Das Alt-Wiener Sittenbild

Als die feinste Blüte der Alt-Wiener Kunst darf man das Sittenbild betrachten. Wohl hatte das Porträt eine größere Verbreitung, wurde emsiger gepflegt. Aber bei der enormen Inanspruchnahme der beliebteren Künstler stellte sich neben den Vorzügen, die eine ständige Übung mit sich führt, auch bald die Schablone ein. Die Zahl der im alten Wien hergestellten Porträts, in großem und kleinem Format, geht hoch in die Tausende. Dabei haben alle diese Bilder ein gewisses Niveau, etwa wie die meisten Arbeiten der italienischen oder holländischen Blütezeit, auch wenn sie von minderen Meistern herrühren, doch die famose handwerkliche Schulung der ästhetisch hochstehenden Epoche aufweisen. Heute, wo man diesen Werken nachgeht, bringt jeder Tag einen neuen Fund ans Licht, und da die meisten Bildnisse unsigniert sind, viele auch mit bisher unbekannten oder wenig bekannten Namen bezeichnet erscheinen, so hat sich das lebhafte Bedürfnis nach einem verlässlichen Lexikon der Alt-Wiener Meister herausgestellt, das uns einer der vielen eifrigen Museumsleute hoffentlich bald schenken wird. Vorläufig ist auf diesem Gebiete der Phantasie allzuviel Spielraum gelassen; abgesehen von jenen spekulativen Händlern oder Amateuren, die ihrer Ware gern den höchsten verfügbaren Titel beilegen, und jedes korrekt gezeichnete Bildnis schon dem großen und — heute — hochbezahlten Waldmüller zuschreiben, oder wenigstens als Eybl, Amerling, Danhauser bezeichnen, erfordert auch die Gewissenhaftigkeit des Sammlers, Museumsleiters, Gelehrten eine feste Handhabe für die Zuschreibungen an die Genannten, oder an Swoboda, Mayer, Mansfeld, Saar, an die Maler zweiten und dritten Ranges.

Porträte haben damals fast alle Künstler gemalt, ob sie nun der Gruppe der Genremaler, — wie Waldmüller, Danhauser, Fendi, — oder den Nazarenern, wie Führich, Steinle, Kupelwieser, oder den Romantikern, den Landschaftern usw. nach der Stärke ihrer Produktion zuzuschreiben sind. Erst die Erfindung der Photographie hat diese Kunsttätigkeit beiseite gedrängt. Es erscheint mir deshalb zweckmäßig, vorerst die verschiedenen genannten Richtungen in der Alt-Wiener Kunst zu schildern, und zunächst die Sittenmalerei.


Auch hier ist es notwendig, den Zusammenhang mit dem 18. Jahrhundert herzustellen und nicht — wie es bisher immer geschah — diese Kunstübung als eine plötzlich auftretende und zum Teil von englischen Vorbildern wachgerufene hinzustellen. Wohl hat die Begabung z. B. Danhausers durch eine mit seinem Mäzen, Herrn von Arthaber, unternommene Reise nach Holland starke Anregungen, besonders für koloristische Verfeinerung, erhalten. Aber sein Ausgangspunkt war die Wiener Tradition. Und zwar nicht die Tradition der Akademie; dort wurde unter Quadal, Lampi, Maurer, Füger eine historische, ideale Richtung gepflegt. Was der Wiener Sittenmalerei das richtige Stoffgebiet und die erforderliche Popularität gab, war das ganz eigenartige, bodenständige Publikationswesen.

Es war schon früher von den verschiedenen publizistischen Unternehmungen, sowie von dem Wirken der Kunsthändler im Alten Wien die Rede (Seite 61 ff.). Die erste literarische Zeitschrift gab 1762 der Korrektor der erwähnten Trattnerschen Buchdruckerei, Christian Gottlob Klemm, unter dem recht modernen Titel ,,Die Welt“ heraus. Eine zweite Zeitschrift ,,Der Patriot“ war mehr eine Nachahmung englischer Wochenschriften. Dann gab der berühmte Sonnenfels, der an der Begründung des Burgtheaters so wichtigen Anteil hat, den, „Vertrauten“ und von 1766 an den ,,Mann ohne Vorurteil“ heraus. Eine ,,Realzeitung“, ,,k. k. privilegierte Anzeigen“, ,,Gelehrte Nachrichten“ folgten. Diese Publikationen waren anfangs ohne Illustrationen; erst lange nachher haben die Blätter, namentlich die ,,Theater-Zeitung“, Auers ,,Faust“, die ,,Briefe des Eipeldauer an seinen Herrn Vetter in Kagran“ (eines der populärsten Blätter) sowie die zahlreichen beliebten Almanache: Aglaja, Thalia, Urania usw., Bilderbeilagen mit Genredarstellungen, Szenen- und Kostümbildern, Modekupfern, Karikaturen in Stich, Radierung, Lithographie gebracht, die heute als wertvolle Dokumente geschätzt werden. Daneben hatten aber die geschickten und findigen Talente einen eigenen Erwerbszweig geschaffen. Der in Holland gebildete Landschafter Brand schuf 1740 in den berühmt gewordenen ,,Kauf rufen“ — in Stich wiedergegebenen Typen der verschiedenen Verkäufer, Händler — eine viel nachgeahmte Kunstspezies. Einer der vielseitigsten Künstler, der in letzter Zeit durch mehrere verauktionierte Sammlungen bekannter gewordene Löschenkohl, der auch als Fächermaler, Erzeuger bemalter großer Knöpfe und geschnitzter Pfeifenköpfe aus Meerschaum seinen Unterhalt zu verdienen suchte, machte zuerst den Versuch, die wichtigsten Vorgänge des öffentlichen Lebens in Kupferstichen zu verewigen. Mit dem Blatte ,,Theresiens letzter Tag“, welches die vielgeliebte und allverehrte Landesmutter Maria Theresia in ihrer Sterbestunde zeigte, darunter einen sentimentalen Vierzeiler, hatte er (1780) einen ungeheuren Erfolg. Ganz Wien wollte die Darstellung dieses großen Momentes sehen und das Blatt zum Andenken aufbewahren. Binnen weniger Tage waren 7.000 Exemplare verkauft, trotzdem der Preis einen Gulden betrug, und Löschenkohl, vorher ein armer Teufel, war nun ein gemachter Mann. Er gründete einen eigenen Verlag und begann den Vertrieb im großen. Fast alle die interessanten und aufsehenerregenden Momente in Josefs II. Regierungstätigkeit, aber auch die lokalen Ereignisse, Skandalaffären usw. wurden von ihm dem Publikum vorgeführt, wie es heute etwa ,,Die Woche“ tut. ,,Der Neujahrsempfang bei Hofe 1782“ heißt ein beliebtes Blatt; ein anderes, ,,Die neue Prater Lust oder Das vergnügte Wienn in seinem Geliebten Joseph“, gibt eine Ansicht des Pratersterns gegen den Prater, an einer Vase links lehnt Josef II., neben ihm London, Erzh. Maximilian, Lascy, Albert Herzog von Sachsen-Teschen, Erzh. Maria Christine, kurz lauter Persönlichkeiten, deren Andenken die Weltgeschichte, die Paläste, Denkmäler aufbewahrt haben. In der zweiten und dritten Reihe stehen Herren und Damen vom Hofe in reicher Tracht, dahinter sieht man Spaziergänger. Köstlich ist die Technik dieses Blattes: die Köpfe als Silhouetten behandelt, die Trachten schön durchgeführt, die Komposition etwa an eine Vedute in der Art Canalettos erinnernd. Dabei sind die Porträte scharf gezeichnet, das Ganze meisterhaft gestochen. In späteren Blättern wird der Aufbau immer reicher, die Gruppierung geschickter, die Verteilung von Licht und Schatten, von Figuren und Prospekt freier, künstlerischer, so dass diese Arbeiten neben den verwandten französischen und deutschen Stichen bestehen können, und für die Sittengeschichte Wiens eine ähnlich reiche Quelle werden, wie die Stiche und Schabkunstblätter in England. Auch an Witz, Spott, Satire fehlt es nicht. Als der Kaiser gegen die überhandnehmende Prostitution ein wirksames Mittel fand, indem er verordnete, dass die Dirnen durch Abschneiden der Haare bestraft werden sollten, da zeichnete Löschenkohl den ,,Lohn der Ausschweifung zur Warnung für andere“, in dem er diese Prozedur in drastischhumorvoller Weise schilderte.*) Ein anderer Stich zeigt ,,Die Zurückkunft aus dem Zuchthause“ oder er beschäftigt sich mit den ersten Flugversuchen; 1784 hatten Alois v. Widmanstätten im Dammschen Garten auf der Wieden und Ingenheim im Prater ihre Luftballons vorgeführt. Löschenkohl gibt in einigen Stichen realistische Wiedergaben dieser Szenen, oder er zeigt parodierend feindliche Ballons, die sich in luftiger Höhe beschießen, ein fliegendes Luftschloss, ein Rendezvous mittels Ballon, verfolgende Polizisten usw. Die Bedeutung dieser Publikationen wuchs im Laufe einer 20jährigen Tätigkeit mit zunehmender Popularität, und der eifrige Illustrator hat über sein Lebenswerk keine unbescheidene Kritik geübt, als er in dem Jahrgang 1799 der Wiener Zeitung „Eine vollkommene Zeitgeschichte in schön illuminierten Kupfern, von Josephs Regierung an bis auf jetzige Zeiten“ zu herabgesetztem Preise ausbot. Urteilt doch ein so gerechter und vielerfahrener Mann wie Wurzbach in seinem für die Geschichte Österreichs sehr wertvollen ,,Biographischen Lexikon“ über diesen Künstler: ,,Auch die Gegenwart bietet ähnliche Erscheinungen, wie Löschenkohl, aber es fehlt ihnen der gesunde Humor, die frische originelle Unbefangenheit, Vaterlandsliebe und Fleiß“.

Es ist begreiflich, dass bei der großen Verbreitung dieser Kunstprodukte die Auffassung aller Kreise dadurch inspiriert wurde. Die Zahl der Nachahmer ist denn auch Legion. In allen neu aufkommenden Techniken der Vervielfältigung, besonders in Lithographie und Holzschnitt, wurden derartige Darstellungen verbreitet; eine Übersicht über diese Kunstgattung, an der sich viele der berühmtesten Maler zeitweilig versuchten, auch Schwind z. B., würde einen Band für sich beanspruchen. Kininger (der auch Brands ,,Kaufrufe“ vermehrt und koloriert neu herausgab), Opitz, Lancedelli, Zampis schilderten die verschiedenen Wiener Typen: ,,Ein Lauf er mit einem Stubenmädchen und einer Wäscherin in Wien“, heißt ein Blatt, ,,Die Tirolerin, der Hausmeister und ein Italiener mit Gipsfiguren“ ein anderes. Die Titel an sich geben eine kurzgefasste Sittengeschichte: ,,Die Graben-Nymphe“ z. B. (ein hübsches aquarelliertes Blatt, — in der Sammlung Dr. Heymann — das eine galante Dame in Rokokokostüm darstellt) klagt in französischen Versen:

J'ai couru le Graben, j'ai couru le rampar,
Et n'ai de tout le jour pas gagné un seul liar.
Je n'oserai ainsi rentrer chez ma macrelle,
Quand je n'ai pas d'argent, toujours eile me querelle.“

Andere Blätter zeigen die Unterschriften: ,,Die kleine Post. — Parapluie! Parasol! — Der Salamihändler und der Briefträger. — Ein herrschaftlicher Jäger mit einem Regensburger Dienstmädchen und ein Tiroler Teppichhändler. — Die Gassenkehrerjungen mit ihrem Aufseher in Wien. — Eine Sicherheitswache, ein Lampenanzünder und eine Obstverkäuferin. — Griechische Kaufleute und eine Bürgerin. — Ein türkischer Jude mit seiner Familie. — Nach Hunderten zählen diese Typenbilder, neben denen auch Varianten der schon erwähnten verschiedenen ,,Kaufrufe“ von Brand und anderer sich finden, die ja auch später in London (,,Cries of London“) und Paris sehr beliebt waren. Viele Darstellungen zeigen drastische Volksszenen, bei denen der, „Aschenmann“ (eine auch in der Theaterliteratur durch die Darstellung Raimunds, in dem Zauberstück ,,Der Bauer als Millionär“, später berühmt gewordene Figur), die zankenden und raufenden Naschmarktweiber (eine Lithographie von Lanzedelly) eine große Rolle spielen. „Schreckliche Wirkung eines Bierplutzers“ war ein vielbelachtes Blatt betitelt. Oder der Künstler schilderte mit köstlichem Humor die Aventüren eines Zinstages: Die arme Familie im Oberstock, die den Zins nicht bezahlen kann, versucht zu entweichen; das ganze Mobiliar, die Garderobe usw., wird in einem Bündel mittels eines Strickes auf die Straße hinabgelassen und wirft dabei dem Hausherrn, der schmauchend und zeitunglesend am Fenster des Erdgeschosses sitzt, die kostbare Pfeife hinab.

Meist sind es harmlose Spaße oder moralisierende Darstellungen; die Bosheit und die Ironie fanden erst später, in der Zeit Saphirs und Nestroys, ihre Vertreter unter den Karikaturisten Wiens. — Ich hätte mich bei diesem Thema nicht so lange aufgehalten; aber diese Kunstgattung ist bisher in keinem historischen Werke berücksichtigt; meine Quelle waren Privatsammlungen und Auktionskataloge. Wer jedoch die künstlerisch viel höher stehenden Sittenbilder der Alt-Wiener Maler, deren mehrere auch auf der Berliner Jahrhundertausstellung Aufsehen erregten, mit den angeführten Stichen vergleicht, der erkennt bald, dass die Anregungen für einen Fendi und Danhauser, Karl Schindler, Treml, ja selbst für manche Werke von Waldmüller, hier zu suchen sind.

Für die malerische Darstellungsweise holten sich diese Künstler ihre Vorbilder in den schönen Wiener Galerien. Ranftl, der Sohn eines Wiener Vorortwirtes, später wegen seiner vielen vorzüglichen Hundebilder der ,,Hunde-Raffael“ geheißen, hat eine Zeitlang die holländischen und flämischen Maler so gut kopiert, dass manches dieser Bilder als altes Original in den Handel kam. Auch Waldmüller hat als Kopist viel gelernt. In der Akademischen Galerie hängt z. B. eine meisterhafte Nachbildung einer Grablegung von Ribera, die Kopien nach van Dycks ,,Christus am Kreuz“, nach Mieris, Correggio, Ruysdael und Potter wurden viel bewundert. Die Gemälde von Ostade und Brouwer, von Teniers, Terborch, Metsu, Dou (wie auch die Blumenstücke von Rachel Ruysch, Huysum) gaben den Ton an. Die noble Abstimmung eines schummrigen Raumes, die Glanzlichter auf Schränken und Dielen brachten die Wiener Maler in ihren Biedermeier-Interieurs zur Geltung. Aber sie behandeln ihre Motive ganz selbständig, als aufmerksame Beobacher der Natur; im Thema, in den charakteristischen Figuren, im Kostüm, in der Eleganz oder Derbheit der Pinselführung präsentieren sich diese Bilder als ganz originale bodenständige Erscheinungen, die ebenbürtig neben den berühmten englischen Sittenbildern eines Wilkie und Morland bestehen können und sich an die holländischen Bauern-, flämischen Gesellschafts- und französischen Rokokoszenen als eine neue zeitgemäße, empfindungsechte und stilvolle Kunstgattung anreihen. Die kunstdurchtränkte Atmosphäre der stolzen alten Stadt gab diesen Menschen einer politisch unerquicklichen, polizeilich beaufsichtigten Überganzszeit wenigstens ein Medium, ihr Sehnen und Empfinden eigenartig auszusprechen: die Kunst — Musik, Poesie und Malerei! —

Ich will nun einige der besten Sittenschilderer ausführlicher charakterisieren.


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F. G. Waldmüller, Badende Frauen

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F. G. Waldmüller, Heimkehrende Holzsammler

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F. G. Waldmüller, Stilleben

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