H. Glück – Stadt und Kulturbild

Wer es versteht das Gegenwartsbild einer Stadt als das Ergebnis des Wechsels historischen Geschehens auf der Grundlage des durch die unveränderte Naturlage gegebenen Bleibenden zu erfassen, der wird im Stadtbilde Konstantinopels die größte Fülle an Beobachtungsmaterial vorfinden, in einer Intensität und Geschlossenheit, wie sie wohl keine andere Großstadt der Welt aufzuweisen hat. Denn hier hat die Natur die mannigfaltigsten und tiefsten Gegensätze auf einem Terrain vereinigt, dessen eigentümliche Stellung im Weltganzen und dessen klare und bestimmte Abgrenzung die Ausbildung einer besonderen, in sich geschlossenen Individualität gewährleistet.

Wenn man Länder und Erdteile nicht als künstlich umgrenzte Gebiete, sondern als natürliche Einheiten sieht, deren verschiedene Natur den verschiedensten Lebens- und Menschheitsformen als Grundlage dient, so erscheint Konstantinopel als ein Gebilde, dessen Grenzstellung die größten Kontraste in sich begreift. Das Wort „Konstantinopel, eine Brücke zwischen Kuropa und Asien“ bekommt erst seine Geltung, wenn man sich bewusst wird, worin eigentlich jener Unterschied besteht, den die Bezeichnung der beiden Erdteile in sich schließt. Da haben wir im Osten ein Gebiet, das trotz seiner ungeheuren Ausdehnung nur an einzelnen Flussläufen und Küstengebieten der Menschheit die Möglichkeit einer kulturkräftigen Besiedlung gewährt, während gewaltige Wüstentafeln und unwirtliche Hochlandsmassen diese Stellen nur als Inseln, als Oasen erscheinen lassen. Das Lebensbild Westasiens zeigt den schärfsten Kontrast zwischen inselhaften Hochkulturen und ausgebreitetem Nomadentum, seine Geschichte den ewigen Kampf der wandernden Wüstenvölker um die fruchtbaren Kulturstreifen. Die Spitze dieses Länderkomplexes gegen Westen bildet Konstantinopel, seine Geschichte ist zum einen Teile die fortwährende Abwehr der anstürmenden Ostvölker, die in den Türken ihr Ziel erreichten, um sesshaft zu werden und die Aufgabe zu erfüllen, die ihnen die andere Natur, die des Westens vorschreibt.


Diese Natur aber ist eine doppelte: Das europäische Ländergebiet umfasst einen Kern, der im Süden, Westen und Norden durch seine Auflösung in Halbinseln und Inseln einen Kranz der verschiedensten Länderindividualitäten um sich reiht, deren Gemeinsames zuvörderst aus ihrem maritimen Wesen entspringt. Das Meer wird ihnen zum Angelpunkte der Macht, seine Beherrschung zum Leitfaden ihrer Geschichte, der ewigen Konkurrenz um die günstigsten Bedingungen des äußeren Lebens. Die zentrale (östliche) Masse der europäischen Länder dagegen, die nur ein Teilglied der Zone ist, die über den ganzen Norden Asiens streicht, bildet einen Körper, dessen wenig differenzierte, kontinentale Natur seine Geschichte nicht als den zeugenden Kampf verschiedener Individualitäten erscheinen lässt, sondern als das Beharren ohne Ringen um ein Mehr als um das, welches die Natur selbst bietet, — sofern dieses Beharren überhaupt als Geschichte bezeichnet werden kann. Nur an den Rändern, wo diese binnenländische Masse (Osteuropa) mit den anderen maritimen Naturen in Berührung tritt, werden die Erscheinungen der Geschichte ausgelöst, insoweit dort eben das Fremde mit der Stagnation in Kampf tritt.

Auch an diesen beiden westlichen Natur- und Lebensformen hat Konstantinopel durch seine Lage innigsten Anteil. Wie es einerseits eine Pforte zum Mittelmeerbecken bildet, wie dessen Vegetation [vgl. Abb. 19, 85, 86] an den Ufern des Bosporus [Abb. 93-98), an den vorgelagerten Inseln des Marmarameeres Platz [Abb. 99. 100] greift und wie die Mittelmeervölker und die europäischen Seevölker seit jeher diesen Punkt durch die Gründung von Faktoreien und Handelskolonien als einen der wichtigsten erkannten, so ist die Stadt anderseits durch die Balkanländer und durch das Schwarze Meer [Abb. 102] mit dem zentralen Teile Europas verbunden, dessen Steppenboden als eine vorgeschobene Insel bis an ihre Mauern reicht, dessen Völker immer nachihrem Besitze strebten, dessen Kulturerscheinungen, Religion, Kunst, Staat usw. durch innige Fäden mit denen Konstantinopels verbunden waren. Nur insoweit diese Völker mehr und mehr von dem westeuropäischen Geiste erfasst werden, insoweit wird auch das osteuropäische Wesen der Stadt verschleiert.

Drei Welten stoßen hier aneinander und vereinigten seit jeher drei Menschheitsindividualitäten auf diesem einen Punkte. Keiner dieser drei Welten gehörte Konstantinopel jemals in seinem Wesen ganz an, wie immer auch der Lauf der Geschichte der einen oder der anderen Vorrang und Macht gab. Das dauernde Gesetz seiner Naturlage lässt es inmitten des Wechsels historischen Lebens unveränderlich erscheinen, als ein alleinstehendes Individuum, das wohl das Kleid wechselt, innerlich aber immer dasselbe bleibt.

Wie die Lage im Erdkreise das Geschick und Wesen der Stadt bestimmt, so auch der Umkreis ihres engeren Bodens. Beides greift innigst ineinander und schafft in ihrer äußeren Erscheinung jene bestimmenden Züge, in denen der bewusst Schauende die einzigartige Eigentümlichkeit Konstantinopels erkennt.

Auf der einen Seite umfasst das Meer, auf der andern das Goldne Hörn [Titelt. Abb.2, 3] als langgestreckter Meeresarm eine nach dem Lande zu sich verbreiternde Halbinsel. Damit war für das Wachstum und die Ausbreitung Stambuls, d. i. des eigentlichen alten Konstantinopel, Richtung und Ausdehnungsmöglichkeit gegeben, indem eine Erweiterung immer nur die westliche Verschiebung einer vom Meere zum Goldenen Hörn gezogenen Linie bedeuten konnte. Als letzte dieser Linien bildet der große Zug der Landmauern [Abb. 16, 17, 19, vgl. Anm.] im Westen eine ebenso starke Grenze wie die Ufer des Meeres. Denn diese Mauern sind die äußerste Linie, die als schützende Verbindung von Wasser zu Wasser in Betracht kommt, und kaum ein Jahrhundert nachdem Byzanz seine Weltstellung erlangt hatte, hatte es diese Linie erreicht und hat sie bis heute innegehalten. In dem so umschriebenen Räume ging die Entwicklung der Stadt vor sich, nicht expansiv, sondern intensiv, immer im selben Boden wurzelnd und an ihn gebunden. [vgl. Plan S. z.]

Die Beibehaltung dieser von der Natur gegebenen Grenzen ließ Stambul bis heute in jenem Entwicklungsstadium erscheinen, das unsere mittelalterlichen Städte zwang, den schützenden Mauerring nicht zu durchbrechen. Freilich ist jenseits des Goldenen Horns Galata—Pera [Titeltafel] emporgewachsen und durch Brücken mit der Stadt verbunden. Wie aber jene Seite seit jeher eine Stätte des Fremden war und nicht aus der Expansion des Stadtkernes entsprang, so ist auch heute noch Galata — Pera äußerlich und innerlich ein anderes als Stambul, das bei allem Wechsel historischen Lebens die unveränderlichen Züge bewahrte, die ihm von der Natur vorgeschrieben sind.

Das hügelige Terrain gab dem Stadtbilde von vornherein seinen bestimmten und bleibenden Charakter, indem es die Hauptstraßenzüge vorzeichnete und die natürlichen Grenzen der einzelnen Viertel bestimmte. Der Hauptrücken der durch die Hügel gebildeten Höhen verläuft ungefähr parallel dem Südufer des Goldenen Horns (etwa über die Punkte Edirne Kapu, Mehmedije, Seraskierat, Aja Sofia) [vgl. Titeltafel]. Er gibt der Stadt die bestimmte Silhouette und schneidet einen schmalen, langgestreckten, gegen Norden steil abfallenden Teil von einem sich dreieckig erweiternden südlichen, der in sanfteren Wellen gegen das Meer abfällt. Dementsprechend steht im Grundriss der Unregelmäßigkeit des ersteren eine klarere Gliederung des letzteren gegenüber, die durch westöstlich durchlaufende Straßenzüge und deren Vergabelungen ins Auge fällt. Eine gedrängtere Verbauung in stufenartigem Übereinander [vgl. Titeltafel, u. Abb. 2, 5] im Norden kontrastiert mit dem aufgelösteren von dem Grün des reicheren Baumwuchses und der Gemüsegärten der Niederungen durchsetzten Siedlungsbilde [vgl. Abb. 16] im Süden. Während dieser Teil dadurch ein etwas ländliches Gepräge erhält, wird der Norden durch den besten natürlichen Hafen, den das Goldene Hörn bildet, zum Handels und Marktplatz und damit auch zum Sitz der Reichen und der Behörden. Die großen Hane [Titeltafel u. Abb. 69-71] Basare [Titelt., Abb. 83] und Märkte, Lagerhäuser und Mühlen, die Gebäude des Kriegsministeriums (Seraskierats) [Titeltafel], der hohen Pforte, des Scheich ül Islamats, der orientalischen Gesandtschaften, sowie der Komplex der Bahnhofs und Duanenbauten, der Dette publique und anderer Verwaltungsgebäude geben diesem Teil auch äußerlich seinen besonderen Charakter, wie bereits in byzantinischer Zeit das Kapitol, das Munizipium, Handelsplätze und Foren deren Stelle einnahmen. Im südlichen Teile ist es aber vor allem der Straßenzug, der (als Diwan jolu) von der Hagia Sofia zum Kriegsministerium und von da über Akserai nach Jedikule [Abb. 14, 18] zum Goldenen Tore [Abb. 10, 12, 14] führt, der als ältester Hauptstraßenzug das Ende der natürlichen Landstraße bildete, die seit den ältesten Zeiten längs des Marmarameeres in das Innere des Landes führte. Es ist die Mese, die Mittelstraße des alten Byzanz, auf der sich die Triumphzüge der Kaiser bewegten. Das Tal des Lykus, das südlich parallel dem angegebenen Haupthöhenzuge der Stadt verläuft, und bei Akserai die Mese trifft, gibt die Richtung der Zweigstraßen, die den südwestlichen Zwickel der Stadt durchqueren, und deren Mündung bei den Militärtoren des westlichen Mauerzuges die Gewähr für die Ursprünglichkeit ihrer Anlagen gibt. [vgl. Plan S. 2]

Wie diese bestimmenden Straßenzüge heute noch dieselben sind wie vor Jahrhunderten, so war auch das Leben in den einzelnen Teilen der Stadt, durch die Naturgegebenheiten bestimmt, immer dasselbe, ohne dass durch Erweiterung oder Verschiebung der Grenzen neue Zentren geschaffen oder den einzelnen Teilen wesentlich andere Bedeutung gegeben wurde. Der Wechsel der Geschichte vollzog sich im räumlichen Übereinander, nicht im Nebeneinander, und wo einst der heidnische Tempel stand, dort erhob sich später die christliche Kirche und krönt heute die Moschee den Gipfel des Hügels. Und auch darin ist der alte mittelalterliche Geist fortwirkend derselbe geblieben, dass die Religion als beherrschende Staatsidee die beherrschenden Punkte für ihre Bauten auswählte und im Stadtbilde mehr als sonst wo zur Erscheinung gelangte. Ob es die Baumeister eines Justinian oder das Genie eines Sinan waren, die die Gipfel der Hügel als weit beherrschende Punkte durch monumentale Bauten künstlerisch auswerteten: die äußere Form, das Kleid mochte gewechselt werden, das Wesen und das Antlitz der Stadt blieb das gleiche. — Und selbst das Kleid blieb nur zu oft dasselbe. Denn wenn nun die Aja Sofia wie so manche der altbyzantinischen Kirchen [vgl. Anm.], der Halbmond krönt, und wenn jene großen Moscheen [vgl. Anm.], einzig auf diesem Boden und eben als Konstantinopler Moscheentypus charakteristisch die Bauform jenes einzigartigen christlichen Tempels nachahmen, so findet die dauernde Individualität der Stadt ihren beredten Ausdruck.

Aber nicht nur im Monumentalbilde der Stadt prägt sich dieser Zug der Unveränderlichkeit aus. Die Stambuler Straße erhält ihre Eigenart durch die Bauweise ihrer Häuser [Abb. 5, 74, 75, 82]. Stambul ist aus Holz gebaut. Der große soziale Kontrast zwischen luxuriöser Macht und bescheidener Bedürfnislosigkeit, wie er für das ganze Gesellschaftsbild des Ostens typisch ist, wird in dem Bilde dieser Stadt nur zu deutlich, wenn man die Weitschweifigkeit und Großzügigkeit der Monumentalbauten, in denen dem Willen des einzelnen keine Schranken gesetzt waren, der Dürftigkeit der hölzernen Buden gegenüberstellt, die oft windschief und altersschwach kaum noch eine Stütze an der nächsten finden. — Auch darin ist Stambul gleich geblieben und nur zu oft wurde und wird auch heute noch diese Bauart ganzen Stadtteilen zum Geschicke. Denn so, wie es uns immer wieder aus den Tagen des alten Byzanz berichtet wird, so sind auch heute noch Riesenbrände nur zu häufige Geschehnisse: Das sich über ganze Viertel erstreckende Brandfeld ist eine typische Erscheinung im Stadtbilde Stambuls und zugleich ein Zeuge des Lebensgeistes seiner Bewohner. Denn für diese ist Leben nicht das organische Schaffen und Bauen auf Grund des Vergangenen mit der Sorge um die Zukunft. Für sie herrscht der Augenblick, der nur geben, dem Bedürfnislosen aber nichts nehmen kann. Die alte Wohnstätte ist zerstört, die Trümmer bleiben liegen bis das Grün sie überdeckt. Wozu das Vergangene fortführen, das Baufällige oder Gestürzte niederreißen um auf seinem Grunde Neues zu schaffen, wo doch die Zeit langsam und sicher dafür sorgt! — Nur die Notwendigkeit zwingt und der Glaube an das Kismet, die Bestimmung, ist nicht erfundene Philosophie, er ist der natürliche Lebensgeist der Bedürfnislosen. Es ist der Geist des Orients, das Für-den-Tag-leben der Wüsten- und Steppenvölker, der hier in einem Gebilde zum Ausdruck gelangt, das sich Stadt — Großstadt nennt! — Stambul ist Stadt im orientalischen Sinne: d. h. es ist ein Siedlungskörper, der dem Machtwillen seine Entstehung und Größe verdankt. Die herrschenden Völker Stambuls waren nie Städter in dem Sinne einer durch Arbeitsteilung differenzierten und Naturprodukte in industrielle Werte umsetzenden Schicht, mochten es auch die Kaiser oft versucht haben, mit fremden Kräften industrielle Organisationen zu schaffen.

Ist Stambul dadurch auch „Stadt“ wie jede: andere des Ostens, dessen Landvolk auf Industrieprodukte nicht angewiesen ist, so zwingt ihr doch die Natur ihren eigenartigen Charakter dadurch auf, dass die Gunst ihrer Lage als internationaler Hafen und Handelsplatz nicht ungenützt bleiben kann. Darin steht aber dem Bleibenden der dauernde Wechsel gegenüber, der den Lauf der Geschichte ganz Vorderasiens und Europas auf diesem einen Flecke widerspiegelt. Denn da diese Stadt nicht das Erzeugnis einer Volksschicht ist, die aus der einheitlichen Kulturfläche eines sie umgebenden Umlandes erwuchs, so konnte sie nur insoweit eine Eigenkultur schaffen, als das engste Stadtgebiet selbst einen Boden abgab, der — wenn auch nicht selbstschöpferisch — durch die Vereinigung der verschiedensten Elemente eine Verschmelzung, aber auch eine Intensierung derselben herbeiführte. Das aber unterscheidet Konstantinopel von anderen Seehandelsplätzen, dass es nicht ein unverbundenes Gemisch, das zufällige Nebeneinander der verschiedensten Kulturen auf einem kulturell undifferenten Flecke darstellt, sondern dass es die Verschiedenheiten zu einer Individualität zusammenfasst. Das jeweils herrschende Volk, wie auch die handeltreibenden Fremden, passten sich diesem Boden an.

Eine eigentümliche Art von Kulturaustausch fand zwischen beiden statt und auch hier spricht das Stadtbild eine deutliche Sprache für Gegenwart und Vergangenheit. Wie die noch stehenden Monumentalbauten der Byzantiner Byzanz als einen Punkt erkennen lassen, der die Elemente des Ostens, Kleinasiens, Syriens, Armeniens, Persiens, ja selbst Ostasiens absorbiert, wie jenes griechische Volk, dessen Kultur in Demokratie, Antropomorphismus, Naturphilosophie und in einer organisch-naturalistischen Kunst ihren Ausdruck fand, auf diesem Boden zu einem andern wurde, für das Asolutismus, eine mystische Religion, eine naturfeindliche Lebensanschauung und Kunst leitend wurden, so war diese Stadt für die Türken als Ostvolk ein natürlicher Boden, in dem sie Wurzel fassen konnten. Wie aber in byzantinischer Zeit die Kulturkreise des Ostens auf westlicher Grundlage, so spiegeln sich in den Denkmälern der türkischen Zeit, in der der historische Schwerpunkt immer mehr nach dem Westen rückte, Renaissance und Barock bis zum Rokoko, Klassizismus und Historizismus in steigender Intensität wider, ohne aber jemals einer dieser Stile im Wesen zu sein, ohne jemals den örtlichen Grundton zu verleugnen. Wie vor Hunderten von Jahren der Byzantiner in persische Stoffe gekleidet ging, so geht heute der Türke nach europäischem Schnitt, und doch blieb dieser wie jener in seinem Wesen ein anderer.

So sehr aber die Herrschenden immer das Fremde äußerlich annahmen, so sehr büßten es die Fremden, die hier ansässig wurden trotz Beibehaltung äußeren Scheines ein. Die
massige Form der „Fanariotenhäuser“ [Abb. 72, 73] die die europäischen Kolonisten als ihre Wohnhäuser und Warenlager errichteten, mag wohl an alte italienische Bauten erinnern. Im wesentlichen sind sie weder genuesisch noch venezianisch, vielmehr sind in ihnen die Elemente des heimischen Holzstiles mit seinen von Konsolen getragenen überkragenden Stockwerken, mit den Erkern und schattenden Dächern in Stein übertragen. Wie im Äußern schon die spitzbogige Form der Fensterabschlüsse die Anpassung an den islamischen Steinbauerkennen lässt, so richtet sich die Behandlung der Innenräume [Abb. 77a, b] mit ihren fast bis zum Fußboden herabreichenden Fenstern und mit dem Mangel an Möbeln nach der Lebensweise der Türken, bei denen Stühle und Tische nicht nötig, Kasten und Schränke durch Wandnischen ersetzt werden, so dass Einrichtung und architektonisches Gefüge eine Einheit bilden. Mögen auch Säulchen und Stuckaturen den westlichen Geschmack als ein Kleid erscheinen lassen, das den Fremden hier immer noch als solchen erkennen lässt, die Lebensformen dieser Menschen sind andere geworden und mit diesen ihre Wohnungen. Und was kennzeichnet die Volksschicht der Levantiner mehr als der Umstand, dass es unter ihnen Menschen gibt, die alle Sprachen und doch keine ganz reden ! Ein eigentümliches Doppelwesen ist diese Stadt, in der die Herrschenden ein fremdes Kleid anziehen, die Fremden zu Heimischen werden. Dahinter steht aber das Dauernde, Unwandelbare ihrer Natur und Lage im geographischen Gesamtbilde Eurasiens, das dem historischen Geschehen die Gesetze vorschreibt.

Der Zug des Dauernden bei allem Wandel wird vielleicht am deutlichsten in der Besonderheit und dem Schicksal jenes Teiles, der die äußerste Spitze Stambuls einnimmt, und seit jeher gegenüber der übrigen Stadt seine auch äußerlich scharf gekennzeichnete Stellung behielt. Der Hügel der alten Akropolis blieb bis heute ein aus dem Leben der Stadt ausgeschiedener Teil. Die starke Trennung zwischen Herrscher und Volk, ein mittelalterliches Erbteil orientalischer Kultur, lässt auch heute noch das alte Serail[Titeltafel u. Abb. 4] als ein Allerheiligstes erscheinen, zu dem nicht jeder Sterbliche Zutritt hat. Vergegenwärtigt man sich die Beschreibungen des byzantinischen Kaiserpalastes als eines abgeschlossenen Bezirks, in dem im Grün üppiger Gärten Repräsentation- und Wohnbauten verstreut lagen, teils in geordnetem Zusammenhang, teils in freier zwangsloser Anordnung, vielfach wohl nur pavillonartige leichte Holzbauten, die leicht verheerenden Bränden zum Opfer fielen, — dies mag ja auch den Umstand erklären, warum so wenig von all dieser Pracht erhalten blieb — und halten wir dazu das Bild des heutigen Serails mit seinen Parkanlagen und Kiosken [Abb. 76, 78-80], mit all der üppigen aber leicht vergänglichen Pracht, die den Luxus des Ostens und Westens vereinigt: Mögen die Einzelheiten verschieden sein, in der Physiognomie der Stadt bleibt das Bild dasselbe, aus dem gleichen Geiste der Macht und des Wohllebens geboren, der den Kontrast, aber auch die notwendige Ergänzung zur Bedürfnislosigkeit des Volkes bildet.

So ist Stambul als Stadt bis heute dasselbe geblieben. Die Majestät seiner Gotteshäuser, die Bescheidenheit seiner Gassen und Winkel, das rege Treiben des Hafens und die lässige Ruhe und Gleichgültigkeit des kleinen Bürgers, die nur selten einer Erregung weicht, die eigentümliche Mischung der Kulturen, das Verwachsen von Heimischem und Fremdem in Natur und Geist, dies alles schließt die einzigartige großzügige Silhouette der Stadt in eine Einheit zusammen, die seit der Zeit der großen Kaiser dasselbe Gebiet umschloss. Und doch — heute will es scheinen, als sei Stambul auf einem Zeitpunkte angelangt, in dem das Dauernde, Verharrende zum Flüssigem wird, in dem die mittelalterlichen Bande gesprengt werden und die Kraft der Zivilisation die Schranken der Natur überwindet. Schon hat die Eisenbahn den alten Mauerzug durchbrochen und führt europäische Ware und Zivilisationsprodukte bis in das Herz der Stadt. Die uralten Zypressenfriedhöfe [Abb. 5, 19, 89, 90], die außen die Linie der Mauer begleiten, beginnen Fabriken Platz zu machen, und schon trägt man sich mit dem Gedanken, vor dem Goldenen Tore neue, den modernen Verhältnissen entsprechende Hafenanlagen zu schaffen und die südwestlichen Viertel der Stadt als Arbeiterviertel auszugestalten. Der alte mittelalterliche Ring wird durchbrochen, die soziale Differenzierung des Westens beginnt die Stadt zu durchsetzen. Schon sieht man allenthalben die alten Holzhäuser dem modernen Ziegelbau weichen, ganze Viertel inmitten alten Bestandes zeugen von wachsendem Reichtum, neue Schulgebäude sorgen auch für die geistige Differenzierung des Volkes. Die elektrische Trambahn schafft die Konzentration der einzelnen Stadtteile, ihre Schienenstränge bezeichnen die Pulsadern, in denen nun der Europäismus Galata — Peras in den alten Bestand eindringt und das bisher getrennte Hüben und Drüben zu einer Einheit werden lässt.

Ungeheure Energien sind hier am Werke. Der moderne Geist steht hier im Kampfe mit dem Dauernden der Jahrhunderte, mit uralter Tradition. Es ist eine aus der Notwendigkeit historischen Geschehens geborene Evolution, in deren klarer Erkenntnis auf Ziel und Wirkung hin die Menschen der Stadt selbst noch in den Anfängen stehen. Noch suchen die zwei Naturen, an deren Grenze zeitlich und lokal die Stadt steht, in der Seele der jungen Türken einen Ausgleich. Denn die große als unabwendbar erkannte Aufgabe, eine Vormacht westlicher Zivilisation gegenüber dem Osten zu werden, die in der Revolution 1908 ihren ersten großen Schritt tat, hat ihren Gegenpol in dem erwachenden Bewusstsein von Rasse und Nation, deren östliche Grundlage dem organisierenden und differenzierenden Westlichen fremd ist. Die unabänderlichen Gesetze der Weltlage Konstantinopels finden darin auch im heutigen Zeitpunkte wieder ihren lebendigen Ausdruck. Und wie Galata— Pera jenseits des Goldenen Horns für das alte Stambul die treibende Zentrale des Westens bedeutet, und jetzt erst aus einer Vorstadt oder besser aus einer benachbarten Fremdstadt zu einem lebendigen Teilgliede im Gesamtorganismus einer Groß-Stadt wurde, so Skutari auf der asiatischen Seite als der Rückhalt des konservativen orientalischen Geistes mit der Intimität eines unbefangeneren Kulturlebens.

Auf dem alten Boden Stambuls kämpft beides miteinander und sucht einen Ausgleich. Trotzdem aber die umgebenden Wasser keine hindernde Grenze mehr bilden und die Stadt auch landwärts den beengenden Gürtel sprengt, behält Stambul seine eigene Stellung bei und strebt als der lebendige Kern wieder nach seinem unwandelbaren Ziele, das seit jeher in dem Ausgleichen der Gegensätze durch die Kraft seiner eigenen Individualität bestand.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Alt-Konstantinopel
017. Landmauer, Teilansicht

017. Landmauer, Teilansicht

018. Jedicule Innenhof mit Moscheeruine

018. Jedicule Innenhof mit Moscheeruine

019. Straßenbild längs der Landmauern

019. Straßenbild längs der Landmauern

020. Silivri Kapu (Tor)

020. Silivri Kapu (Tor)

021. Der Marmorturm (Mermer Kule) 975-1025

021. Der Marmorturm (Mermer Kule) 975-1025

022. Der sogenannte Justinianpalast am Marmarameer

022. Der sogenannte Justinianpalast am Marmarameer

023. Aquädukt des Valens

023. Aquädukt des Valens

024. Tekfur Serai, Hoffassade

024. Tekfur Serai, Hoffassade

025. Tekfur Serai, Außenansicht

025. Tekfur Serai, Außenansicht

026. Aja Sophia 532-537 Außenansicht

026. Aja Sophia 532-537 Außenansicht

027. Aja Sophia. Vorhof mit Waschbrunnen

027. Aja Sophia. Vorhof mit Waschbrunnen

028. Aja Sophia Innenansicht gegen Osten

028. Aja Sophia Innenansicht gegen Osten

029. Aja Sophia, Blick aus dem rechten Seitenschiff.

029. Aja Sophia, Blick aus dem rechten Seitenschiff.

030. Aja Sophia, Westansicht mit Vorhallen

030. Aja Sophia, Westansicht mit Vorhallen

031. Aja Sophia, Südemphore

031. Aja Sophia, Südemphore

032. Aja Sophia, südöstliche Exedra mit Mimbar (Kanzel)

032. Aja Sophia, südöstliche Exedra mit Mimbar (Kanzel)

033. Irenenkirche von Norost, im Hintergrund Aja Sophia

033. Irenenkirche von Norost, im Hintergrund Aja Sophia

034. Irenenkirche, Inneres, jetzt Waffenmuseum

034. Irenenkirche, Inneres, jetzt Waffenmuseum

036. Kirche des Klosters Myrilaion (Bodrum Mesdschid) 10. Jahrh.

036. Kirche des Klosters Myrilaion (Bodrum Mesdschid) 10. Jahrh.

037. Kirche Pammakaristos (Fethie Dschami) Ostansicht

037. Kirche Pammakaristos (Fethie Dschami) Ostansicht

038. Kapitelle aus Sergius und Bacchus

038. Kapitelle aus Sergius und Bacchus

039. Zisterne Tausend und eine Säule (Bin Bir Direk)

039. Zisterne Tausend und eine Säule (Bin Bir Direk)

040. Kirche des Klosters Chora (Kahrie Dschami) Außenansicht

040. Kirche des Klosters Chora (Kahrie Dschami) Außenansicht

041. Kahrie Dschami, Christusmosaik im Narthex

041. Kahrie Dschami, Christusmosaik im Narthex

042. Kahrie Dschami Mosaik Christi Geburt

042. Kahrie Dschami Mosaik Christi Geburt

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