die strenge Zucht, die Heilighaltung der Familienbande im Wiener Bürgertum preisen dürfen, ohne als moralisierender Doktrinär zu erscheinen. Die patriarchalische Lebensweise des Hofes gab das Vorbild. Dennoch war die Bevölkerung nicht zu spießbürgerlicher Einschränkung geneigt. In der Stadt, in der so viele Feste, Bälle, Maskeraden abgehalten wurden, in dem mehrere große Theater — neben dem Burgtheater gab es schon drei in den Vorstädten, in denen Singspiele, Komödien und Zaubermärchen aufgeführt wurden — einen ständigen Stab von Schauspielern beschäftigten, blieb dem Spiele der Liebesempfindungen die größte Freiheit. Besonders den Künstlerinnen war vieles gestattet, ohne dass sie deshalb von der Gesellschaft ausgeschlossen gewesen wären. Im Gegenteil, man verfolgte die Herzensaffären dieser Lieblinge mit einer herzlichen Teilnahme, und oft waren Beifall oder Missfallensäußerungen im Theater die Folge der bekannt gewordenen Privataffären.

Schon zu Ende des Jahrhunderts und besonders in den folgenden Jahrzehnten gab es mehrere Zirkel, in denen Musik, Literatur und Kunst mit Hingebung gepflegt wurden. Die Familien Kaunitz, Kinsky und Eszterhazy, der russische Gesandte Graf Rasumoffsky, der sein Palais auf der Landstraße erbaut hatte, später auch Graf Lanckoronski eröffneten ihre Salons nicht nur für die Vertreter patriotischpolitischer Bestrebungen, sondern auch für die Literaten, unter denen sich berühmte Deutsche, wie die Brüder Schlegel, Adam Müller, Zacharias Werner befanden, für die Musiker und Maler. Eine große Rolle im künstlerischen Leben spielte das Haus der Dichterin Karoline Pichler, wo Clemens Brentano, Theodor Körner, die ersten Burgschauspieler verkehrten. Freiherr von Spaun, die reichen Seidenfabrikanten vom Brillantengrund, die Ärzte und Advokaten pflegten die Geselligkeit und die Künste. In vielen Gemälden, Zeichnungen und Stichen, besonders bei Danhauser (Liszt am Klavier) und Schwind (Schubert-Abend bei Frhrn. von Spaun usw.), spiegeln sich diese gesellschaftlichen Zustände.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Alt-Wien
F. G. Waldmüller, Die Hochzeit in Perchtoldsdorf

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F. G. Waldmüller, Heimkehrende Holzsammler

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F. G. Waldmüller, Badende Frauen

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