Abschnitt 9. Schauplätze unsres Kriegerlebens, Verwüstungen der Umgegend, Belagerer aus dem Jägerkorps.

Zerstörungswut, Ehrensache, die alte Wetterfahne, der schöne Garten an der Maas, tief im September.

"C'était la Landiwer", sagte uns der Wirt in einem der Dörfer um Givet, die ich 1829 aufsuchte, um die Schauplätze unsres Kriegerlebens mir wieder anzusehen. "Die Landwehr war es", sagte er beschönigend, als er über die furchtbaren Verwüstungen der Umgegend während der Belagerung klagte, und ich mich als einen damaligen Belagerer aus dem Jägerkorps verraten hatte. "Die Jäger waren junge gentile Leute." Ach, wir waren, wenn nicht ganz, doch beinah so schlimm als die andern. Die Zerstörungswut muß ansteckend sein. Wie zerschlugen wir, wie rissen wir nieder, oft aus bloßem Mutwillen, aus der Vorstellung, es müsse so im Kriege sein! Freilich geschah es immer nur in verlassenen Häusern und Orten, gleichsam zur Strafe dafür, daß ihre Bewohner sie ver- und uns nur die nackten Wände zurückgelassen hatten; aber es kommt mir vor, als wäre derselbe Trieb dabei tätig gewesen, der die Schulknaben antreibt, mit ihren Messern die Tische und Bänke zu zerschneiden. Erobern wollte man freilich auch, Beute machen. In jenem zerstörten Kloster, wo ich die erste Nacht vor Givet zubrachte, war ein kleines Türmchen, auf dessen Dache eine Wetterfahne stand. Was gab man sich nicht Mühe, sie abzubrechen! Das verrostete Eisen, das Stückchen Blech war höchstens einige Sous wert; aber es ward zur Ehrensache für jede Wache, die hier aufzog, sich an die Arbeit des Abbrechens zu machen. Mit Lebensgefahr sah ich Landwehrleute auf das Dach klettern und hämmern, feilen, rütteln; aber die Stange wich nicht. Jede abziehende Wache hinterließ der sie ablösenden das weiter gefühlte Werk mit Neid; denn nun ward die Arbeit doch immer leichter, und am Ende gewann der den Lohn, der am wenigsten dafür getan hatte. Doch will ich nicht behaupten, daß man wirklich zu dem Resultate kam; ich glaube vielmehr, daß, als wir von Givet abzogen, die alte Wetterfahne noch immer auf dem Turme unser spottete. Der schöne Garten an der Maas, die entzückende Aussicht flößten meinen Kameraden keinen pietätvollen Respekt für das Landhaus ein. Die Tische und Bänke, die Fensterläden und Türflügel wurden unbarmherzig zerschlagen zu Wacht- und Kochfeuern. In einem Dorfe, ich glaube Fromlianes, stand ein altertümliches großes Herrenhaus, verlassen und verwüstet. Der industrielle Trieb einiger rohen Gesellen führte sie auf das Dach, und, um doch etwas zu erbeuten, hieben sie die bleiernen Dachrinnen mit den Hirschfängern ab. Als niemand das Blei kaufen wollte, ward der erste beste Nachbar requiriert, der unfreiwillig, wenngleich für ein Spottgeld, etwas kaufen mußte, von dem er gar nicht begriff, wie die Soldaten zum Rechte kamen, es zu verkaufen. Jeder Krieg hat sein bestialisches Gefolge. Unsre Soldaten waren bei den Franzosen in die Schule gegangen, wenn sie auch das Gelernte etwas plumper und barocker dann und wann anwandten.
Der August verging, es war schon tief im September. Die Tage wurden kürzer, die Märsche, die Arbeit, die Stunden auf den Wachtposten blieben dieselben. Und die kalten Nächte auf Vorposten, aus den Vorposten, wo nur einmal oder gar nicht während der Nacht abgelöst wurde! Auch im Lager selbst wurden diese Nächte sehr unbehaglich, besonders in unsren dünnen, schlecht verwahrten Hütten, in abgeriebenen, dünnen Uniformen und Mänteln. Man schichtete sich aufeinander, um sich zu erwärmen. Und doch war die Kälte besser als das Regenwetter, welches darauf eintrat. Doppelt beschwerlich wurden die langen Märsche nach und von den Vorposten, doppelt so lang auf den abschüssigen Hohlwegen, in den morastigen Tiefen. Wir kamen gewöhnlich erst um Mitternacht zurück, einst im furchtbaren Platzregen. Daß wir selbst bis auf die Haut durchnäßt kamen, war das geringere Übel; unser Lager aber schwamm uns fast buchstäblich entgegen. In dem Felsenkessel hatten sich die Wolken zu einem Wolkenbruch gesackt, und Bäche, Ströme, Fluten kamen durch unsre Zelte mit dem Lagerstroh, unsern Habseligkeiten und Vorräten auf uns zu. Wir mußten über den angeschwollenen Bach springen, um zu retten, was zu retten war. Und welche Nacht, welch ein Morgen! Ein andermal riß uns der Ruf "Feuer!" von unsern Kochkesseln, wo wir die Abendsuppe bereiteten. Eine Hütte brannte, mehrere andre fingen Feuer. Man denke sich ein großes Lager von Strohhütten, ziemlich dicht aneinander, in einem Felsentale: ein Windzug und eine Feuersbrunst! Alles war auf den Beinen, um zu greifen, retten, was zu retten war. Die Hörner schmetterten. "Zuerst die geladenen Büchsen! Die Feuer aus! Die Lichter aus." Man stieß, drängte, trug ins Freie und rannte gegeneinander; die Verwirrung war groß. Die Magdeburger Landwehr schlug mit Kolben drein, und ihrer raschen Tätigkeit gelang es, die brennenden Hütten niederzuwerfen und das Feuer zu dämpfen. In drei Hütten, welche den Jägern einer andern Kompagnie gehörten, waren alle Habseligkeiten derselben verbrannt.
Sechs Wochen schon in diesem Zustande und noch keine Aussicht auf Erlösung. Givet sollte bombardiert werden; aber ein Tag verstrich um den andern. Es sollte Friede sein; aber keine Taube mit dem Ölzweig kam über die Berge geflogen. Da hieß es: Napoleon ist den Engländern entflohen und nach Amerika entkommen. Der Krieg bricht wieder an, er wird ein andrer, man behält uns zurück, es wird wenigstens ein Stammkorps der freiwilligen Jäger errichtet, wo die Jäger bleiben, aber die Freiwilligkeit aufhört. Es hätte mich nicht gewundert, wenn unsre Phantasie in dem dunstigen Felsenkessel noch törichtere Hirngespinste zutage gebracht hätte. Die Strapazen ließen keinen freien Gedankenprozeß zu; und die Gedanken, die sich entwickelten, wurden von dem ewigen Einerlei, von dem trüben Herbsthimmel beherrscht. Das eine Gefühl, was uns klar wurde, war: wir sind nur noch Maschinen; unsre militärische Dressur erinnerte uns täglich daran, und der lebhafteste Wunsch war - nicht nach Ruhm und Kriegstaten, diese Aussicht war vorüber, wir spielten ja nur noch Krieg - es war kein andrer, als einmal doch in ein Quartier zu kommen.
Nun doch schien er erreicht! Das Bombardement fand nicht statt, die Stadt Givet ergab sich. Wir rückten ein; welches Wonnegefühl, den Preis unsrer Ausdauer mit Augen zu sehen! Eine wohlerhaltene Stadt, klein, aber uns kam sie so groß, so wunderbar vor. Kaum wird Paris einem Kleinstädter anders erscheinen, ob wir doch alle aus größern Städten, zum Teil selbst aus Berlin kamen; aber das Lager in den Felsen mußte magisch auf unsre Sinne gewirkt haben. Wie fest die Häuser waren, wie regelmäßig die Türen und Fenster, wie breit die Straßen, wie majestätisch die Brücke, der Markt, die herrlichen Kaufläden, die Cafés und Restaurationen: gewiß ein Klein-Paris! Wie mußte ich lächeln über jene Erinnerung, als ich 1829 diese sehr unbedeutende Landstadt wieder sah, die in ihren städtischen Einrichtungen nicht einmal wie so manche andre den Anspruch macht, dem stolzen Paris gleichen zu wollen. Nur etwas erschien mir auch damals grandios: die himmelhohen, die Stadt überragenden Felsen der Zitadelle und ihre Mauern. Die Schildwachen darauf konnten uns in den Straßen mit Kieselsteinen töten.
Givet, die Stadt und Festung, war übergeben; aber die Zitadelle Charlemont, wohin sich der Gouverneur mit der Garnison zurückgezogen, blieb unerobert und ließ das "drapeau blanc" auf ihren Mauern stolz flattern. Was hatten wir für uns erobert? Das Vergnügen, mit Sack und Pack in die eroberte Stadt einzuziehen, Parade zu machen und matt und hungrig am Abende in unser Lager zurück zu marschieren. Die Zitadelle ward nun an der Stelle der Stadt belagert, und alles blieb beim alten. Wir mußten putzen, exerzieren, paradieren, auf Wache und auf Vorposten ziehen. Nur durch besondere Gunst ward Einzelnen die Erlaubnis, auf Urlaub sich in die Stadt zu begeben, um dort sich zu erholen oder Anläufe zur nötigsten Reparatur ihrer Kleidungsstücke zu machen.
Endlich nahte die Erlösung. Die Bergfestung ward nach wie vor belagert; aber am 23. September ward uns der Paradebefehl verlesen, daß unsre Brigade abziehen und Kantonierungsquartiere zwischen den Städten Rocroy und Vervins beziehen solle. Noch Kantonierungen, und doch ward uns zugleich verkündet, daß der Friede abgeschlossen sei! Warum nicht gleich zurück?
In der Nacht zum 26. September schlug endlich die Stunde der wirklichen Erlösung. Es war eine regnerische, stockfinstre Nacht, als um drei Uhr die Hornisten uns weckten. Um vier Uhr sollte aufgebrochen werden; in solcher Dunkelheit, in diesem Wetter sollten wir den Felsen und Schlünden Lebewohl sagen, in denen wir ein und einen halben Monat verzaubert waren. Das Verlangen wurde laut: sehen mußten wir doch noch einmal den Ort. Eine wahnsinnige Lust schien sich der Freiwilligen zu bemächtigen. "Licht! Feuer" rief es. Von allen Seiten trug man Stangen, Bretter herbei, die uns als Tische und Bänke gedient, und die früher, im Schweiße unsres Angesichts, meilenweit herbeigeschleppt worden; alles auf einen Haufen. Er ward angezündet. Wir wollten sehen und uns wärmen und dem Wetter trotzen. Die Feuer loderten, die Flamme wirbelte auf, der Regen verlor seine Macht vor solcher Glut. Unser aller bemächtigte sich eine wahre Raserei. Wir rissen unsre Hütten nieder, wir rüttelten an den Pfählen, alles was fest stand, mußte heraus, und manche Kameradschaft trug ihr ganzes festes Haus, wie es da war, und das ihnen sechs Wochen lang Schutz und Wärme gegeben, in die Flammen. Es war ein wilder, furchtbar schöner Anblick, die nackten Felsen ringsum von der hellen Glut angerötet, und der Flammenschein stieg in den Himmel, daß man in der Zitadelle die Lärmtrommel rührte. Man billigte, soweit ich mich entsinne, diesen Akt unsrer freiwilligen Freude nicht; aber die Inhibitionen aus dem Hauptquartier kamen zu spät.


Wie oft ich die Maas passiert, kann ich mich nicht mehr entsinnen. Außer der Spree, die Berlin scheidet, gibt es indes keinen Fluß, den ich von Rechts wegen so genau kennen müßte, von Lüttich hinauf bis beinahe Verdun. Denn obgleich Friede war, und wir nur Freiwillige für den Krieg, behielt man uns nicht allein noch monatelang im Dienst und in Frankreich, sondern schob uns aus einer Kantonierung in die andre, immer die Maasufer hinauf, bis wir endlich im Flecken Dun, einige Meilen von Verdun entfernt, den südlichsten Punkt erreicht hatten, um nachher noch einmal das Vergnügen zu haben, wieder in nördlicher Richtung bis über Givet hinaus zurück zu marschieren.
Wir waren vom Lagerleben erlöst, aber nur, um ein neues, beschwerlicheres Wanderleben anzutreten. Es hatte viele Tage lang geregnet, und regnete immer fort, wie im Englischen Liede.
Die Wege waren furchtbar, und es war nicht märkischer Sand! Wir waren schon bis an die Knie im Kot der Hohlwege gewatet, als wir, südlich von Givet, über die Maas setzten, um nach Fumay zu marschieren. Ein malerisch in die Kalkfelsen der Maas eingeklemmtes Städtchen von mittelalterlicher Architektur; aber, todmüde wie wir waren, von Naßkälte schauernd, mußten wir durch die freundlichen Straßen, an den gastlichen Häusern vorüber, wieder in eine Fähre uns einpferchen lassen, um jenseits, ein paar Meilen weiter, in einem elenden Dorfe endlich Quartiere zu finden, im Vergleich zu welchen unsre verbrannten Strohhütten uns noch komfortabel erschienen. Der Unwille unter den Jägern war allgemein, da hier, wie es oft geschah, die Soldaten von der Linie in der Stadt selbst blieben. "Man braucht uns nicht mehr, man laßt es uns fühlen, daß wir überflüssig sind! Warum entläßt man uns dann nicht ganz und gar?" Wie oft noch wiederholten sich diese Klagen! In der Tat entsinne ich mich aus dem ganzen Feldzuge keines schlechteren Quartiers als in diesem Dorfe Revin, wo wir uns alles, selbst Stroh und Brot, ertrotzen mußten. Die Wirtin, ein widerwärtiges Weib, gab uns indes Anlaß zu manchen Beobachtungen. Bei jeder Forderung schrak sie zusammen, schlug die Hände über den Kopf, seufzte und – klagte. Nicht beim Kapitän, wozu die französischen Bauern immer weit schneller bereit waren als die unsern, sondern bei ihrer Heiligen! Und wo war diese Heilige? In einer Laterne auf einem Küchenschrank; die Himmelskönigin aus dem Bilderladen war an die Stelle der fehlenden Glasscheibe geklebt. Die fromme Frau warf sich jedesmal zu Füßen des Schrankes nieder und murmelte ihre unverständlichen Gebete, daß die Jungfrau die unverschämten Forderungen der Ketzer gnädig abwende. Wir waren in großem Irrtum, als wir meinten, die Revolution habe mit der Religion auch den Bigottismus und Aberglauben in Frankreich ausgetilgt. Auch in den nördlichen Provinzen fanden wir ihn nur zu oft und in seiner krassesten Gestalt wieder.
Abermals ward am Morgen über die Maas gesetzt, in Regengüssen, und der Marsch ging über die Ardennen nach Aubenton. Diesmal sollten wir sie in ihrem finstersten Gebirgscharakter kennen lernen. Diese Schluchten, diese Wege und Hohlwege! Wer hatte Augen für die schauerlichen Reize dieses Gebirges, wenn er, mit dem halben Beine im Kot, bergan steigen mußte! Wir schlugen Nebenpfade ein, um auf dem kürzesten Wege das Gebirge zu kreuzen; es ging durch Dornen, steile Klippen wurden erklommen, Wege, aus denen es uns wahrscheinlich mit allem unsern Gepäck fortzukommen unmöglich geworden wäre. In dieser Voraussicht hatte man einige Ochsenwagen requiriert, die unsre Tornister nachfuhren, sie uns dafür aber erst drei Tage später ablieferten. Einer zog den andern, und doch wie viele glitten aus und küßten die mütterliche Erde des feindlichen Landes. Zuweilen sahen wir uns verwundert an, daß nach solchen Strapazen noch so viel von uns selbst und unsern Kleidungsstücken übriggeblieben war.
Auch in dem freundlichen Fabrikstädtchen Aubenton, wo man uns Kantonierungen versprochen, blieben wir in guten Quartieren nur eine Nacht. Wenigstens lernten wir wieder das Quartierleben von der freundlichen Seite kennen. Die Gegend schien noch nicht ausgezehrt. Reinlichkeit und Fülle der natürlichen Lebensmittel, schönes weißes Brot, ein vortrefflicher Käse und ein kräftiges Bier stärkten uns wieder für eine Kantonierung in den Dörfern, die von diesen Behaglichkeiten wenig oder nichts darboten.
Wir waren wenigstens in dem Dorfe Besmont wieder im flachen Lande. Daß dadurch ein Wunsch erreicht werden könne, hatte ich mir früher in meiner romantischen Stimmung nicht träumen lassen. Aber es war ein Dorf, welches mich an unsre westfälischen erinnerte. Die Gehöfte lagen im weiten Umkreis zerstreut, durch feuchte Wiesen, Hügel, Buschwerk, Seen und Gräben voneinander getrennt. Zum Appellplatz mußte mancher eine Stunde lang gehen, und ich hatte wie gewöhnlich das Unglück, nicht allein bei einer der ärmsten Familien, sondern auch am allerentferntesten von den andern einquartiert zu sein. Wäre es ein Vendéedorf gewesen, und seine Bewohner fanatisierte Feinde, so wäre es ein leichtes gewesen, in dieser Abgeschiedenheit einen und den andern verschwinden zu lassen, ohne daß es nur bemerkt worden wäre. Kaum wußten wir, wo wir uns gegenseitig aufsuchen konnten; es waren Reisen, und über zitternde Wiesen, durch Büsche und labyrinthische Hecken. Aber die Leute waren friedlich und freundlich; sie waren des Krieges satt und matt wie wir. Wir verlangten nur nach Ruhe und fanden sie, und sie gaben, was sie hatten; es entsprach zwar nicht unsern Wünschen und den Verheißungen, die man uns von guten Quartieren gemacht, aber doch den nötigsten Bedürfnissen.
Für die Melancholie, für die Ossianische Stimmung war hier reichliche Nahrung. Ringsum gelbes, abfallendes Laub, ein grauer Novemberhimmel, Nebelstreifen, und Sträucher, Bäume, Felder, Wiesen und Wege von den Perlentropfen des ewigen, andauernden Regens bedeckt. Während der Wochen, die ich in dieser Einsiedelei lag, sah ich nicht einmal die Sonne scheinen; es fiel kein Schuß, es wieherte kein Pferd, keine Kuh brüllte, nur die Hennen gackerten, wenn sie Eier legten.
Ein märchenhaftes Stilleben führte ich, und doch steht es mir in allen seinen Einzelheiten so klar vor Augen, als wäre es erst gestern. "Wir haben nie Einquartierungen gehabt," sagte die Alte, als sie meinen Zettel empfing. Aber im Hause war doch nicht die Armut, welche entmutigt und den Sinn niederdrückt. Vielleicht war kein Geldstück vom Dach bis zum Keller aufzutreiben; aber was bedurften diese Leute des Geldes? Zwei fette Kühe gaben Milch, Butter und Käse ausreichend für die Wirtschaft. An einen Verkauf oder an ein zur Marktwaremachen dieser Produkte schien hier niemand zu denken. An weißem Mehl und Weißbrot fehlte es nicht; eigene Erzeugnisse, wenn für mich gleich der Umstand sehr unangenehm war, daß dieses Brot nur alle vierzehn Tage gebacken wurde, demzufolge man während dreizehn Tagen, was wir alte Semmel nennen, essen mußte! Aber in Scheiben am Feuer geröstet, mit frischer Butter und Käse darauf, schmeckte es vortrefflich. Die Gärten voll Obstbäume. Nur zu schütteln brauchte man, und goldene Äpfel waren in Fülle da. Auch Kartoffeln waren im Keller. Bedurfte es mehr zu einer Idylle? Und doch gackerten noch achtzehn Hühner im Stalle, zuzeiten die einzige Melodie, der einzige Laut in meiner Einsiedelei.
Die Hausfrau, etwa eine hohe Fünfzigerin, sprach ein Patois (Platt), das ich nicht verstand; aber sie war keine üble Frau, geschwätzig, reinlich, tätig. Ein junger Bursch war da, etwa von zehn bis elf Jahren, ob ihr Sohn oder Enkel lass' ich dahin gestellt, wahrscheinlich der künftige Erbe, und ein junges, hochgewachsenes, hübsches Mädchen von außerordentlich weißem Teint, ihre Tochter. Sie ächzte viel, und es hieß, sie wäre krank; wie es mit dieser Krankheit beschaffen, und ob sie nicht vielleicht eine nur fingierte war, lass' ich auch dahingestellt. Denn es gab noch mehr Rätselhaftes in dieser Familie.
Ein täglicher Besucher fand sich dort ein, ein Mann etwa in den Dreißigen, von nicht eben schönem, imponierendem Äußeren; sein ganzes Wesen aber sagte, daß er schon mehr in der Welt gesehen und in andern Verhältnissen zu Hause wäre, als in dieser kleinen Bauernhütte an den Ardennen. Er trug eine blaue Bluse, Holzschuhe wie die übrigen; aber wenn er meine Büchse aufnahm, blitzte ein eigenes Feuer aus seinen Augen. Es war ihm keine ungewohnte Arbeit. Es lag kein Grund mehr vor, zu verbergen, daß dieser tägliche Gast kein Bauer, sondern ein Militär war, ein Napoleonischer Kapitän, von den Bourbonen auf Halbsold oder ganz ohne Sold entlassen. Wie er in den letzten Zeiten tätig gewesen, ob er die Rolle der Ney und Labédoyère etwa im kleinen gespielt und deshalb für gut befunden, sich in die Herbstnebel der Ardennendörfer zu verlieren, selbst ob er bei Waterloo mit gesuchten, oder ob ich in ihm einen Feind wieder sah, den ich zum letzten Male auf einem der Festungswälle vor mir erblickt, blieb der Vermutung überlassen. Jetzt war er nicht mehr und nicht weniger als ein Knecht, ein freiwilliger Bauernknecht. Er besorgte die Geschäfte der Familie, die aber im Herbst, nach der Ernte, wahrscheinlich nicht bedeutend waren. Denn er konnte stundenlang im Hause sitzen, morgens, mittags und abends noch länger und, die Hände auf den Knien, plaudern.
Seine Firma hier war nicht Kapitän noch Knecht, sondern Bräutigam, Verlobter der Tochter. Ob das nur ein vorübergehender Bräutigamsstand sein sollte, faute de mieux, ob er ernstlicher daran dachte, mit dem jungen Mädchen in den Besitz des Hofes einst zu kommen und den Offizier mit dem Bauer zu vertauschen, oder ob er noch auf einen Umschwung der Dinge hoffte und hier nur die Zeit abwarten wollte – alles das hatte ich mutmaßlich erfahren, wenn mich die Sache näher interessiert, und ich älter als siebzehn Jahre gewesen wäre. Stoff, nicht allein zur Romantik, sondern sogar zum Romane. Aber, siehe da, ich war durch alles Romantische vorher gesättigt; es war mir gleichgültig geworden. Ich wollte Ruhe und dann fort, hinaus, zurück ins alltägliche Leben Der Kapitän mochte lieben oder hassen, lauern oder hoffen, mich ging es nicht an.
Übrigens war er ein ganz angenehmer Mann und Gesellschafter, wenigstens für die Lage hier. Es versteht sich von selbst, daß er an Bildung weit über den andern stand; er machte ihren Lehrmeister, einen praktischen Lehrmeister. Wie weit seine Kenntnisse gingen, konnte ich allerdings nicht beurteilen; aber er schien doch weit mehr zurückzuhalten, als er ausgab. Er war weit in Deutschland umher gewesen, auch längere Zeit in Berlin; er kannte unsre Sitten und sprach etwas Deutsch. Seinen Stand hatte er für den Augenblick ganz aufgegeben und vergessen, wie das eben nur einem Franzosen möglich ist. Nur einmal erwähnte er mit einem spöttischen Zug um den Mund, daß er Ludwig XVIII. nicht besonders lieben könne, da er ihm seine Pension entzöge. Paris liebte er auch nicht und fürchtete von daher. Er versicherte, für fünf Sous könne dort jeder seinen Feind von einem Diener der geheimen Polizei ermorden lassen! Ja, einst entfiel ihm ein merkwürdiges Wort: es wäre für Frankreich nicht gut, wenn die Heere der Verbündeten ohne weiteres herausgezogen würden. Die Parteien würden sich augenblicklich in die Haare geraten, und die Dinge noch schlimmer werden. Sonst schien er blasiert, gleichgültig gegen alles und recht geflissentlich bedacht, in kleinen Dingen und Beschäftigungen sich zu fesseln. Er half mir bereitwillig meine Sachen putzen und lehrte mich Kunstgriffe.
Es war ein eigenes Verhältnis, ich war Sieger, und er der Besiegte, ich im Recht des einquartierten Soldaten, was ein furchtbares Recht sein kann, und er im Verhältnis des scheuen, geplagten Wirtes, der hergeben soll, was man fordert. Aber ich war ein Soldat und ein halbes Kind, und er Offizier, ein Mann in Jahren und von reicher Erfahrung. Ein deutscher Offizier hatte sich in ähnlichen Verhältnissen schwer dazu hergegeben, einem jungen französischen Volontär das Riemenzeug zu putzen, ja, ihn so zu bedienen, wie der Franzose tat. Aber in seinen Adern rann kein aristokratisches Blut; er war ein Mann aus dem Volke und wollte es nicht verleugnen. "Ich bin alles gewesen," sagte er einmal lächelnd, "Soldat, Korporal, Sergeant, Furier, Sergeant-Major, dann Leutnant, zwei Jahre Kapitän, und jetzt bin ich wieder Bauer."
Im Sommer mühte das hier ein herrliches Stilleben gewesen sein. Welchen Spielraum umher! War doch jedes Gehöft ein kleines abgeschiedenes Gut für sich, so herrliche, grüne Plätze, mit den schönsten, wilden und Fruchtbäumen, mit Büschen und Hecken umpflanzt, und der Wald nahe, in den man sich verlieren konnte. Aber der Oktober rückte schon weit vor, kein Oktober, welcher den schönen milden Altweibersommer Norddeutschlands mit sich führt. Keine seidenen Fäden flogen durch reine, weiche Luft. Sie schwitzte aus ihrem ununterbrochen grauen Überzuge nur den ewigen Perlregen. Wir waren an das Haus, in die Stube gebannt. In eine einzige Stube. Doch war sie nicht zu eng, und nicht von Unreinlichkeit starrend. Es machte sich soeben. In meinen Briefen finde ich eben eine Stelle, die ich bis jetzt übersehen hatte. "Meine Gesellschaft besteht aus der Hausfrau, einer erwachsenen Tochter, einem Kinde, drei Katzen, achtzehn Hühnern, zwei Kühen, einem Ferkel, zahlreichen Fliegen, und noch einem Franzosen, der Hauptmann gewesen sein soll." Es muß das wohl in einer ersten, übeln Laune niedergeschrieben sein; denn meine Erinnerung an den Hausstand und das Leben dort ist weit freundlicher. Wenn nicht geputzt, geschrieben oder geplaudert ward, vertrieb ich mir wieder die Zeit mit dem idyllischen Kochen. Für die Lektüre der Nibelungen muß meine Stimmung damals nicht getaugt haben. Der Sinn war früh zum Praktischen angeleitet worden, nur durch die Not. Ich rechne es aber doch zum Glück, daß diese Not wieder aufhörte, um das Praktische wieder auf lange Jahre in den Hintergrund zu drängen. Möchten wir alle, auf dem guten Wege, auf dem wir uns jetzt befinden, fortgehen und eine praktische und industrielle Nation werden, aber dabei nie die Wohltat verkennen, daß wir zuvor eine lange historische Erziehung genossen, welche uns andre Güter schätzen gelehrt, die wir, um zu werden, was wir wünschen, nie aus dem Sinne lassen sollten.
Die Türe stand gewöhnlich offen, ich meine die Stubentür, sie war aber auch zugleich die Haustür. Es geschah vermutlich der Katzen, der Fliegen, der Menschen und der frischen Luft wegen. Wenn etwas Kälte und Regen eindrang, so brannte ja dafür beständig das Feuer im Kamin. An Holz fehlte es der Armut nicht. Der Kamin war die allgemeine Küche. Eine große, eiserne Marmite schwebte beständig über dem Feuer. Immer kochte etwas darin; zuerst für Ferkel und Kühe, dann, wenn diese befriedigt waren, für die Menschen. Die Soupe de légumes war die Hauptmahlzeit. Ich habe in Frankreich so viel Soupe de légumes einschlucken müssen, daß mich schon der Name anwiderte; und doch ist sie, gut bereitet, die natürliche Kost, welche, für Reiche und Arme gleich zuträglich, nahrhaft, selbst von Rumohr anempfohlen wird. Der Kessel siedet über dem Feuer mit Wasser, und nun kommt es nur darauf an, was man in das Wasser hineintut, so kann man die köstlichste Suppe erhalten. In diesen Bauernwirtschaften wird hineingeworfen, was gerade vorrätig oder besser, was der Tag gebracht, und was überflüssig ist: Kohlstrünke und Blätter, Zwiebeln, Rüben, Erbsen, Kartoffeln, möglicherweise Mehl, Salz, vielleicht Butter; ist das Glück gut, ein Stück Speck, in außerordentlichen Fällen sogar ein Stück Fleisch. Zwei Ingredienzien machen das Gebräu aber erst zum Gericht: Pfeffer und Schnitte Weißbrot. Wie man sie nun haben will, ist die Soupe de légumes entweder eine Suppe oder ein konsistentes Gericht. Fleisch kam allerdings in dem Dorfe Nesmont nur hinein, wenn ich etwas beim Appell geliefert erhielt. Soupe de légumes und Salat waren abwechselnd unser Mittagbrot.
Unsre Landwehrleute schüttelten den Kopf, woher der französische " Paysan" zur Arbeit Kraft nehme. Die französischen Bauern schüttelten den Kopf, wenn sie hörten, was ein deutscher Bauer an dicker Grütze, Erbsen, Speck und Schwarzbrot verzehre!
Dieser ewigen Suppe satt, experimentierte ich, zur Verwunderung meiner Wirte, in allerhand Gerichten von Äpfeln, Kartoffeln, Zwiebeln, Milch und Eiern. Meine Milch- und Mehlsuppe zum Frühstück hatte mir vortrefflich geschmeckt; aber dann erwachte mit einem Male die Lust zum Kaffee. Vermutlich nur deshalb, weil ich keinen hatte. Bei unsrer Versammlung waren wir vom Hauptmann, im Namen des Maire, ersucht worden, keinen Kaffee zu fordern, weil die guten Leute im Dorfe das Ding kaum dem Namen nach kannten, und es ihnen unmöglich wäre, es zu beschaffen. Aber der Trieb in mir nach Kaffee war unwiderstehlich erwacht. Ich kaufte mir Kaffee und wollte ihn kochen. Aber eine Kaffeekanne war in unsrer Wirtschaft ebenso unbekannt wie der Kaffee selbst. Töpfe und Näpfe gab es gar nicht, und das einzige, eigentliche Kochgeschirr war die Marmite, in welcher allenfalls ein ziemliches Schwein gesotten werden konnte. Was war in der Not zu tun? – Es gab eine Eierkuchenpfanne. In dieser ward der mit der Reibkeule gestampfte Kaffee übers Feuer gebracht und das bräunlich gefärbte Wasser alsdann in eine flache Schüssel gegossen und mit zinnernen Suppenlöffeln gegessen. Tassen waren hier so wenig als Teller bekannt. Die vortreffliche Milch, geröstet Brot und Butter machten vielleicht das Getränk genießbar, welches sonst mit einer Tasse Kaffee wenig Ähnlichkeit hatte.
Die Abendunterhaltung am Kamin. Sehe ich doch noch die Flammen aufblitzen, höre ich doch noch die Bratäpfel zischen. Wie wir so traulich um das Feuer saßen, ein freundliches Familienbild. Wenn die Unterhaltung einsilbig war, sprachen für uns die Äpfel. Jeder hatte einen an die Kohlen gelegt; wessen Apfel zuerst aufzischte, war der König für den Abend. Wie artig, zuvorkommend die Leute gegen mich waren! Ich erhielt immer den mürbesten, schönsten Apfel. In solcher Idylle sich liebenswürdig zu bewegen, ist auch nur eben den Franzosen und zwar nur denen der alten Zeit gegeben. Aber unsre Konversation konnte auch lebhaft sein. Wenn ich von den großen, steinernen Häusern der Stadt Berlin sprach, wie sahen sie mich verwundert an, und der Kapitän bestätigte alles, was ich sagte, und wußte noch viel mehr von der großen Königsstadt zu erzählen, Dinge, von denen der Gymnasiast nichts wußte. Er war zwei Jahre dort gewesen. Das Merkwürdigste, soviel ich mich entsinne, waren für ihn die stuckernden Charlottenburger Wagen und die hohen Hüte der Damen. Aber das Allerunglaublichste für seine Geliebte und deren Mutter war, daß ich behauptete, alle Menschen, nicht in Berlin allein, sondern auch in unsern Provinzstädten, ja, sogar in den Dörfern, trügen Schuhe oder Stiefeln von Leder. "Doch nur Festtags?" rief das junge Mädchen, ihre Sabots anblickend. Der Kapitän bestätigte meine Angabe, daß, wer bei uns nicht barfuß gehe, lederne Schuhe trage, daß die Holzschuhe zu den Seltenheiten gehörten, und die eigentlichen Sabots der Bauern in Frankreich bei uns gar nicht vorkommen. Dies glauben zu sollen, schien zu viel gefordert. Sie hätte eher geglaubt, daß bei uns ewige Nacht ist, als daß unsre Bauernmädchen lederne Schuhe tragen. Wie können sie denn Schuhe bezahlen! So fühlten wir uns denn doch in etwas reicher, in der Kultur fortgeschritten, in unserm Barbarenlande; denn so betrachtete der Franzose es damals noch. Diese Ansicht über die Schuhe ist übrigens nicht auf diesen Winkel der Pikardie eingeschränkt.
Wenn die Äpfel ausgedampft, das Feuer in Asche sank, die Unterhaltung stockte, und einer um den andern auf dem Schemel nickte, stand ich auf, um nebenan in die Äpfelkammer zu gehen, wo mein Bette stand. Einen Abend um den andern entspann sich alsdann folgendes Gespräch, dessen Monotonie in dieses Märchenstilleben gehörte:
Ich. " La lampe s'il vous plaît." ("Bitte, die Lampe.)
Die Wirtin. " Ah vous voulez vous coucher, monsieur. Voila!" ("Ah, der Herr will zu Bett gehen. Hier!")
Ich. " Bon soir!"
Alle. " Bon soir, monsieur!" Wenn ich mich auf meine Strohmatratze von ungebleichter Leinwand gelegt und behaglich gestreckt, rief ich: " Ne voulez-vous pas prendre la lampe?" ("Wollen Sie die Lampe nicht fortnehmen?")
Darauf antwortete des Kapitäns Stimme: " Oui, monsieur."
Er erscheint, fragt noch höflich: " Est-ce que vous êtes assez couvert?" ("Jawohl, mein Herr. Sind Sie auch gut zugedeckt?")
Ich. " Oui, monsieur."
Der Kapitän. " Bon soir, monsieur."
Die Tür geht zu, die Lampe verschwindet, die Äpfel duften süß und lieblich, und ein noch süßerer Schlaf läßt mich bald die Unterhaltung, die Ardennen, die Kantonierung, Strapazen und Krieg vergessen. So einen, so alle Tage.
Der Tagesanbruch konnte mich nicht wecken; denn der Tag brach in meiner Kammer nicht an. Gewöhnlich war es das Geräusch des Tropfenfalles vom Dache, was mich weckte. Ich hatte dann meine bestimmten Zeichen, die mich ans Aufstehen mahnten. Durch jenes Astloch mußte das Licht dann nun den Fleck berühren, der Dämmerschein durch die Spalte mußte den größten roten Apfel anhauchen. Das Spinnrad schwirrte dann so und so, der Kapitän schlug einen Nagel in die Wand oder hämmerte an den Sabots seiner Braut, und der kleine Junge lehrte seine Lieblingskatze oui sagen. Dann war es sechs oder sieben, und ich sprang auf. - Heute kam es mir vor, als hätte der Tropfenfall schon sehr lange gedauert; aber ich hörte noch nicht das Spinnrad, noch nicht den Nagel, noch nicht die Sabots. Auch die Katze quälte sich noch nicht, oui zu sagen; aber sie miaute kläglich mit den andern beiden Katzen. Das Licht aus dem Astloch war schon weit über den Fleck hinaus und der rote Apfel schon wieder dunkel. Ich sprang auf und in die Kleider; aber es blieb still wie vorher. Ich trat in die Stube. Da stand das Spinnrad ruhig an der Wand. Kein Kapitän und seine Braut, nicht der Knabe, nicht die Wirtin waren zu sehen. Die Türe war zugemacht, das Feuer im Kamin schwankte langsam hin, und in der Marmite kochten nur die Rüben- und Kartoffelabzüge für Kühe und Ferkel. Ich rief: keine Antwort. Was war das? Ich suchte und fand keine Spuren. Die Ausgehröcke waren von den Nägeln fort. Hatten meine Wirte mich verlassen? Konnten sie es nicht mehr aushalten von der Einquartierung? War eine Verschwörung im Werke, eine Sizilianische Vesper? - So grau, so einförmig grau war der Tag noch nie gewesen. Ich öffnete die Türe; es stäubte mir naß entgegen, ringsum nichts als gelbe Blätter, dürre Äste, in der Ferne rote Wipfel, die ihr Laub abschüttelten. Ich schrie hinaus. Nur die Hühner im dampfenden Stalle antworteten.
Ein, zwei Stunden vergingen in diesem lautlosen grauen Gemälde. Ich hatte glücklicherweise Milch in der Kammer und Brot gefunden, das Feuer war angemacht, und ich hatte mein Frühstück mit den Katzen geteilt, die ebenso verlassen schienen als ich. Sie müssen wiederkommen. Ich schlug inzwischen die Nibelungen auf, die ich so lange außer acht gelassen. Aber - war es der französische Boden oder das Milchfrühstück oder der Nebel - die kernigen Gestalten der alten Sage paßten nicht hierher. Sie vermehrten nur meine Ungeduld. Ich legte mich aufs Horchen, etwa wie König Günther in der verhängnisvollen Nacht. Jedes Rauschen in den Sträuchern, jedes Blatt im Winde erregte meine Aufmerksamkeit. Ich schlich zu den Hühnern, zu den Kühen, zum Ferkel. Wenigstens hatte ich Gelegenheit, zu beobachten, daß diesen Tieren nichts von den Schauern der Märcheneinsamkeit beiwohnte. Sie krähten, wühlten, streckten sich und flatterten, gerade wie sie es taten, wenn die Bauernfamilie im Hause war. Nur die Katzen nicht so. In ihnen war etwas Unheimliches. Wie wenn ... wir vom damaligen jungen Deutschland, ich meine den ästhetischen Nachwuchs der Romantiker, gaben uns alle Mühe, als Beihilfe zum Patriotismus die nüchterne Vernunft unsrer Väter zuschanden zu machen und im Alltäglichen wunderbare Sympathien aufzusuchen. In manchen Dingen hatten wir es schon weit gebracht - wie leicht wäre es meiner Phantasie geworden, das Märchen vollständig zu konstruieren, die Katzen für verzaubert zu halten, und warum sollte dann meine Wirtsfamilie nicht eine Hexenfamilie sein, die an einem gewissen Monatstage ihre natürliche oder unnatürliche Gestalt als Katzen annahm? Es stimmte so vieles: die einsame Lage des Gehöftes, niemand besuchte sie, niemand sprach von ihnen, sie lebten in den Tag hinein, ohne Arbeit. Ihre Unterhaltung war so sonderbarer Art. Die Alte spann, nicht allein am Rade, sondern auch wenn sie sprach, mit den Lippen; der weiße Teint ihrer Tochter, einer Bauerndirne, ihre sonderbare Krankheit, und - wenn nicht ein verwünschter Prinz, doch ein verbannter, verzauberter Kapitän der großen Armee als Knecht in der Hütte!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich 1815