Abschnitt 6. Die Armee hatte ungeheure Verluste und war erschöpft, Eilmärsche ohne Rasttage über Aachen nach Lüttich.

Der Nacht- und Morgenmarsch, die heilige Stadt Köln, Speisehaus auf dem Salmenack, die Fassade der Cour Royale und des Hotel Bellevue.

Es war aber noch viel zu tun, eine große Nachlese. Die Armee hatte ungeheure Verluste und war erschöpft. Unsre Order lautete deshalb, in Eilmärschen ohne Rasttage über Aachen nach Lüttich aufzubrechen. Nicht einmal in Köln ward uns der allen sehr benötigte Ruhetag gegönnt. Konnten wir die älteste, herrliche Stadt unsres Vaterlandes nicht besichtigen, so wollten wir wenigstens ihren Wein trinken und auf den Sieg der deutschm Sache anstoßen. Hell klangen die Gläser, einer Zukunft entgegen, von der wir uns die wunderlichsten Vorstellungen machten.
Aber in meinem Tagebuch steht gleich darauf ein tiefer Stoßseufzer. Der Nacht- und Morgenmarsch hatte uns so ermüdet, daß wir nicht allein nicht die heilige Stadt Köln, ja, nicht einmal den Dom besehen konnten, sondern daß uns beim Anstoßen selbst die Augenlider zusanken, und die letzten Gläser sich unwillkürlich senkten, bevor wir sie an die Lippen gebracht. Mein schmales Bett teilte ich nachher mit einem Feld- und Schulkameraden, der, wie er versicherte, in ein gar zu abscheuliches Loch gelegt worden, während ich diesmal ein ziemlich gutes Quartier bei einem Speisewirt Rothmllller erhalten hatte. Ich finde nicht allein seinen Namen, sondern die Nummer des Hauses und den Straßennamen verzeichnet, ein Zeichen, daß es mir hier wohl erging oder gefiel; denn nur die Quartiere, wo mir sehr behaglich oder sehr unbehaglich zumute wurde, habe ich aufnotiert. Sollte also zufällig noch ein Speisewirt Rothmüller oder ein solches Speisehaus auf dem Salmenack existieren, so stelle ich dem freundlichen Leser in Köln, den es interessieren sollte, anheim, sich das Haus bei einem gelegentlichen Spaziergange anzusehen – es wird nicht grade die Fassade der "Cour Royale" oder des "Hotel Bellevue" haben –, rate ihm indes nicht von den großen weißen Bohnen zu fordern, davon mir eine ganze Schüssel vorgesetzt wurde. Es ist eine neunundzwanzigjährige Erinnerung, aber ich weiß sehr deutlich, daß der Wirt zu seinem Erstaunen, als er sie fortnahm, nur am äußersten Rande eine Lücke bemerkte. Es sei doch ein Lieblings- und Nationalgericht! Ich versicherte errötend, die Bohnen wären vortrefflich, ich nur zu erschöpft, um ihren Wert zu würdigen.
Gern hätte ich dem Kameraden noch die Hälfte meiner Hälfte des schmalen Bettes abgelassen und auf der Seite die ganze Nacht gelegen, wenn ich mir dafür nur eine Stunde Schlaf mehr hätte erkaufen können. Denn schon nach drei Stunden mußten wir aufbrechen, um uns gegen ein Uhr in der Nacht zum Abmarsch zu stellen. So bedurfte man unser im Felde! – Hunger, Durst, die Strapazen der Märsche, das hätten wir alles ertragen gelernt und ertragen; nur nach mehr Schlaf sehnte sich der Leib. Ein sechzehnjähriger Leib, das bedenke man wohl. Wenn ich die Tagesmärsche, welche wir auf dem Hinmarsch zurückgelegt, jetzt auf der Karte verfolge, auch die spätern in Frankreich selbst, und sie mit den ordnungsmäßigen Militär-Etappen vergleiche, so darf ich mich verwundern, wie so junge, ungeübte Soldaten sie aushielten. Dazu die wenigen Ruhetage, und oft, wenn wir todmüde ankamen, noch die Verpflichtung Nachtwachen zu beziehen. Rechnete man noch immer auf den moralischen Impuls, der alles ausgleichen müsse, oder hielt man uns für durchaus notwendig, um den Krieg zu Ende zu bringen? Ich bin, wie ich glaube angeführt zu haben, seitdem ein freiwilliger guter Fußgänger geworden; aber als Freiwilliger war ich noch kein guter Fußgänger, und viele mit mir.
Indem ich dies schreibe, lese ich meines Freundes Holtei "Vierzig Jahre" aus seinem Leben, wo auch er die Mühseligkeiten seines freiwilligen Jägerdienstes in so launiger Weise schildert. Wie wir in Klagen und Betrachtungen übereinstimmen! Wir hatten damals voneinander keine Ahnung, wir hatten nie darüber gesprochen, und doch steht dasselbe in unsren Tagebüchern. Schlaf, nur etwas mehr Schlaf, und alles andre dafür geopfert! Selige Jugendzeit, wo dies der größte Wunsch ist. Er schlief sogar im Marschieren. Ich glaube, späterhin ist mir das auch einigemal begegnet; bei Nachtmärschen, welche über meine Jugendkräfte gingen. Und doch habe ich sie überstanden. Es glaubt niemand, wie viel er aushalten kann, wennschon geringere Anstrengungen bei der Ruhe und Bequemlichkeit eines Alltagslebens ihm unmöglich dünken. Daran ward ich oft bei meiner Reise in Norwegen und den Lappmarken (1827) erinnert, als ich durch Moraste watete, durch brausende Bergströme und jähe Felsabhänge hinabritt oder vielmehr mit meinem treuen Tiere glitt und rutschte; Berglehnen durch Urwälder hinab kletterte, wo modernde Stämme, seit Jahrhunderten umgesunken, dick mit Moos überwuchert, jeden Schritt unsicher machten. Wie gering dagegen erschienen mir in der Erinnerung die Strapazen des Feldzugs, und hätte man mir vorher in der Studierstube alle diese Fährlichkeiten nur geschildert, so hätte ich sie für unverträglich mit meiner Leibesbeschaffenheit geachtet.
Man lernt Schlafen und Wachen in der großen Schule des Lebens, wie so vieles andre, was im Alltagsleben für unmöglich gilt. Alexander schlief ruhig, ich glaube vor der Schlacht von Gaugamela, und Egmont und vielhundert andre, minder berühmte Männer ebenso sanft und fest vor ihrer Hinrichtung. Auch viele meiner Kameraden, freilich die schon viel Leben hinter sich hatten, aber der Meinung waren, es müsse genossen werden, solange es frisch ist, konnten die Nächte nach beschwerlichen Tagesmärschen wachen und noch mehr, und beim Marsch am nächsten Morgen waren sie so wohlgemut und teilten ihre Erfahrungen und Abenteuer der Nacht in einer Sprache mit, die uns Novizen erröten machte. –
Verdrossen und schlaftrunken traten wir an auf dem Sammelplatz, und noch lag es schwer auf meinen Augen, als wir durch die öden, hohen Straßen und die alten Tore marschiertm. Die Mauern und Türme schienen mir riesenhaft groß, und als wollten sie kein Ende nehmen. Die Phantasie oder Gespensterträume haben mit gesehen; denn nach Frankreich nahm ich die Vorstellung mit, daß es samt und sonders Römerwerke wären. Der erste Tagmarsch war bis Düren angesetzt, fünf gute Meilen; aber durch Mißverständnisse und schlechte Boten wurden auf einem Umwege sieben Meilen gemacht, und auf der letzten waren unsre Kräfte so erschöpft, daß unser fünf sich einen Bauernwagen mieten mußten. Man strich uns vom Rheine ab die Rasttage; dafür wurden uns noch Wagen für unsre Tornister zugestanden. Das war zwar Erholung für Rücken und Brust, aber keine Entschädigung für den entbehrten Schlaf. Wir kamen daher bittweise ein, uns wenigstens in den Nächten ausschlafen zu lassen, und die Bitte wurde insoweit gewährt, daß wir von nun ab nicht vor drei des Morgens aufbrechen sollten.
Wer heute in zwei Stunden von Köln nach Aachen fliegt, klagt über die Monotonie des langweiligen Weges. Dem Jäger-Detachement, welches in Staub, Sonnenbrand und Regen dritthalb Tage auf diesem Wege marschieren mußte, kam er gewiß nicht weniger langweilig vor; und man nehme hinzu, daß wir hinter uns einen Marsch von nahe an achtzig Meilen hatten, abgetrieben und abgerissen waren, an Kleidern und Schuhen und vielfachen kleinen Verlusten, welche sich nur mit Zeitaufwand und in größeren Städten ersetzen lassen. Ich zählte meine Verluste im Briefe nach Hause auf und finde darunter viele blanke Knöpfe, mein Taschenmesser, ein schon schmerzlicherer Verlust, und der allerempfindlichste für einen Kurzsichtigen – meine Brille! Ich seufzte nach einer Stadt, die Mehrzahl meiner Kameraden nach dem Kriege. Nicht gerade wegen des Krieges selbst, sondern weil man im Kriege mehr Erholung hat als auf solchem Marsche. Unsre Veteranen bestätigten das. Ein solches Hundeleben hätten sie 1813 und 1814 nicht geführt. Es gab Wohl auch Strapazen, manchmal ärger, aber sie kamen nur als Intermezzos, und man wußte doch, wofür es war. Es gab immer Unterhaltung, Abwechslung; Furcht und Hoffnung würzten die Anstrengung, und die Seele war in einem beständigen Rausche.
Wie es bei Magdeburg und Köln der Fall war, marschierten wir auch nur durch Aachen. Wirklich, auf unsre historische Bildung hatte man bei Entwerfung oder Ausführung unsrer Marschroute wenig Rücksicht genommen. Ich fand, als ich zufällig die alte Kaiserstadt erst im vorigen Jahre wiedersah, auch nichts, woran sich meine Erinnerung knüpfen konnte. Entweder hatte sich Aachen so umgeändert, oder ich hatte gar keinen Eindruck mitgenommen, während ich doch von vielen kleinern Orten, ja, Dörfern ein bestimmtes Bild im Kopfe trug, woran doch etwas, wenn ich den Ort in spätern Jahren wieder sah, sich als richtig bewahrte.
Es ging geradeswegs durch Aachen nach Lüttich zu. Fortwährender Regenhimmel und Regengüsse. Die gepflasterten Chausseen taten unsern Füßen sehr weh; die Nachrichten von den Verlusten unsrer Armee, die, an und für sich groß, durch das Gerücht und von Mund zu Mund gehend, noch größer wurden, trugen nicht dazu bei, uns heiterer zu stimmen, als der Himmel war. Namentlich sollte unser Regiment Kolberg die Hälfte seiner Leute verloren haben; darunter auch viele freiwillige Jäger, welche, glücklicher als wir, früher auf dem Kampfplatz angelangt waren und, ehe sie noch das Spiel des Krieges erlernt, dessen fürchterlichsten Ernst erfahren hatten. Ich erinnere hier an die Schrift des Predigers König: "Wanderungen durch Schulhaus, Feld und Kirche", welche über die Schicksale der ersten Freiwilligen des Regiments Kolberg lebendige Nachrichten gaben. Auch der Kommandeur des Regiments, von Zastrow, war den Heldentod gestorben. Ich habe ihn nie gesehen; aber seine Erinnerung lebte höchst ehrenvoll im Regimente und der Armee fort.
In jeder Viertelstunde begegneten uns Züge langsam fahrender Wagen mit Verwundeten, die in die Lazarette von Aachen, Köln und Düsseldorf geschafft wurden. Die Feldlazarette und die in den nächstgelegenen belgischen Städten waren sämtlich überfüllt. Eine traurige, beschwerliche Reise, und wie weit, um Pflege und Heilung zu suchen! Ich erinnere mich nicht, daß uns der Anblick anders ergriffen hätte als mit dem Mitleidsgefühl, welches jeder Gutgesinnte Leidenden zollt, und zumal Leidenden, die als Opfer für die gemeinsame Sache gefallen sind, Wunden und Tod schienen unsern jugendlichen Gemütern als zur Sache gehörig und darum nicht so absonderlich und schreckhaft; lange Kreuz- und Quermärsche ohne Not, Putzen und Paradieren aus Eigensinn, schlechte Quartiere, unnützes Frühaufbrechen und zu wenig Schlaf, diese Verdrießlichkeiten des Lebens fanden uns weit empfänglicher und aufgeregter als die eigentlichen Krisen und Katastrophen. In die Schrecken der Lazarette hatten wir freilich noch nicht geblickt, den Pesthauch kaum geatmet, wenn die Türen geöffnet worden, um in die Krankensäle frische Luft zu lassen, und die verderbte, von Leichenschweiß und den letzten Seufzern Sterbender geschwängerte dringt heiß wie Höllenbrodem, wie der Atem verpesteter Sümpfe heraus. Wenige von uns hatten auf die Reihen von Marterbetten gesehen, die dort aneinander gereiht stehen: Marterbetten vielleicht um der Qualen willen, die jeder selbst an sich erduldet, mehr aber, wenn er den eigenen Schmerz überwunden, an den blassen, verzerrten Gesichtern, an den Todesseufzern seiner Nachbarn, wenn in jeder Stunde ein eben Gestorbener, an den vier Zipfeln des Leichentuches gefaßt, hinausgetragen wird, und auf das noch von seinem Todesschweiß gefeuchtete Bett wartet schon ein anderer, der bis da auf Stroh, vielleicht auf der harten Diele hat liegen müssen! Es gibt etwas noch Entsetzlicheres für den Verwundeten, die Eiskälte, die Gleichgültigkeit der Ärzte und Chirurgen. Von den Krankenwärtern – wer erwartet es anders; entweder Verworfenheit, Elend, Armut zwang sie zu dem Dienst, den jeder flieht, der ihn nicht aus Tugend sucht, oder er wird von Gefangenen mit Schauder und Widerwillen versehen! Aber von Männern der Wissenschaft, Männern, denen ihre Studien Humanität eingeflößt haben müssen, erwartet der Kranke Teilnahme, sorgsame Erkundigung, treue Pfiege. Daß auch das jugendliche Träume bleiben mußten, wenigstens nach einer Schlacht von Waterloo und Bellealliance! Nicht alle Wundärzte in einem blutigen Kriege können Männer sein, welche durch langjährige Studien Humanität gelernt haben; man ist zufrieden, wenn man Arme genug findet, um zu schneiden und zu verbinden. Und die wissenschaftlichen Wundärzte, denen die Verwundeten zugezählt, vielleicht sogar zugemessen worden, nach Karren, Wagen ober Kahnladungen, haben nicht Zeit, zu verweilen bei dem einzelnen. Es ist ihre Pflicht sogar, eine entsetzliche Pflicht, schnell fortzueilen von dem einen zum andern; denn hielten sie sich zu lange bei dem ersten auf, so stirbt indessen vielleicht der zehnte oder der hundertste! Nicht ein Fall, eine Verwundung, die sie besonders interessiert, nicht ein Kranker, dessen Gesicht und Wesen ihr Mitleid in Anspruch nimmt, darf die Pflichtgetreuen besonders fesseln: vor ihren Messern sind alle gleich. Und doch nicht ganz gleich. Der General geht dem Gemeinen vor, die Rangordnung gilt bis zum Tode.
Auf den Wagen mit blassen Gesichtern lag auch vielleicht einer meiner nähern Bekannten. Er ist seitdem ein namhafter, ausgezeichneter Gelehrter geworden und Professor an einer Universität. Damals war er ein Gymnasiast wie ich, wegen seines Fleißes nicht allzu berühmt, aber wegen seiner Neigung und Anlagen für die Mathematik der "Mathematikus" genannt. Wir sämtlich in unsrer Klasse, nicht von denselben Anlagen und noch weniger Eifer für die arithmetischen und mathematischen Studien erfüllt, ließen ihn für uns lernen, Fortschritte machen und – antworten. Der Lehrer, selbst ein ausgezeichneter Mathematiker, war auch ganz damit zufrieden gewesen, und ein stiller Pakt hatte obgewaltet, daß wir uns gegenseitig nicht genierten. Dem Lehrer war seine Wissenschaft zu lieb und zu heilig, als daß er sie uns, die wir unwürdig uns gegen sie sträubten, hätte aufdrängen sollen. "Meine Mathematik ist viel zu gut für die Jungen!" pflegte er zu seinen Vertrauten zu sagen. Uns überließ er unfein Gedanken und Spielereien, und für sich und seinen Lieblingsschüler war die mathematische Stunde ein Privatissimum, in welchem beide wetteiferten, die Wissenschaft weiter zu fördern. Seltsam! wie unser Freund uns in der Mathematik vertrat, sollte er uns auch in der offenen Feldschlacht vertreten. Ich weiß nicht mehr, durch welche günstigen Umstände er um ein paar Wochen uns voraus zur Armee gekommen war; genug, kaum nach den ersten Exerzitien machte er die Schlacht mit. Im Tiraillieren auf einer kleinen Anhöhe stehend, wird er in dem Augenblicke, wo er die Büchse wieder ladet, von einem französischen Tirailleur unten an der Hecke so getroffen, daß die Kugel ihm unter dem Kinn eindringt, einige Zähne fortnimmt und zur Backe wieder hinausgeht. Wahrend er umsinkt, rächt ihn sein Partner. So möchte ich nämlich den zugeteilten Bundesbruder beim Tiraillieren nennen, der mit mir hinter demselben Gebüsch, demselben Stamm oder Graben versteckt, sein Gewehr nicht eher abschießen soll, bis ich meines wieder lud. Beide sind eine Person im Gefecht, beide umschichtig Schild und Waffe, beide sollen wenigstens immer eine geladene Büchse haben. Daß das Soll nicht immer das Ist ist, ist eine Sache für sich. Unsres Freundes Partner war auch unser Freund; er streckte durch einen glücklichen Schuß den französischen Tirailleur, der vergebens in die Hecke zurücksprang, tot nieder. Dieser Rächer ist auch ein bekannter Mann geworden. Nach dem Feldzug ward er Demagog, dann Philhellene, er versuchte in Attika die Akropolis zu stürmen; später Hauslehrer bei Niebuhr in Rom, dann deutscher Lehrer in London, ist er jetzt Professor an einer Universität in Nordamerika, Herausgeber des Amerikanischen Konversationslexikons und ein sehr geachteter Mann. Ich habe keinen Grund Zu verschweigen, daß es Dr. Franz Liber ist in New-Boston. Und wenn ich weiter nachdenke, habe ich auch keinen Grund, den Namen unsres freundlichen Lehrers in der Mathematik zu verschweigen, es war Dr. Nordmann, und ebensowenig den Namen seines Lieblingsschülers, jetzt des Mineralogen Neumann in Königsberg, ein alter noch befreundeter Schulkamerad, von dem mich nun über zwanzig Jahre getrennt haben, dessen Sein und Wesen ebenso eigentümlich und dessen Jugendgeschichte sogar derart romantisch zu nennen ist, daß er seinen Freunden einen Liebesdienst erzeigte, wenn er sie niederzuschreiben sich entschlösse.
Der Mathematikus ward vom Schlachtfelde vor Fleurus fortgetragen und lag bald auf einem jener offenen Wagen, welche mit Schwerverwundeten wie er überfüllt, ungeschützt vor Sonnenbrand und Regengüssen, ihren langsamen Weg nach dem Rheine antraten. Wo man sich seiner annahm, mußte man ihm durch Federposen die Flüssigkeit einstoßen, um seinem sonst gesunden Körper Nahrung zu geben. Ich weiß nicht, wo es war, daß ein Chirurg die Revue über einige Hundert Verwundeter abhielt; er war darunter. Der Wundarzt öffnete ihm leicht mit dem Finger den Mund, und mit einem lauten, kalten "Inkurabel!" ließ ei ihn wieder fallen und wandte ihm den Rücken, um zum nächsten überzugehen. Unser Freund sah schon im Geist die Grube gegraben, in die er – mit wie vielen andern! – geworfen werden sollte. Und er fühlte sich doch noch so frisch, so viele Lebenslust in sich. Er knirschte die Zähne zusammen, er hätte können den kaltherzigen Wundarzt in seine Arme packen, er hätte ihn gern in die Grube mit sich hinabgerissen. Zum Glück galt der Ausspruch eines Wundarztes in der preußischen Armee nicht für so unfehlbar wie das Verdikt einer Jury in Frankreich und das Wort des Papstes in Rom. Es war damals auch Untergebenen erlaubt, an den Aussprüchen ihrer Obern zu zweifeln, wo es die Rettung eines Menschenlebens galt. Der "Unheilbare" ward auf seine oder auf die Fürbitte andrer noch nicht in die Grube geworfen, sondern, ich glaube, in einen Kahn gepackt und nach Düsseldorf geschickt, wo er unter der sorgfältigen Pflege edler Menschen und minder beschäftigter Ärzte in Zeit von einigen Wochen vollkommen wiederhergestellt wurde. Er versicherte uns oft nachher, das Wort "Inkurabel!" von den Lippen des Chirurgs dröhne ihm noch nachts und tags in den Ohren, und dabei bemeistre sich seiner eine Wut, die ihn, den sehr ruhigen Mann, wie es sich bei einem Mathematiker von selbst versteht, zittern mache.
Seltsame Gegensätze! Mit den letzten Wagen, die voll Verwundeter aus Lüttich uns entgegen kamen, strömte eine Masse von Gesindel, eigentlich Gassenbuben, uns in der Stadt entgegen, um – bei den Soldaten zu betteln! Aber in welcher Art! Sie schossen, was man "Kobolz" nannte, Purzelbäume; mitten im Kot der Chaussee wälzten sie sich, mit Armen und Beinen Rad schlagend, oft mehrere Minuten vor uns her und streckten dann ihre schmutzigen Hände nach einigen Sousstücken aus. Ich glaube nicht, daß ihr Lohn die Arbeit lohnte.
Lüttich, ich sah es seitdem nicht wieder, hat einen ernsten Eindruck auf mich zurückgelassen; seine engen, hohen, gewerblichen Straßen wurden noch düsterer durch das Regenwetter und trugen für mich den ehrwürdigen Charakter einer Reichsstadt; nur schade, daß die Leute nicht mehr Deutsch sprachen und auch keine Lust zu haben schienen, es zu lernen. Weil ein neuer Transport von 2000 Verwundeten erwartet wurde, erhielten wir hier weder Quartier noch den verheißenen Ruhetag, mußten vielmehr über die Maas in ein erstes wallonisches Dorf, bei dem berühmten Seraing, deutsch Serning.
Das war eine neue Welt für mich. Andre Sprache, Gebräuche, Lebensart, Wohnung, Nahrung. Ich entsinne mich wenig mehr davon, als daß mein bißchen Französisch mit ihrem bißchen Französisch in seltsame Kollisionen geriet. "Wir sprechen nicht Französisch, wir sprechen nur Wallonisch," wiederholte oft genug meine Wirtin; aber zur Belohnung dafür, daß ich mir doch Mühe gab, mich mit ihnen in Freundlichkeit zu verständigen, was nicht alle meine Kameraden tun mochten, setzte sie mir, als ich von meinem Strohlager erwachte, eine Schüssel schöner Kirschen hin, eine Erquickung, die mir bis heute lebhaft im Gedächtnis blieb. Dafür aber bestand meine ganze Abendmahlzeit in einer Schüssel Salat, über die etwas aufgelöster Speck gegossen war, was nicht viel ist für den Hunger, wenn man erwägt, daß ich kein Mittagsbrot gegessen hatte, weil die Wirtin mir erklärte, das sei nicht Sitte, wenn man erst um drei ins Quartier komme. Auch die herkömmlichen Eier, die ich mir zu den grünen Blättern erbat, verweigerte sie; denn das sei auch nicht Sitte. Ich muß gestehen, daß mir die wallonische Sitte nicht gefiel.
Desto mehr gefielen mir die Ufer der Maas. Sie sind gewiß von großer Schönheit an vielen Punkten, mir aber, der ich dergleichen noch nicht gesehen, erschienen sie entzückend. Obgleich wir auf dem nächsten, glücklicherweise nur kurzen Marsche bis Huy die Tornister tragen mußten, weil alle Wagen für die Verwundeten gebraucht wurden, und dazu noch vierzig Patronen, der noch umherstreifenden Franzosen wegen, erquickte sich doch mein Geist and Leib an dem Anblick. Von Huy bis Namur ertrotzten wir uns einen Kahn, und das schönste Wetter begünstigte die schöne Wasserfahrt. In meinem Briefe schwelge ich in Schilderung der grauen Felsenufer, mit üppigem Grün bekleidet, der Burgen und modernen Schlösser, die auf den Höhen kleben und zwischen den Felsen, in den Schluchten malerisch angenestelt sind, der lachenden Wiesen, die sich bei jeder Felsöffnung präsentieren. Ich bin verdrossen, daß dieser halbfranzösische Fluß, die Maas, mir so viel schöner vorkommt als der alte deutsche Rhein bei Köln. Auch einen so prachtvollen gotischen Dom wie den von Huy hatte ich mir außer Deutschland nicht als möglich gedacht. Aber in wahre Begeisterung breche ich beim Anblick von Namur aus, das im vollsten Sonnenlichte mit seiner hohen Burg uns entgegenstrahlte, und mein einziger Trost dafür, daß es in der Französisch sprechenden Fremde so schön sei, ist mir der, daß die Franzosen bei ihrem letzten Vordringen in Belgien die Burg von Namur nicht inne hatten.
Es war allerdings eine schöne Wasserfahrt, und noch heute steht sie mir lebhaft vor dem Sinne. Aber gegen zweihundert Jäger in einen Kahn gesperrt, ohne Küche, Keller und Speisekammer und ohne einen Bissen Brot im Brotsack, und vom Morgen bis gegen Abend ohne anzuhalten, der brennenden Junisonne ausgesetzt, das ist gerade kein Vergnügen, welches sich mit einer Rheinfahrt auf dem Dampfboot vergleichen läßt. Aus Hunger tranken wir das Maaswasser, und ich glaube, zuletzt hatte ich alle grauen Felsen hingegeben für ein Stück Weißbrot. Mit Dankbarkeit erinnere ich mich dafür meines recht guten Quartiers bei dem Ackerbürger Macedoine in Namur, wo es Bier, Weißbrot, Eier und Käse zum beliebigen Gebrauche gab und Betten, die der belgischen Reinlichkeit Ehre machten.
Wo unser Regiment stand, wußten wir nicht, es wußte es niemand. Noch herrschte überall die Nachdröhnung der ungeheuern Schlacht, welche der Politik wohl eine bestimmte Richtung gab, aber in allen administrativen Dingen die äußerste Verwirrung zurückgelassen hatte. Wie Japhet seinen Vater, wurden wir hinausgeschickt unser Regiment uns zu suchen. Aber noch waren die Wege unsicher, oder es hieß, daß sie es waren von den versprengten, umherstreifenden Franzosen. Und deshalb mußten wir in Namur uns wieder mit andern Jäger-Detachements vereinigen, was gewiß hinreichende Sicherheit verschaffte, aber auch sehr viel Unbequemlichkeit. Jeder von uns, und unsre Führer nicht minder, hätten gern die Sicherheit fahren lassen, um lieber auf Gefahr eines kleinen ersten Abenteuers auf eigene Hand zu marschieren.
Es war ein drückend heißer Juniustag, als wir erst morgens um sieben Uhr Namur verließen, um nach Charleroi zu marschieren: der denkwürdigste Marschtag im ganzen Feldzuge für mich, ob auch gleich von Begebenheiten nichts Sonderliches vorfiel. Es war mein Geburtstag, und ich wurde siebzehn Jahr alt auf – dem Schlachtfelde von Belle-Alliance! Ja, auf diesen Feldern, aus diesen Straßen zwischen Namur, Wavre, Sombref, Genappe und Charleroi war die große Schlacht geschlagen worden, die Europas Schicksal noch einmal entschied, und auch unsres: wir waren um etwa zehn Tage zu spät gekommen. Vor zehn Tagen waren dort Blücher und die Preußen, von Napoleon überfallen, nach tapferer Verteidigung, Schritt für Schritt weichend, geworfen worden; dort hatte der Herzog von Braunschweig seine Heldenseele ausgehaucht, dort Wellington mit seinen Engländern und Schotten die französische Kavallerieattacke ausgehalten; von dorther waren Blücher und Bülow wieder gekommen am Entscheidungsabende, und die wilde Flucht und Verfolgung war über diese Felder getost.
Ja, wer das alles gewußt hätte! Die Lüfte erzählten es nicht wieder. Die Sieger und die Besiegten waren fort, auch die Landbewohner, die davon Zeugen gewesen. Es war ein großes Stück Geschichte geschehen, aber uns dröhnte es nur als Gerücht in die Ohren. Die Namen Quatrebras, Fleurus, Waterloo und Belle-Alliance, sie existierten wohl, aber noch in ihrem tiefen Dunkel. Überall fehlte die ordnende Hand, welche die Fäden des Geschehenen erst zur Geschichte wob, und wir gingen fast stumpfsinnig, wo nicht gleichgültig über Gegenden, wo jeder Fußtritt klassisch war. Hätte es schon eine Geschichte gegeben: mit wie andern Augen würden wir Städte, Dörfer und Flecken angesehen haben!
Und doch war das nicht ein entsetzliches Bild – und ich sah nie ein ähnliches – so weit unser Auge reichte: niedergetretene Kornfelder! Wie auf den Boden gestampft die goldenen Ähren, die Büsche durchschossen, zerrissen, die Weidenbäume an den Gräben niedergebeugt. Hier am Rande das Erdreich aufgewühlt, dort wie geglättet; nichts in seiner vorigen Ordnung. Hier hatten tausendmal tausend Hufe den Acker zerrissen und die Regenströme nachher die Verwüstung nicht wieder verwischt. In diesem Graben, hinter diesem Walle hatten Leichen gelegen; es stand nicht an einer Tafel geschrieben, aber der Instinkt sagte es. So dunkel war der Boden von dem eingesogenen, vertrockneten Blute. Hier hatten Flüchtige sich am gebrochenen Baumast über den breiteren Graben geschwungen; aber die weite Ebene drüben verriet, daß sie den verfolgenden Reitern doch erlegen waren. Links und rechts vom Wege frisch aufgeworfene, breite Erdhügel. Wie viel Hunderte, Freunde und Feinde mochten darunter schlummern! Hie und da standen noch auf den niedergetretenen Feldern einzelne Ährenbüschel, aber geknickt. Ihr herabhängender Fruchtbüschel hatte Blut getrunken.
Die menschlichen Leichname waren schon fortgeschafft und der Mutter Erde übergeben. Nur eine dürre Hand fanden wir am Wege. Die brennende Sonne hatte die Fleischteile vertrocknet. Wem mochte sie gehört haben? Einem Freunde, einem Feinde? Unfern davon, wo ihr toter oder noch lebendiger Eigentümer, sie dem Staube und den Würmern hinterlassen, ruht jetzt ein Bein unter einem Marmordenkmal, und alljährlich am Schlachttag von Waterloo kommt der ehemalige Besitzer dieses Beines dahin mit seiner Familie, aus England oder gar aus Irland, um in ernster Feier des heißen Tages zu gedenken, als er das teure Glied verlor. Von Lord Pagets (Marquis Anglesey) Beine wußten wir damals nichts. Aber Pferde, in der Sonne geröstete, von den Krähen umschwärmte, hier grießliche, rotbraune Fleischmassen, von Fliegen und andern Insekten bedeckt, dort schon abgezehrte Gerippe, lagen noch viele weit umher zerstreut. Noch hatten die Kräfte nicht gereicht, diese Spuren der Vertilgungsschlacht verschwinden zu machen, und der Geruch war abscheulich.
Denke man sich eine glühende Julisonne, die auf einer weiten Ebene drei Tage schon hintereinander schien, die Tausende verwesender Pferde über der Erde, und unter ihr in leichten Gruben noch mehr Tausende von Leichen, und das so fort meilenweit, und kein kühlender Luftzug oder Staub, so weit die Chaussee reichte, von den Marschierenden, den Rossen und Wagenrädern aufgewühlt! Es war eine pestilenzialische Luft, und unsre Zunge klebte an dem Gaumen.
Ein ernsthafter Ernst müsse uns da erfüllt haben, wird man denken. Ich entsinne mich dessen nicht, noch finde ich etwas davon in meinen Briefen verzeichnet. Der Durst, die Erschöpfung, der Staub, der Sonnenbrand lenkten die Aufmerksamkeit immer wieder auf uns selbst zurück. In einem halb zerstörten Flecken, wo wir einen Augenblick rasteten, nicht eigentlich um zu rasten, sondern weil der Weg sich verstopfte, gelang es einem von dreien – wer der dritte war, weiß ich nicht mehr, noch ob es dieser, ich oder unser Offizier war (derselbe unglückliche Stifter des Hermannsbundes) – eine Flasche Wein für schweres Geld zu erhalten. Zu dreien verteilt, war es für jeden ein Tropfen auf ein heißes Blech gegossen. Aber man erzählte uns von den Schrecken der vorangegangenen Tage: wie diesem, als er aus dem brennenden Hause floh, ein Sparren auf den Rücken fiel, und hätte er nicht einen Bettsack getragen, so wäre er erschlagen worden. Jener war wirklich zu Schaden gekommen. Drüben in der Mühle hatte eine Paßkugel der Müllerin den Kopf vom Rumpfe genommen! O, es gab viele Geschichten, die gewiß tragisch waren für den, den sie betrafen; daß dieser Ort, wo die Leute nur dafür Sinn hatten, aber das verhängnisvolle Fleurus war, aus dessen brennenden Straßen unsre Truppen, namentlich unser Regiment, Schritt für Schritt kämpfend, blutig hinausgeschlagen worden, ohne seine Ehre zurück zu lassen, das erfuhren wir erst, als wir hinaus waren! Die Weltgeschichte muß vor dem Privatschmerz zurückstehen.
Knöpfe, Flintenkugeln, Bänder, Fetzen, was umher lag und einst Herren gehört hatte, die wahrscheinlich nichts mehr auf dieser Erde besitzen konnten, und was Plünderer, Totengräber und Marodeure sogar als wertlos beiseite geworfen hatten, wurde noch aufgerafft, aus Pietät oder der Seltsamkeit wegen, doch um meist auf dem nächsten Marsche wieder fortgeworfen zu werden. Andre freilich trieben mit Gegenständen, die etwas mehr Wert verrieten, einen Handel, Das war die Stimmung der meisten, als wir über das Schlachtfeld von Waterloo marschierten.
Die Stadt Charleroi sah halb verwüstet aus. Wenige ganze Fensterscheiben, eingestoßene Türen, eingerissene Mauern, Fetzen und Lumpen umhergestreut. Ein Teil der Bewohner war entflohen, in den bewohnten Häusern war mehr Einqartierung, Gesunde und Kranke, als sie fassen konnten. Wir mußten deshalb noch eine Stunde weiter in ein Dorf, dessen Namen ich vermutlich falsch gehört oder aufgeschrieben habe, Mont sur Marchienne, dessen Bewohner aber merkwürdigerweise nicht geflohen waren und sogar noch Lebensmittel hatten. Es ging uns dort wider Erwarten gut, und ich finde in meinem Tagebuch die Bemerkung: "Die Wohnungen in den französischen Dörfern sind überhaupt gut, eigene Stuben, Steinpflaster (?), wahre Königswohnungen (!?), nur die Leute so heuchlerisch freundlich, höflich und über unsre Ankunft erfreut, daß man ihnen hinter die Ohren schlagen möchte." – Das nähere Verständnis dieser Stelle ist mir verloren gegangen.
Wir marschierten, jetzt in südlicher Richtung, nach Beaumont. Auf dem Wege dahin ward erst die eigentliche französische Grenze betreten. Es war dies ein eigenes Gefühl; zum ersten Male in Feindesland. Es sah aber dort nicht anders aus als in Belgien. Aus der Stadt Beaumont kamen uns die Kuriere mit der Hiobspost entgegen, wir könnten dort nicht bleiben, da neun Zehnteile der Einwohner geflüchtet wären. Indessen war ich auf unsern Tornisterwagen, wo sich ein leeres Plätzchen fand, geschlüpft, und fuhr mit demselben in die wüste Stadt hinein, da unser Detachement, dem wir vorausgeeilt waren, noch nicht ankam.
Dort war helle Verwirrung. Der vor kurzem erst bestellte Kommandant des Ortes wußte nicht, wo unser Regiment stand. Er vermutete aber, vor der etwa fünf starken Lieues seitwärts liegenden Festung Maubeuge, und riet an, einen Kurier nach dem Lager zu schicken und Erkundigungen und Be- fehle einzuholen.
Unser Führer, der nun auch mit dem müden Detachement nachgekommen war und sah, daß hier nichts zu haben war, sandte zwei Kuriere voraus, den einen nach Maubeuge, den andern nach dem drei Stunden entfernten Dorfe Beauru, wohin man uns aus Beaumont wies, vermutlich nur um uns los zu werden.
Während der Offizier mit dem Detachement nach dem letztgenannten Dorfe aufbrach, blieb unser Tornisterwagen zurück, da die Pferde durchaus etwas zu beißen und zu brechen haben mußten. Wahrscheinlich hat sich das gefunden. Da wir aber – man nannte uns "Tornisterdrücker" – dieselbe Empfindung mit den Pferden teilten, durchstreiften wir die Stadt, um auch für unsern Hunger etwas aufzufinden. Ich weiß nicht, ob die andern glücklicher waren, aber ich fand für Geld und gute Worte weder einen Bissen Brot noch Obst; nichts war zu erhalten als ein Glas Franzbranntwein für den leeren Magen.
Hungrig, durstig und nach mancherlei Fährlichkeiten auf dem schlechten Landwege, der an vielen Stellen durch aufgeworfene Schanzen und Verhecke gesperrt war, erreichten wir endlich vor Abend Beauru und die Unsern, aber – das Dorf war leer! Alle Bewohner des Schlosses und der Hütten waren mit ihrer fahrenden Habe, mit Vieh und Vorräten geflüchtet. Nicht eine Katze schien zurückgeblieben, kein Bissen Brot, kein Mehlkasten, kein Huhn, kein Faß und keine Flasche. Um das zu finden, hätten wir allerdings nicht nötig gehabt, Beaumont mit Beauru zu vertauschen.
Das waren üble Aspekten. Es war sechs Uhr abends geworden. Tier und Menschen konnten nicht weiter, und wenn sie weiter gekonnt hätten, wohin? Wahrscheinlich war es in den andern Dörfern nicht besser. Es hieß, die Bauern seien in den Wäldern umher bewaffnet und beabsichtigten Überfälle auf die vereinzelten Detachements. Deshalb ward verboten, sich in die verlassenen Häuser zu legen; vielmehr sollte ein großes Biwak in der Mitte des Dorfes bezogen werden. Der heitere Abend war dazu wie geeignet.
Aber mit dem Biwakieren ist es nicht abgetan; man muß auch essen, um zu leben, und zu essen war nichts da, wohl aber zu plündern. Die Frage war nun: plündern oder Essen suchen? Die Versuchung zum Plündern war zu lockend. Ordentlich aufgefordert wurden wir dazu durch die Situation. Die bösliche Verlassung der Dorfbewohner gab uns ein Recht, uns in den Besitz ihrer Hinterlassenschaft zu setzen, da sie durch ihren Eigensinn, uns nicht empfangen zu wollen, und durch die Steigerung desselben bis zur Pflichtwidrigkeit, indem sie ihre Effekten mitnahmen, uns um das nach allen Kriegs- und Friedensrechten zukommende Quartier mit Beköstigung brachten. Ja, sogar eine Pflicht hatten wir gegen unsern König, dem wir treues Aushalten geschworen, zu Wasser und zu Lande, alles zu tun, um uns zu erhalten, also – zu plündern. Endlich hätte uns ein Jurist sagen können: was wir da sahen, wären res derelictae, gehörten zur Zeit niemandem, also demjenigen, der sie fand und sich aneignete. Endlich aber, und das war der Hauptgrund: es war doch eine gar zu interessante Sache, zu plündern; da zu plündern, wo es sich gewissermaßen von selbst machte. Man hatte sich später ein Gewissen daraus gemacht, wenn man die Gelegenheit unbenutzt verstreichen lassen. Ich bin überzeugt, daß die Mehrzahl der Jäger die Sache von diesem Gesichtspunkt aus auffaßte; die eigennützige Absicht war nur Nebensache. Konnten die meisten doch kaum fortschleppen, was sie ohnedies hatten, und schon in Huy hatten wir einen Teil vom Inhalt unsrer Tornister fortgeworfen, um ihn tragbarer zu machen. So ging es auch schon in den nächsten Tagen mit vielen der Beutestücke.
Also wir plünderten. Was denn? – Ich ließ mich von einer Strömung in die Kirche ziehen, wo die Verwüstung und Zerstörung deutlich genug dafür sprach, daß vor uns andere dagewesen waren; vielleicht schon in verschiedenen Parteien. Alles war aufgebrochen, abgerissen. Daß man von Kostbarkeiten hier nichts mehr fand, brauche ich nicht erst zu sagen. Fetzen, Scheiben, Lumpen, Trümmer lagen umher; zwischen dem Stroh und Mist waren die Blätter aus den Kirchenbüchern umhergestreut. Das einzige Wohlerhaltene waren die Strohstühle und eine schöne Kirchenfahne. Also hatte wenigstens der Fanatismus hier nicht mitgespielt. Die Kirchenstühle trugen wir ins Freie, damit unsre Wohnung unter freiem Himmel doch wenigstens etwas häuslich eingerichtet sei; auch einige irdene Schüsseln, die, Gott weiß wie, in sein Haus gekommen waren. Was meine Kameraden plünderten, das weiß ich nicht; ich aber fand dicht unter der Kanzel – Quinti Curtii Rufi historiam Alexandri Magni in einer hübschen kleinen Amsterdamer Ausgabe. Wie diese in die Kirche gekommen, weiß ich noch weniger als die Herkunft der Teller und Schüsseln. Das erste lateinische Buch, was ich seit Berlin zu Gesicht bekam, bei einer ersten Plünderung in Feindes Lande und in einer Kirche und unter dem Altar! Das war zu viele Lockung für einen Scholar, und zumal einen, der den Curtius kurz vorher durchgelesen und sehr lieb hatte. Und hätte ich mein letztes Hemde fortwerfen müssen, um für ihn Platz zu machen: diese Beute konnte ich nicht aus der Hand geben. Es fand sich im Tornister noch ein Raum neben den Nibelungen für den Curtius, und ich trug fortan durch Frankreich auf meinem Rücken die drei größten Helden der Welt: Alexander den Großen, den gehörnten Siegfried und den großen Attila. Bis auf die kleinen Reibungen, die in jedem Menschenleben vorkommen, besonders aber im kleinen Raume eines Tornisters, vertrugen sie sich ganz gut. Leider ging mir der Quintus Curtius Rufus bei der Rückkehr in die Heimat verloren.
Es war meine einzige Beute; ich sage nicht Ausbeute. Ich war aber so zufrieden, daß ich nicht nach mehr verlangte. Nicht einmal in die andern Bauernhäuser oder in die Gemächer des Schlosses folgte ich den Kameraden, die von daher alles mögliche schleppten, wahrscheinlich nur aus Mutwillen; denn es war für uns von nicht viel mehr Nutzen als die Kirchenstühle und der Curtius. Gemalte und vergoldete Tassen, Wasserkaraffen, Porzellanschüsseln, Teller, Saucieren; hellpolierte Feuerzangen, Fußschemel mit Tapisseriearbeit, Rasiermesser, Damenkleider und Hüte, gestickte Pantoffeln, alles in einem mit Poltereien und Kehricht verstopften Bodenwinkel aufgefunden, lag weit im Kreise umher auf dem Rasen ausgebreitet, recht um uns zu höhnen. Es war nicht das, was wir nötig hatten. Die Franzosen in Moskau fanden zwar nicht Brot, Fleisch und Wein, aber doch Schokolade, Marzipan und Eau de Cologne. Eine Tafel Schokolade wäre uns von mehr Wert gewesen. Erinnere ich mich recht, so wurden übrigens diese Herrlichkeiten, die uns nichts nützten, und die wir nicht mitnehmen konnten, später wieder zusammengepackt und auf Befehl der Offiziere in das Schloß zurückgetragen. Eine vandalische Zerstörung hat wenigstens nicht stattgefunden. Die Soldaten hatten einmal die Freude gehabt, auf vergoldetem Porzellan zu essen.
Ja, wer so glücklich war zu essen! Der Curtius in meiner Tasche füllte nicht die Leere in meinem Magen. Unsre praktischeren Kameraden hätten sich beim Plündern kurz gefaßt oder in schnell geschlossenen Brüderschaften in das Plündern und in das Kochen geteilt, dem natürlich eine andere Operation vorangegangen war, an die ich noch nicht gedacht hatte. Hell loderten einige Feuer, kupferne Kessel hingen darüber, und die praktischen Soldaten krüllten grüne Schoten aus, schälten Mohrrüben, die Zwirnsfäden freilich sehr ähnlich sahen, und Kartoffeln, die nicht viel größer waren als große Erbsen. Bringst du auch was zu, so kannst du auch zugreifen, hieß es. Ich hatte Stühle und irdene Schüsseln gebracht. Man lachte mich aus, und mit Recht. Buddle Kartoffeln und pflücke Schoten!
Das war etwas Neues und gewiß nichts Uninteressantes. Ich ließ mich in den Schloßgarten weisen, wo alle diese Naturherrlichkeiten zu finden wären. Aber vermutlich verweilte ich zu lange bei der Aussicht vom Schloßaltan; denn ich finde in meinen Briefen die Schönheiten des französischen Gartens mit ausführlicher Liebe geschildert: die Rosen- und Himbeerhecken, welche die Terrassen umschlossen, die malerischen Buchenhecken, welche in Gleichstrichen (soll "Parallellinien" heißen) den tiefern Schönheitsgarten von dem Nutzgarten trennen, die hohen Ulmen, durch welche die Abendsonne ihr Gold flimmern ließ. Wahrscheinlich um deswillen kam ich zu spät in den Küchengarten. Eine frühe Warnung für den künftigen Schriftsteller, sich nicht in landschaftlichen Schilderungen gehen zu lassen. Es schadet immer der natürlichen Wirkung.
Hier war die sehr empfindliche Wirkung: ich fand weder Kartoffeln noch Schoten. Wie ich auch mit dem Hirschfänger buddelte, eine höchst ungewohnte Arbeit für ihn und mich, es wollten keine Knollen, nicht einmal erbsengroße, zum Vorschein kommen. Ich besuchte die Schoten; die Sperlinge selbst hätten nichts mehr gefunden. Dazu trat die Dunkelheit ein, und plötzlich, als ich zu den Kartoffeln zurückkehrte, wo ich ihn einstweilen stecken gelassen, war auch mein Hirschfänger verschwunden. Alles Suchen und Fragen danach war umwonst, und die immer tiefer werdenden Abendschatten verboten das erstere bald von selbst.
Wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen. Eine leise Vermutung, daß ihn mir jemand aus Mutwillen oder aus gewinnsüchtiger Absicht beiseite geschafft – nicht gestohlen, aber vielleicht in die Schoten geworfen –, stieg mir erst später auf. Ein Schwert muß der Soldat haben, wenn er es auch nicht braucht. Man bot mir sogleich einen Kavalleriesäbel zum Kauf an; er war erst vor einer halben Stunde im Schlosse erbeutet worden. Was sollte ich mit einem Kavalleriesäbel, der mir zwei Ellen auf dem Boden nachschleppte. Man wußte aber sofort weitern Rat. Andre Kameraden, die unterwegs Beute gemacht und damit einen einträglichen Handel trieben – Kameraden dieser Art gehörten nicht zu unsern Freiwilligen im engern Sinne; es waren solche, die aus der Freiwilligkeit ein Geschäft und eine Spekulation gemacht und sich dabei recht gut standen. Mit uns andern nicht immer! – solche Kameraden hatten eine ganze Auswahl erbeuteter Pallasche von gehöriger Breite und Länge; zum künftigen Kartoffelbuddeln vortrefflich, sonst aber aller Zierlichkeit ermangelnd und auch einer Scheide. Wie gesagt, ein Soldat muß ein Schwert haben, und ich mußte für schweres Geld einen Pallasch kaufen, der seinem Besitzer nichts gekostet hatte. Lange Zeit ging ich mit einem blanken Schwerte, den Franzosen gewiß ein entsetzlicher Anblick, bis mir ein Schuhmacher unsrer Kompagnie für Geld und gute Worte eine Scheide fertigte.
Der Pallasch stillte so wenig als der Curtius den Hunger. Meine satten Kameraden wollten nun aber auch trinken. Die Brunnen waren nicht vergiftet, wenigstens hat es die Erfahrung gelehrt, aber Soldaten sind nicht Hydropathen. Die Keller und Remisen waren umsonst durchsucht, kein Krug, kein Fäßchen war zu finden gewesen. Sollten denn aber der Schloßherr und seine Familie solche Barbaren gewesen sein, daß sie nur Wasser tranken! Wie, oder hätten sie auch die Branntweinfässer und Weintonnen in die Wälder gerollt? Das schien unmöglich! Aufs neue ward alles durchsucht und ein ungeheurer Haufen von Stallstroh, der in einem Seitenhofe bis an die Fenster des ersten Stockwerks reichte, schien uns mehr als verdächtig. Ein Dutzend Arme, Füße und Mistgabeln arbeitete lustig in dem Haufen. Er ward zusehends kleiner und ein "Viktoria! Hurra! Wir haben's!" scholl durch die Lüfte. Ein volles Faß ward auf den Hof gerollt; man schlug den Boden ein, und – wir hatten uns nicht getäuscht, das Faß war ganz voll von gutem, unverdorbenem Essig.
Ich glaube, man hat ihn auslaufen lassen. Eine solche boshafte Täuschung rechtfertigte Wohl eine solche Strafe.
Mit einem Gefühl, als hätte ich einen tiefen Trunk aus dem sauren Fasse getan, warf ich mich auf mein Bund Stroh und schnallte den Gurt enger um meinen Leib, als ein Lärm entstand. Ein ausgeschicktes Pikett, um anderswo Brot zu requirieren, war auf eine Überzahl bewaffneter Bauern gestoßen und kam zurück, um Sukkurs zu holen. Einige dreißig wurden nun mit geladenen Büchsen ausgesandt, unser Leutnant an der Spitze. Während diese fort waren, kehrte glücklicherweise um neun Uhr abends ein Oberjäger, der mit vier Jägern wenigstens einen Korb mit Brot aufgetrieben hatte, zurück. Bei der Teilung fiel ein kleines Stück auf meinen Wagen, wenigstens eine Erinnerung an das Frühstück vom Morgen um drei Uhr. Um Zehn etwa brachte die größere Patrouille, vor der die bewaffneten Bauern sich zurückgezogen hatten, auch einige Lebensmittel, Brot, Butter, Hühner. Es reichte gerade zum Lohne für die Mühe der dabei Beteiligten, und wir hatten das Vergnügen des Zusehens.
Die Sterne flimmerten prachtvoll an dem großen, über uns ausgespannten Zelte. Es war eine wonnige, stille Sommernacht. Nur die Lüftchen spielten in den Büschen, nur das Zirpen der Grashüpfer, nur das Knistern des Strohs und das Aufschnarchen von dem und jenem unterbrach eine Stille, wie sie sich eigentlich zu einem solchen Tage nicht schickte. Doch wurden einige noch gegen Mitternacht wieder aufgeweckt durch die Rückkehr der nach Maubeuge vorausgeschickten Furiere. Ich war unter denen, welche die seltsame Meldung, nicht eben geeignet, uns für die Mühseligkeiten des Tages zu entschädigen, mit anhörten. Der Oberst von Tippelskirch, welcher in dem Lager vor Maubeuge befehligte, hatte den Furier groß angeblickt: "Was, noch mehr Jäger! Wozu kommen sie denn? Was wollen sie denn? Wollen sie im Frieden fechten?" –
Darum – von Berlin bis nach Beaumont! Darum auf eigne Kosten equipiert, gehungert und Beauru geplündert! Ich sah nur verdrießliche Gesichter. Einmal waren wir in den Krieg gezogen, nun wollten wir auch Krieg haben und nicht umsonst nach Hause kehren. Der Oberst von Tippelskirch sprach nur das aus, was Gentz später sagte. Die Befehlshaber waren indes andrer Meinung, und obschon in dieser Nacht, vom 30. Juni zum 1. Juli, allerdings der eigentliche Krieg beendet war, dauerte der uneigentliche doch noch einige Monate fort, und auch dieser hatte schon monatelang aufgehört, als man erst im späten November es für nötig erachtete, uns nach Hause zu schicken.
Das war ein wüstes Erwachen am Morgen! Über dem Himmel lagerte ein feuchtes Grau. Mein blankes Schwert in der Hand streifte ich durch die Stätte der Verwüstung und besah mir jetzt beim natürlichen Tageslicht, wie ein französischer Edelhof, sein Dorf und seine Kirche aussieht. Die Aspekten waren trüb, und die Geister gedämpft. Hungrig, kein Frühstück, der Krieg zu Ende, und doch der drohende Anfang von einem Mittelding zwischen Krieg und Frieden, von dem gar kein Ende vorauszusehen war; und eine Trennung stand uns bevor. Brüderlich waren von Berlin aus die beiden Jägerdetachements des ersten Pommerschen Regiments und des zweiten, unsres Kolbergschen, miteinander marschiert. Vielfache Freundschaftsbande verstrickten die einzelnen; auch im ganzen war die Einigkeit zwischen den Kompagnien und ihren Führern stets erhalten worden, und der Bund hatte uns eine gewisse moralische Stärke gegen Dritte gegeben. Hier, in Beauru, sollten wir uns trennen. Das erste Regiment stand im Lager vor Maubeuge, seine Jäger mußten dorthin. Wir hatten die Anweisung, über Avesnes nach Landrecy aufzubrechen, vor welcher Festung die Kolberger standen.
In einer Stunde, und ohne Frühstück, sollte die Trennung vor sich gehen. Im Schloßhofe stand noch die Tonne mit Weinessig; sie mußte also doch nicht ganz ausgeschüttet sein. Mein Magen verlangte durchaus etwas, ich trank daher herzhaft den sauern Trank und füllte noch meine Feldflasche damit, als mich freundlich ein Arm berührte. Es war der Schlegelianer, der mich zu einer Morgensuppe einlud. Wie, weiß ich nicht, aber er hatte es mit einem Gefährten zustande gebracht: eine warme Suppe von Brot, Wasser und Pulver, die wir aus den schönsten Porzellantassen von Sevres tranken.
Es war unser Abschiedsmahl. Der Schlegelianer gehörte zum ersten Regiment, er mußte nach Maubeuge. Wir Kolberger, die den weitern Weg hatten, brachen zuerst auf. Kompagnie gegen Kompagnie, das war ein Abschied, ein wahrhaft rührender, fast ein homerischer, erst die Führer, mit Reden, Händedrücken, Umarmungen, Salutieren, dann die Jäger einzeln. Zum Schluß ein Hurra, das in die Wolken ging, und solange wir uns noch sahen, ein Tschako- und Tücherschwenken und gegenseitiges Zurufen.
Vor Avesnes machten wir Nachtquartier in einem Dorf, das noch bewohnt und ziemlich wohlhabend war. Bei einem Bäcker erhielt ich ein gutes Quartier, Erholung für den gestrigen Tag, sogar die Erquickung, die Heinrich IV. jedem Franzosen am Sonntage gönnen wollte, ein Huhn, nicht im Topf, sondern am Bratspieß. So etwas war mir selbst im gelobten deutschen Vaterlande nicht begegnet. Aber die "verfluchte Freundlichkeit" meiner Bäckersleute war mir zuwider. Sie konnten nicht genug nach Ludwig XVIII. fragen und sich über den Erfolg unsrer Waffen freuen. Das kam mir höchst widerwärtig und heuchlerisch vor. Was ging uns Ludwig XVIII. an! Diese Stimmung war schon damals bei unserm Heere die vorherrschende. Mit gar großer Verachtung sahen wir einige Hundert königlicher Garden an, die uns auf ihrem Rückwege von Gent irgendwo begegneten und, sich am Rockzipfel der Sieger haltend, damals noch mit sehr demütiger Miene, nach Frankreich zurückkehrten, um bald im legitimistischen Übermut zu vergessen, daß der Sieg unser und die Schmach die ihre war. Dunkel entsinne ich mich auch einer Liste, die, auf hohen Anlaß, unter den Offizieren unsrer Armee damals umging. Beiträge sollten gesammelt werden zu einem Ehrengeschenk für irgendeinen Legitimistensohn; vielleicht für einen Laroche Jacquelein, um ihm einen Degen zu verehren. Freiwillig gezwungen hatten schon viele ihren Namen und den kleinsten Beitrag darunter gesetzt, als ein Offizier (es tut mir leid, daß ich seinen Namen vergessen) den Mut hatte zu bemerken: was uns ein Ehrengeschenk für einen Franzosen angehe, dessen Sache nicht die unsre wäre? Wenn preußische Krieger Söhnen von Tapfern einen Degen verehren wollten, so sei uns in dem Augenblick niemand näher als die Familie des tapfern Zastrow, der an der Spitze der Kolberger bei Fleurus den Heldentod gestorben. Er unterzeichnete das Doppelte der bisher gezeichneten Gaben, und von diesem Augenblick an stockte die Sammlung für den französischen Legitimisten. Vielleicht sind die einzelnen Umstände, wie ich sie erzähle, nicht ganz genau, denn ich erzähle nur nach einer neunundzwanzigjährigen Erinnerung; aber der Sinn, der sich darin ausspricht, lebte auch damals schon unter uns. Wir waren gute Deutsche und haßten die Franzosen gründlich; die krankhafte Erscheinung des französischen Legitimismus kam uns verächtlich vor.
Die Festung Avesnes, durch die wir am nächsten Morgen marschierten, lag in Trümmern, ich glaube infolge einer Pulverexplosion. Hinter dem Dorfe Mareille trafen wir endlich auf unser Regiment, welches zum Teil hier in einem abgesonderten Lager, zum Teil in der engern Umschließung vor Landrecy kampierte. Die Festung wollte noch von keiner Übergabe wissen. Der damalige Major Schmidt musterte uns, schickte uns jedoch noch vorläufig nach dem gedachten Dorfe zurück, um uns erholen und unsre Schäden ausbessern zu können, ehe auch wir das Lager bezögen. Das Dorf war sehr freundlich, auch wohl habend, trotz der Nähe eines Belagerungsheeres; auf den üppigen Wiesen im Tal und auf den Hügeln weideten, ungefährdet von unsern Soldaten, die fettesten Rinderherden, die Milch war köstlich, und auch uns ließen unsre wohlgemuten Wirte in dem vortrefflichen Käse sich satt essen, der als Delikatesse selbst in den Straßen von Paris ausgerufen wird. Es ging uns überhaupt sehr gut dort, ja, ich befreundete mich mit meinen Wirten, trotzdem, daß der alte Großvater mich fast müde machte mit seinen Fragen nach Ludwig dem Achtzehnten, und meine Wäscherin nicht genug schimpfen konnte auf die Revolution und die Jakobiner und die roten Mützen und Freiheitsbäume von ehemals. Sie habe ihren Kindern immer vorausgesagt: Gebt acht, daraus wird nichts. Es waren wirklich gute Bourbonisten, fromme Katholiken, freundliche Menschen, ihre Milch war ein Nektar, ihr Käse eine Ambrosia; aber unsre defekte Equipierung, wo Sattler, Schneider, Schuhmacher, Waffenschmiede, Optiker not taten, ließ sich mit Käse und Milch nicht abtun.
Mit Sack und Pack mußten wir täglich mehreremal in das ungefähr eine halbe Stunde entfernte Lager, um unsre allmählichen Vervollkommnungen zu Soldaten darzutun, und staunten die neuen Dinge ebenso an, wie wir als Neulinge angestaunt wurden. Hier war es zuerst, wo uns der vollständige, offizielle Bericht von der blutigen Schlacht, die für Preußen von nun an den Namen von Belle-Alliance führen solle, vorgelesen ward. Es geschah auf Befehl aus dem Hauptquartier; sonst hielt man es für sehr unnütz, uns von der Lage der Dinge in Kenntnis zu setzen, und unsre Wissenschaft beschränkte sich immer nur auf Gerüchte, häufig auf solche, die wir erst durch die Vermittlung der französischen Bauern erhielten. Im Jahre 1813 war es anders gewesen; man hatte die Freiwilligen für wert gehalten, wenn auch nicht mitzustimmen, doch mitzuwissen, was alle so anging, daß sie ihr Alles dafür eingesetzt hatten. So hatte also das diplomatische Prinzip schon damals um sich gegriffen, welches das Volk wieder nur als Maschinen wollte betrachtet wissen.
Nach jener frohen Botschaft wurde ein fehr trauriges Gericht abgehalten. Die Mehrzahl der jungen uneingeübten Freiwilligen hatte sich tapfer in dem mörderischen Gefecht von Fleurus gehalten, aber nicht alle. Wenigstens hatten einige, aus einer Stadt, die ich nicht nennen will, nach der Schlacht die Sache der Verbündeten für dermaßen verloren gehalten, daß sie auf ihrem Privatrückzuge sich bis Köln verirrten! Nachdem man ihnen dort auf der Landkarte bewiesen, daß dies nicht der Weg nach Frankreich sei, waren sie zwar wieder beim Korps eingetroffen, ihr Empfang war aber sehr unfreundlich gewesen, und ihr heutiges Gericht vor der Front des Regiments ein äußerst beschämendes. Jugend, Unkenntnis der Wege und der Sprache, um sich zurecht zu fragen, wurden kaum als Entschuldigung zugelassen, um einige vor der härtesten Strafe zu schützen. Die unglückliche Sache kam glücklicherweise bald in Vergessenheit.
Endlich wurden auch wir ins Lager kommandiert. Es lag auf einem grünen Anger, an einem mit Hecken umschlossenen Garten. Das bunte, frohe Gewimmel, die Strohhütten, Wachen, Kochfeuer nahmen sich ganz lustig aus; aber die Arbeit, uns ein Haus zu bauen, war uns so neu, daß unser Sechs den halben Tag damit verbrachten, junge Bäume zu fällen, und als wir endlich soweit damit zustande gekommen waren, daß das Gerüst stand, nicht viel besser als eine Lappenhütte, hatten unsre guten Kameraden uns das gelieferte Stroh zur Belegung gestohlen, vermutlich, weil sie es besser zu nutzen wußten als wir. Ohne Stroh keine Hütte und ohne Heu kein Lager. Wir emanzipierten uns und requirierten beides auf den Böden einiger entfernten Gehöfte, kraft unsrer Übermacht, obwohl die finster blickenden Bauern unsre Eigenmächtigkeit sehr sonderbar fanden. Weil darüber der Abend herankam, konnten wir trotz der gelieferten Kochgeschirre nicht kochen, und ich unternahm, um unsern Hunger zu stillen, eine diplomatische Expedition zu unsern Wirten in Mareille. Zwar gelang es meiner Überredungskunst bald, dieselben zum Kochen einer leckern Suppe von Milch und Weizenmehl zu bewegen, die mir noch heute in der Erinnerung schmeckt; aber es kostete meine ganze Kraft, den "Paysan" dahin zu bringen, daß er seinen Sohn mit der großen Marmite zu uns ins Lager schicke. Doch es gelang. "Cölestin, der himmlische Schafskopf", wie es mit irgendeiner vergessenen Anspielung in meinem Tagebuche heißt, trug den schweren Eisentopf mir nach, unter entsetzlicher Furcht vor den Soldaten, und wir erquickten uns an seinem Inhalt unter frohem Gelächter über den Burschen, der vermutlich eine ergötzliche Figur war.
Bald fehlte es übrigens nicht an Lebensmitteln. Fleisch, Brot, Mehl, Erbsen, Bohnen, Salz, Branntwein, ja, sogar Bier und Tabak wurden geliefert. Es war eine wohlhabende, noch nicht ausgesogene Umgegend; aber wir Novizen hatten mit der rohen Fülle noch manche Not, und verstanden weder die Ökonomie, noch das Kochen. Auch waren meine nähern Bekannten mit mir noch auf dem Unschuldsstandpunkte, der für einen Soldaten sogar gefährlich werden kann, wo ihnen eine Milchsuppe in Mareille lieber war als alles gelieferte Fleisch. Doch darf ich nicht vergessen, zu meiner Entschuldigung hinzuzusetzen, daß wir unser Wasser, zum Trinken wie zum Kochen, aus einem schilfigen, unreinen Graben schöpfen mußten. Schon diese Zubereitung des Essens ekelte uns an; auch waren wir oft zu müde, denn das Exerzieren, der kleine Dienst und alles das, was wir unter dem Ausdruck des Gamaschendienstes begreifen, nahm unsre Zeit in Anspruch. Statt, wenn wir erschöpft von den ewigen Paraden zurückkamen, nach dürrem Holz auszugehen oder es erst gar mit dem Pallasch zu fällen, mit Mühe ein Feuer anzumachen, und Fleisch und Wasser beizusetzen, es zu hüten, schäumen, kosten, füllen, begnügten mein Kochkamerad und ich uns lieber mit kalter Kost, die freilich oft nur in Brot und Salz bestand.
Aber es gab auch – einen Marketender und Milchsuppen bei unsern Wirten in Mareille. Ältere Kameraden schüttelten lächelnd den Kopf. Das bedeutete: wir würden bald genug zur Erkenntnis kommen, daß ein Soldat ohne Fleisch und Warmes nur ein halber Soldat ist.
Aus dem größeren Lager wurden wir, etwa nach einer Woche Exerzitiums, in das eigentliche des Velagerungskorps geführt. Wir bezogen die Hütten, welche ein Landwehrbataillon vor uns innegehabt. Das waren gegen die, welche wir selbst verfertigt, massive Paläste; nur wurde eine Lüftung und neue Tapezierung im Innern aus gewissen Reinlichkeitsgründen notwendig; aber das frische Heu und Stroh konnte doch nicht ganz die unangenehme Gesellschaft entfernen, die bei jeder Kampagne sich einfindet und leider, statt abzunehmen, sich immer vermehrt. Unser freundlicher Offizier und Führer, der uns von Berlin bisher geleitet und gehofft hatte, in unserm Regiment angestellt zu werden, mußte uns hier verlassen, indem er mit Avancement zu dem seinigen berufen wurde. Dafür kamen Zuzüge aus Belgien. Einen Teil der Jäger unseres Regiments, die, früher als wir eingetroffen, doch noch gar nicht einexerziert waren, als Napoleon angriff, hatte man damals nach Löwen geschickt. Sie vereinigten sich hier mit uns, und jetzt erst ging man an die Einteilung der Freiwilligen in drei Kompagnien. Der Kommandeur wollte uns Wohl und hatte die Absicht, uns nach Landsmannschaften zu verteilen; andre Offiziere aber waren der Ansicht, es würde der Mehrzahl lieber sein, je nach den Transporten aus der Heimat, unter denen sich schon Feldkameradschaften geschlossen hatten, zusammen zu bleiben. Ich ward dadurch zu meinem Bedauern von Freunden getrennt, welche vor mir Berlin verlassen hatten, um derentwillen ich aber gerade in dieses Regiment getreten war.
Mögen meine Leser verzeihen, wenn ich hier auch Dinge und Namen berühre, welche eigentlich nur für spezielle Kreise von Interesse sind, und wenn ich bisweilen meinen Vorsatz überschreite, aus den wirklichen Erinnerungen nur das hervorzuheben, was sich zu einer allgemeinen Wahrheit gestaltet und die Gefühle oder die Aufmerksamkeit eines jeden berührt. Wir sind jetzt einmal in der Lektüre so praktisch gestimmt, daß alles wirklich Geschehene, auch das Unbedeutendste, uns mehr anzieht und bedeutender erscheint, als das, was im Reich des Geistes und der Phantasie eine ewige Bedeutung erstrebt. Wenn ich dessenungeachtet wenige Namen nenne, so geschieht es aus einer altvaterischen Scheu, die ich nicht ganz überwinden kann. Doch glaube ich nichts zu versündigen, wenn ich die Namen der drei Kompagnieführer nenne, unter deren Führung unsre drei Jägerkompagnien des Regiments Kolberg sich während des Feldzugs wohl befanden. Ich glaube, daß jeder dieser Offiziere das Vertrauen seiner Untergebenen während des Krieges sich erwarb, und daß bei der Trennung eine freundliche Erinnerung ihnen nachfolgte. Sie hießen Müller, von Bajentzki und Freiherr von Heusch. Der erstere, eine kernige, kräftige Natur, ist erst durch den Krieg von 1813 zum Soldaten gemacht worden. Er war ein Soldat im richtigen Sinne des Wortes, streng im Dienst, fast rauh in den Formen, aber bei den Seinen außerordentlich beliebt. Ein populärer Anführer, der einen Stolz darin zu setzen schien, nicht zu verbergen, daß er von der Pike auf gedient hatte. Herr von Bajentzki war der Offizier aus einer feineren Schule, von eleganten Formen und wissenschaftlicher Bildung. Bei Belle-Alliance verwundet, kam er erst bei Landrecy zu uns. Ich lernte ihn später in Stettin kennen, wo er als Major in demselben Regimente stand, in dem er sich rühmlich ausgezeichnet, und dessen Geschichte er vor kurzem geschrieben hat. Unter dem Freiherrn von Heusch, der die Kompagnie des zweiten Musketierbataillons kommandierte, stand ich. Ein Offizier von Takt und altern aristokratischen Formen, der sich Mühe gab, auch uns zu einer chevalereskern Sitte zu erziehen. Er zog die Besseren zu sich heran; aber gerade bei uns war der Stoff, aus dem man Gentlemen macht, zu sparsam vorhanden. Die Gevatter Weißgerber und Lohgerber, handfeste Soldaten, gute Hüttenbauer, zuverlässige Menschen und Patrioten, mochten zwar ihr Riemenzeug blanker putzen als wir alle, aber zu einer chevalereskern "Teinture" ließen sie sich nicht putzen, noch wollten sie es. Wir Gymnasiasten waren zu jung. Auch mochte unsres neuen Führers Bildung nicht gerade die sein, welche aus Klötzen Götter zu machen geeignet ist. Bei aller seinen Politur ging ihm die Wärme der innern Begeisterung ab, jene Naturfrische, welche in den andern den schlummernden Funken erweckt. Seine achtungswerten Bemühungen, die Elite unsrer Jäger zu sich heranzuziehen und durch Konversation und Gesang sie aus dem Rohen zu erheben, gelangen daher nicht ganz so, wie er es wünschte. Das doktrinär altdeutsche Feuer, welches in uns Jägern brannte, war ihm, der sich gern in französischen Formen bewegte, ein fremdes Element; und die seine Wäsche und die immer weißen Handschuhe des Edelmannes waren eine natürliche Scheidewand zwischen ihm und den Kameraden in der Kommißjacke mit den gebräunten und den gesprungenen Händen. Indessen wußte er, als ein Mann von Takt und Erfahrung, alles zu vermeiden, was eine Spaltung herbeiführen könnte, wie diejenige war, von der ich oben sprach. Gelang es ihm auch nur teilweise, sich die Liebe seiner Untergebenen zu erwerben, so wußte er sich doch vollkommen die Achtung derselben zu bewahren. Der preußische Offizier kann und darf nicht so auf Popularität spekulieren wie etwa der russische. Der letztere darf und muß zu gewissen Zeiten von seinen Gemeinen mit sich spielen, er muß sich auf dem Zelttuch von ihnen prellen lassen, und ein Suworow spielte und ließ mit sich spielen in einer Art, welche alle unsre Begriffe von Subordination aufhebt. Es sind asiatische Vergnügungen, Demonstrationen des patriarchalischen Verhältnisses, das man nicht ganz verrücken will, um der furchtbaren despotischen Macht, die nach Willkür ebenfalls kann zu Tode knuten lassen, einen milden, freundlichen Anstrich zu geben. So wagt der russische Offizier nichts, wenn er sich scheinbar gemein macht. Der preußische wagt alles. Zwischen ihm und dem Gemeinen stehen nur die Kriegsartikel: ein gewisser Firnis von Ehre scheint ihm daher immer notwendig, um den Abstand lebendig zu erhalten. Nur ein Blücher auf seiner errungenen Höhe durfte es wagen, so populär zu sein wie Suworow.
Das national-volkstümliche Element in den freiwilligen Jägern war im vorigen Kriege streng beachtet worden. Sie hatten sich ihre Offiziere selbst gewählt. Jetzt wich man schon bedeutend davon ab; man gab uns unsre Offiziere. Indes bekenne ich, daß in der Vermischung, als wir kaum erst zu einer geordneten Schar zusammengetreten waren, auch dafür der Stoff bei uns nicht im Überfluß da war. Von Auszeichnungen im Felde konnte noch nicht die Rede sein, und eine anderweitige persönliche Bildung, welche die einen bestach, konnte für die andern zurückstoßend sein. Doch sollte, um dem Buchstaben des früheren Gesetzes zu genügen, aus dem ganzen Jägerbataillon ein Offizier gewählt werden, in der Art, daß jede Kompagnie durch freie Wahl einen Kandidaten aus ihrer Mitte stelle, damit aus diesen dreien einer ernannt werde. Ich finde in meinem Tagebuch, daß der Kandidat der ersten Kompagnie, mit Namen Schleich, erwählt wurde; es tut mir aber leid, daß mir von seiner Persönlichkeit auch gar keine Erinnerung geblieben ist. Desto lebhafter sehe ich noch den Kandidaten, für den unsre Kompagnie sich interessierte. Es war der Jäger Schubert, ein freundlicher, stiller, ordnungsliebender Mann, von achtungswerten Grundsätzen, der bei unserm Detachement als Feldwebel von Berlin aus fungiert und sich mir immer sehr freundlich gezeigt hatte. Auch war ich ihm wohl von Hause aus heimlich empfohlen worden. Sein friedliches Gemüt, sein ehrenfestes Wesen hatte ihn bei allen beliebt gemacht; daher konnte er immer versöhnend auftreten, wo Parteien sich zeigten. Auch hatte er beschwichtigend bei der traurigen Geschichte des Hermannsbundes eingewirkt, obwohl er, als ein verständiger Mann, ihn höchlich mißbilligen mußte und sich selbst dadurch gekränkt fühlte. Wir, von der zweiten Kompagnie, fühlten es deshalb schmerzlich, daß er, unser Kandidat, übergangen worden, obschon der bescheidene Mann auch in seiner äußern, untersetzten Gestalt wenig von den Eigenschaften besaß, welche wir, nach unsern Begriffen, von einem Offizier fordern. Er wurde dafür zum Capitaine d'armes der Kompagnie ernannt. Leider soll er, wie ich gehört, später ein Opfer des Krieges geworden sein. Nicht der feindlichen Kugeln noch des Lazarettfiebers, sondern des Unmutes, welcher so viele verdarb, die, nachdem sie den verführerischen Müßiggang gekostet, die Anstrengung des vorigen Berufes scheuten und sich mit Hoffnungen nährten, welche der Staat nicht erfüllen konnte. Wie mancher frischte diese Hoffnungen beim Glase immer aufs neue an, bis diese Anfrischungen ihn in einen Zustand versetzten, welcher jede gewünschte Anstellung unmöglich machte. Höchst ehrenwerte Ausnahmen kamen indes auch vor. Mancher Offizier, der seine Epauletts und seine Schärpe mit Ehren getragen, legte sie ruhig ab und trat wieder hinter den Ladentisch. Wer den flimmernden Nimbus, der um die Offiziersehre sich bei uns gewoben hat, kennt, wird die ganze Größe dieser Entsagung zu würdigen wissen. Auch unser Capitaine d'armes war Kaufmann gewesen. Möglich, daß er gleich vielen andern umsonst nach Beschäftigung suchte. Er hatte ein besseres Schicksal verdient.
Am 13. Juli hatte sich die Festung Maubeuge ergeben. Der Artilleriepark kam von dort, um Landrecy zu beschießen, und noch in derselben Nacht mußten wir in aller Stille aufbrechen, um nach Merville zurückzumarschieren. Denn, wie ich in meinen Briefen lese, war unser Lager, in welchem wir bis da ziemlich ruhig gelegen, so nahe der belagerten Festung, daß uns die Paßkugeln von den Wällen mit Leichtigkeit bestreichen konnten. Nur unbedeutende Höhen, welche wir nie betreten durften, hatten uns dem Gesicht des Feindes entzogen. Wenn wir Lärm machten, konnte man nicht anders erwarten, als daß er auch laut antworten werde. Für Tirailleure war dort nichts zu tun.
Der Oberst von Tippelskirch vor Maubeuge hatte ein unrichtiges Wort gesprochen. Der Krieg war mit der Schlacht noch nicht zu Ende. Die Festungen in der Pikardie wollten sich nicht ergeben, wenigstens nicht, wie die preußischen 1806, auf den ersten Anlauf. Ihre Kommandanten wollten belagert sein, und entweder Krieg oder Krieg spielen, beides um die Ehre. Etwas Brand, Blut, viel Pulver, Geld, Zeitverlust, Strapazen und Langeweile, das war der Preis des kostbaren Spieles. Prinz August von Preußen leitete diese Belagerungen. Ihm war es wissenschaftlicher Ernst. Gegen den hatten wir nichts einzuwenden, wo es galt, wohl aber gegen die vielen großen Paraden, welche vor und nach der Einnahme jeder Festung vor ihm stattfanden. Auch darin hatte der Oberst unrecht, daß wir ohne Not gekommen seien. Die Umzinglung und Belagerung so vieler Festungen erforderte viele Mannschaft. Man benutzte uns, wenngleich nicht als Futter fürs Pulver, doch dermaßen, wo ein Posten zu besetzen, ein Loch zu stopfen war, daß die Gedienten vom vorigen Jahre behaupteten, wir würden nicht als Freiwillige behandelt, sondern als gut genug, um den Linientruppen ihre Arbeit und Lasten abzunehmen. Wieweit das richtig war, laß ich dahingestellt. Vor dem beständigen Auf-die-Wache-ziehen konnten wir freilich nicht zu den besondern Ezerzitien kommen, welche für unsre Waffenart bestimmt sind. Und wenn wir exerzierten, geschah es in Reih und Glied; von dem Schultern, Rechts- und Linksum, Präsentieren und dem unseligen Parademarsch kamen wir erst sehr spät zu dem freieren, lustigeren Tiraillieren, bei dem sich der Soldat erst als ein selbständiges Wesen fühlt. Dennoch schlug die Jägerlust so gut an, daß schon nach wenigen Übungen darin Major Diest uns das Zeugnis seiner Zufriedenheit gab und erklärte, wenn es noch dazu käme, könne er uns jetzt getrost dem Feinde entgegenfahren.
Endlich wurden wir zum Ernst gebraucht, zwar einem sehr milden Ernst, aber doch immer besser als das Spielen und Putzen und Paradieren. Ich ward abends am 17. Juli zum ersten Male zu einem Pikett kommandiert, welches sich den Festungswällen in der Nacht möglichst nähern sollte. Die tiefe Stille, in der dies Geschäft abgetan wird, die Dunkelheit und die noch tiefern Schatten der Gegenstände, welche aufzusuchen recht unser Studium war, gaben dieser Expedition einen eigenen Reiz für mich. Als das Pikett sich hinter einer Mauer gesammelt, wurden die Befehle flüsternd erteilt, und in möglichster Geräuschlosigkeit, die Gewehre unterm Arm, schlichen wir unter Führung des Gefreiten auf unsre Posten, die, wie sich versteht, hier stets Doppelposten waren; in der Regel bilden ein Musketier und ein Jäger das Paar. Die Umgebungen der französischen Festungen sind wie geschaffen für diesen Vorpostendienst, indem alle Gärten mit lebendigen Hecken umzäunt sind, hinter denen die Piketts sich fortschleichen und die Wachtposten sich unbemerkt aufstellen können. Freilich ist dies coupierte Terrain auch ebenso vorteilhaft für die Belagerten, die sich, bei besserer Kenntnis der Lokalität, unbemerkt heranschleichen, die Vorposten aufheben, Ausfälle bewerkstelligen oder Emissäre aussenden können. Die Aufmerksamkeit unsrer Wachtposten mußte daher sehr groß sein. Auf diesem meinem ersten Posten vor dem Feinde fühlte ich zum ersten Male empfindlich den Verlust meiner Brille und mußte mich auf die Sehkraft meines Musketiers und auf mein gutes Gehör verlassen. Kluge Leute meinten, ich würde auf dem Vorpostendienst in freier Luft und im Grünen durch die fortdauernde Anstrengung meine Augen stärken, daß ich der Brille vielleicht gar nicht mehr bedürfe. Ich kann das Mittel leider nicht als probat empfehlen.
Unser Posten war in einem mit Hecken umschlossenen Garten, der etwas hoch gegen das Glacis der Festung zu lag. Obgleich Mondschein war, und die Wälle sehr nahe vor uns, konnte ich sie doch wegen des starken Nebels nicht genau sehen; desto deutlicher hörte ich die Stimmen der französischen Wachtposten. Es war die Stunde von elf bis ein Uhr. Also in der Geisterstunde der Nacht vom 17. bis 18. Juli 1815 stand ich zum ersten Male vor dem Feinde; leicht erreichbar für jede Muskete, die vom Walle her auf mich anlegte. Ich leugne nicht, daß das Herz etwas lebhafter schlug. Die Hecke vor mir verbarg nur den untern Teil des Körpers, und wenn wir gleich, auf Anweisung meines Mitpostens, stumm und bewegungslos wie Stöcke dastanden, die blinkenden Gewehre nach unten gehalten, so würden die Wachen in der Festung, wenn der Mond hell auf uns schien, uns doch schwerlich für Baumstämme gehalten haben. Die tiefe Stille, wir durften kein Wort uns zuflüstern, hatte nicht minder etwas Unheimliches. Aber zugleich entging mir auch nicht das Poetische meiner Situation. Mitternacht, im fremden Frankreich, die Einsamkeit, die romantische Szenerie, die dunkeln Hecken, hinter denen Gestalten und Wesen uns belauschen konnten, und vor einer Festung, gespickt mit Eisenschlünden, die plötzlich losdonnern konnten, und, was noch romantischer war, ein dichter Nebel machte diese Festung, die doch dicht vor uns lag, mit den Händen zu greifen, unsichtbar! Der Verstand sagte mir dazu, wenn sie dich auch sehen, werden sie doch nicht auf dich schießen. Mir kam der Wachtposten aus dem "Hamlet" in den Sinn. Jetzt wünschte ich fast, daß uns etwas begegnen möchte. Aber es blieb totenstill in den Hecken und in der Luft. Nur die Nachtvögel schwirrten um unsre Köpfe; nur die Wolken zogen über den Mond. Wir hörten unsern eigenen Atem.
Und doch hörten wir ein Geräusch, und mit der bestimmtesten Deutlichkeit, aus der Festung her, und dieses Geräusch trug, da ich es zum erstenmal vernahm, nicht wenig dazu bei, den Reiz des Schauerlichen zu mehren. Es war kein Glockengeläut, die Glocken verstummen in einer belagerten Stadt; kein froher Rundgesang der Wachtsoldaten, es klang wie ein unheilverkündendes Unkengeschrei. Die Wachtposten auf den Wällen der französischen Festungen rufen sich nämlich des Nachts zur Erweckung ihrer Aufmerksamkeit fortwährend einige Worte zu. Aus weiter Ferne erscholl ein Ruf, den ich nicht verstand; er ward erwidert und kam näher. Unwillkürlich faßte ich meine Büchse und prüfte den gespannten Hahn. Aber mein Musketier flüsterte mir zu: "Stille, Jäger, es ist nichts." Der Zuruf kam immer näher, bis ich deutlich die Losung hörte: Sentinelle, prenez garde à vous![Fußnote]"Schildwache - aufgepaßt!" Dumpf und monoton war der Schall; aber gerade das vermehrte das Schauerliche. Jetzt schmetterte es so deutlich, als stände der Mann zwanzig Schritt vor mir. Bald ward es schwächer, bald schien es ganz zu verhallen, um nach einer Weile von der andern Seite wiederzukommen. Zuletzt ward ich so gleichgültig wie beim Ticken einer Wanduhr. Ein scharfer Sinn konnte aus der Zahl und Dauer dieser Pulsschläge militärischer Wachsamkeit allenfalls den Umfang der Festungswälle ausrechnen. Die Schlußfolge wäre wenigstens sicherer gewesen als die, welche Philologen auf die Größe des wahrhaftigen Troja aus dem Umstände ziehen wollen, daß Achill Hektors Leiche dreimal in einem Atem um die Mauern schleifte. Mein Sinn war damals vom Rechnen weit entfernt.
Um ein Uhr bewegte sich allerdings etwas hinter den Hecken. Es war der Gefreite mit der Ablösung. Wir hatten nichts zu melden, und die Ablösung erfolgte in der Stille und mit der Behutsamkeit, wie wir aufgezogen waren. Um drei Uhr zog das ganze Pikett in der Morgendämmerung sich zurück. Nur einige entferntere Posten blieben von Musketieren besetzt, die sich in Erdlöchern versteckten. Es wäre Tolldreistigkeit gewesen, sich offen bei Tageslicht dem Mutwillen der feindlichen Schützen auszusetzen. Erst beim Abzuge der Piketts erfolgten einige Schüsse von den Wällen her, wenn auch zu keinem andern Zwecke, als um uns zu beweisen, daß man aufmerksam sei.
Der Pikettdienst wurde für mich bald zu einer Art Erholung vom Exerzieren und Putzen. Es war das Gefühl der Wichtigkeit, der Freiheit, der Gefahr und die Lust des Geheimnisses, die ihre Reize verlieh. Darüber vergaß ich gar die Mühseligkeiten, die er mit sich führte, wenn, wie dies wohl vorkam, das Pikett zwei Tage und zwei Nächte dauerte. Zwar war es nichts weniger als unterhaltend, oft den Tag über im Chausseegraben in brennender Sonne liegen zu müssen, ohne ein Feuer anzuzünden, ohne laut sprechen zu dürfen, und mit trockenem Kommißbrot die Langeweile herunterschlucken zu müssen. Wie gern kroch man auf allen vieren den Graben entlang nach einem kleinen Strauch, um den Kopf dahinter vorzustecken und zu sehen, wie die Welt außerhalb des Grabens aussah. Wie sehnsüchtig erwartete man, daß die Sonne sich senke. Dann aber, wenn mit der Dämmerung der kühle Abendhauch kam, fing unsre Lebenslust an. Wie mutig und erwartungsvoll der Dinge, die da kommen sollten, erhob man sich, und die Posten schlichen an die ihnen angewiesene oder bekannte Stelle. Nichts war da von Schultern, Marschieren vor dem Schilderhaus, kein Gewehrpräsentieren vor Offizieren. Der Soldat war ein kleiner Feldherr, wenn er auch nur sich selbst zu kommandieren hatte; er durfte seine Sinne und seinen Verstand anstrengen und sich selbst seine Operationspläne machen. Das war bei verschiedenen, ich möchte sie ambulante Posten nennen, der Fall. Ein gewisser Distrikt war ihrer Wachsamkeit angewiesen. Wir schlichen aufrecht oder gebückt, den Finger am Drücker des aufgespannten Hahnes, durch Hohlwege und Hecken, und der Kitzel der Neugier oder die Wollust der Gefahr drängte immer weiter. Einer spornte den andern an: noch einen Schritt weiter! Wie wäre es, noch bis hinter jenen Busch? Aber eine mondhelle Fläche lag zwischen dem Busch und uns. Wir warteten, bis eine Wolke über den Mond zog, und huschten dann nach dem verbotenen Ort, wo wir eben nicht mehr sahen als vorhin; aber wir hatten doch etwas gewagt. Besonders trieb uns ein Kitzel, möglichst nahe dem Wallgraben zu kommen. Nun waren wir dicht daran, das Herz schlug, diesmal wohl mehr vor Lust als Bangigkeit, so nahe, unbemerkt dem Feinde, am Rande fortzuschleichen. Wir hörten die Hunde drinnen anschlagen, das Gespräch der Schildwachen, und nachdem wir nichts belauscht und nichts gewonnen, huschten wir wieder zurück, mit dem süßen Bewußtsein, einer möglichen Gefahr sehr nahe gewesen zu sein. Wir waren siebzehn Jahre alt; aber auch die älteren Musketiere vergnügte es, so etwas zu wagen, was ihnen nicht befohlen, aber auch nicht verboten war.
Wochenlang vor einer Festung stehen, in Wetter und Ungemach, in Erdlöchern und Strohhüten, in Regen und Hunger, erhitzt die Phantasie mit wunderbaren Vorstellungen von der Herrlichkeit, die mit eisernen Toren uns verschlossen ist. Da wohnen sie in der Stadt in festen Häusern und schlafen in weichen Betten. Essen und Trinken ist in Fülle vorhanden, und unter allen Lebensbedürfnissen braucht der Soldat nur zu wählen. Den Spaniern erschienen die Mauern der peruanischen Städte, ehe sie drinnen waren, von gegossenem Silber. Nicht viel anders betrachteten wir das trotzige Landrecy, und der Reiz mochte eben noch den Umstand erhöhen, daß wir es eigentlich gar nicht sahen, außer in nächtlichem Nebel und nur von den Streiflichtern des Mondes beschienen. Ich war auch später niemals drinnen; wahrscheinlich aber ist es ein dürftiges Städtchen wie die meisten Festungen im nördlichen Frankreich. Eines Abends, als wir nach einem ermüdenden Tage uns früh zur Ruhe begeben wollten, bliesen die Hörner zum Sammeln. Wundervolle Kunde! In Landrecy stand kein Bayard, der es mit den Geschützen der Belagerer aufnehmen wollte. Als die Batterien zum Bombardement fertig waren, ergab sich der Kommandant, wie der von Maubeuge, unter der Bedingung des freien Abzugs der Garnison. Augenblicklich sollten wir packen, antreten und in ein näher der Stadt gelegenes Biwak rücken, um am nächsten Morgen, vor unserm Prinzen August vorüberdefilierend, als Sieger in die eroberte Stadt zu ziehen. Ungern verließen wir unsre guten Quartiere in Merville. Die Sache hatte aber noch außerdem Unangenehmes; unsre Wäsche hing großenteils noch feucht an den Leinen. So, bedeutend schwerer, mußte sie eingepackt werden, und auf den überladenen Tornistern noch die neuerdings uns verabreichten Kochgeschirre. Was aber bedeutete das gegen den Triumph, als Sieger in eine belagerte Stadt zu rücken! Dort sollten wir acht Tage rasten und herrlich und in Freuden leben von den ungeheuren Magazinen, welche der Feind zurückgelassen, und die gar nicht zu bewältigen wären. Wein, der erste französische Wein, sollte uns zur Belohnung geliefert werden; und dann, glaube ich, sollten wir, neu ausgerüstet, nach Paris marschieren! Wer dachte an das elende Biwak, in welchem wir diese Nacht kampierten! Wenige schliefen, wenige kochten; morgen mußten die Bürger von Landrecy uns Festmahle bereiten. Aber Feuer wurden angezündet, und darum, angefrischt von dem Weine, den wir morgen trinken wollten: "Körners wilde Jagd", "Der Sturm bricht los" und "Du Schwert an meiner Linken" gesungen. Unsre Stimmen klangen gut. Wer froh ist, singt immer gut. Unser Kapitän kam dazu und lobte unsre Lust und unsern Gesang. Wir plauderten und sangen bis nach Mitternacht.
Auf die Nacht mit Morgenrot folgte ein grauer Tag. Wir sollten nicht in Landrecy als Sieger einmarschieren, nicht acht Tage dort in Herrlichkeit und Freuden zubringen, nicht Wein erhalten und nicht nach Paris ziehen, sondern am nächsten Tage, ohne Wein und Rast, mit Sack und Pack auf dem Rücken, ostwärts nach Philippeville marschieren, um mit der Belagerung da anzufangen, wo wir in Landrecy aufgehört. Statt der verheißenen Herrlichkeit erhielten wir für die Eroberung eine doppelte Ration Branntwein! Was sollte uns der! An Branntwein hatte es nie gefehlt. Mit der Deutschtümlichkeit und der Frömmigkeit waren damals die Mäßigkeitstheorien noch nicht aufgekommen. Branntwein, aber kein Fleisch und Brot! Wir hungerten den verfehlten Freudentag über. Erst am Abend ward eine Korporalschaftssuppe fertig. Wenigstens entgingen wir der Parade.
Zwischen der Sambre, die wir verließen, und der Maas, der wir uns wieder näherten, liegt die kleine Festung Philippeville. Auf einem mäßigen Höhenzuge, der sich im Westen der Stadt weithin dehnt, wie ein Hochplateau, mit der Fernsicht auf die tief in der Ebene liegende Festung stand das Lager, oder sollte es stehen, das uns aufzunehmen bestimmt war. Ach, wenn es schon gestanden hätte! Begleite mich der geneigte Leser auf zwei anstrengenden Tagesmärschen von Landrecy bis auf diese Höhe vor Philippeville, in den Hundstagen, und mit Wehr und Waffen und dem Kochgeschirr auf dem Rücken! Zum Hinsinken müde, kamen wir abends um sieben Uhr auf diesen freien Platz, wo nur zertretenes Heidekraut wuchs. "Dies, Jäger, ist Euer Lager," hieß es, "dort hinter Euch ist ein Busch, haut Euch Holz, Stroh ist requiriert und wird kommen, die Ingenieure werden Euch inzwischen den Platz anweisen und das übrige ist Eure Sorge, nämlich ein Haus zu bauen, wo Ihr die Nacht schlafen könnt."
Der Offizier hatte nicht nötig gehabt zu kommandieren: "Rührt euch!" Wir waren wie eine müde Herde hingesunken, und doch standen wir wieder auf, stellten die Büchsen zusammen, warfen die Tornister und Patronentaschen auf einen Haufen und stürzten mit gezogenem Hirschfänger in den Wald. Die armen jungen Stämme, auf die wir es abgesehen – die alten waren für unsre Klingen zu mächtig – heute wären es stattliche Bäume. Der Wald wurde gelichtet und unser Lager gerüstet, in einer langen, langen Linie, mit gehörigen Zwischenräumen für Feuersgefahr. Das Stroh zum Decken und zum Lager kam auch an. Wir waren jetzt schon etwas in der Arbeit geübt. Andre mußten kochen, noch andre Wasser holen, aus einer Quelle, die eine halbe Stunde entfernt war. Es ging, wer hätte es geglaubt, und zwischen zehn und elf Uhr war alles soweit fertig, daß man sich zum Schlafen niederlegen konnte.
Ein Palast war es gerade nicht. Stelle man zwei Spülbecken auf die breite Kante, und oben lehne man sie aneinander, das war unsre Hütte, nur daß man auch die schmalen Giebelseiten mit Stroh verputzte. Aufrecht konnte ein mäßig großer Mann eintreten, auch aufrecht stehenbleiben, wenn er sich gerade in dem Mittelstrich hielt; wenn er aber auch nur um einen Zoll sich seitwärts bewegte, mußte er den Kopf bücken. Aber von stehen, gehen und bewegen, geschweige denn etwas aufrecht darin zu tun, war nicht die Rede. Die Hütte hatte man zum Liegen gemacht. Vierzehn Personen sollten von Rechts wegen darin liegen, einer neben dem andern, und dann war der Bodenraum dermaßen bedeckt, daß buchstäblich kein Apfel zu Boden konnte. Wer später kam und seinen Schlafplatz suchte, mußte, so gut es ging, unter den andern, die schon lagen, fortkriechen, wobei es Fuß- und Armstöße gab und viel geflucht wurde. Oder er mußte am Eingange liegen bleiben, ein Platz, der nicht gesucht wurde, nicht sowohl um deswillen, daß jeder über ihn wegstieg, sondern weil er Wind und Regen aus der ersten Hand empfing. Warm lagen die andern, ob gerade angenehm, das kam auf den Geschmack und die Nachbarn an. Toilette wurde nicht gemacht, viel sich zu rühren verbot sich von selbst, der Tornister war das Kopfkissen.
Auf vierzehn, sage ich, war von Rechts wegen gerechnet, denn so groß war die Korporalschaft; aber faktisch hatten höchstens zwölf Platz. Auch gewissermaßen von Rechts wegen; denn von vierzehn waren gewiß wenigstens zwei in jeder Nacht auf Wache. Leider hatten in dieser ersten Nacht vor Philippeville zufällig unsre ganze Korporalschaft Ruhe, und leider hatte ich mich verspätet, entweder beim Wasserholen, Kochen oder dem Geschirreinigen. Kurzum, als ich mich zum Schlafen meldete, war die ganze Hütte besetzt, und ein Lachen und Brummen wies mich ab. Möglich, daß noch ein nachhaltiger Groll gegen den Hermannsbündler dabei mitspielte; sonst wären sie wohl zusammengerückt. Ich mußte noch froh sein, daß eine gutmütige Seele, die am Eingange schlief, mir erlaubte, den Kopf und den halben Oberleib in das Heiligtum zu stecken; mit drei Vierteilen des Leibes schlief ich im Freien. Es war eine Julinacht und ich siebzehn Jahre alt.
Alles das waren Kleinigkeiten gegen die Verdrießlichkeiten, welche mich noch hier vor Philippeville erwarteten. Ich war der fleißigste Korrespondent nach Hause, und zog mir dadurch oft den Spott meiner Kameraden zu. Wo ich eine halbe Stunde dem Exerzieren, dem Putzen und dem Schlaf abstehlen konnte, schrieb ich. Von einem Breslauer Juden hatte ich ein unschätzbares Gut, was hier ganz fehlte, Tinte, gekauft. Ich saß, ein Kommißbrot auf meinem Schoß, die flache Seite als Tisch benutzend, den Tintenstecher neben mir in der Erde, und schrieb meine Briefe, die zugleich meine Tagebücher waren. Acht bis neun waren schon nach Hause gegangen; aber unglücklicherweise hatten sich die letztern, bei der Unregelmäßigkeit der Feldposten, verspätet, und die Meinen in Berlin waren durch deren Ausbleiben in großer Sorge um mich. Wer verdenkt es der mütterlichen Zärtlichkeit, wenn sie alle Hebel in Bewegung setzte, um von dem verlorenen Sohn zu hören. Da wurden durch Bekannte alle diesen Bekannten bekannte Offiziere in der Armee angegangen, sich nach mir zu erkundigen, und alle diese Offiziere schrieben an das Regiment Kolberg, ob ich gestorben oder verdorben, und daß man der achtbaren, betrübten Familie doch Auskunft über mich geben möge. Ich ward plötzlich zitiert, um Rede und Antwort zu stehen; denn alle diese Mahn- und Fragebriefe waren zur selben Zeit eingelaufen, und nach ihrem Inhalt mußte ich ein höchst gewissenloser Mensch und Sohn sein, wenn ich noch lebte. Da letzteres nun feststand, so fuhr man mich in jenem Sinne an. "Aber ich habe geschrieben." – "Wie oft?" – "Neunmal." Die Offiziere sahen sich betroffen an. So oft hatte noch kein Mitglied des Regiments geschrieben, es wäre denn ein sehr verliebter Bräutigam darunter gewesen. Man entließ mich und wußte nicht, was man sagen sollte. So stand ich – ich weiß nicht ob als das juste milieu zwischen zwei Feuern. Hier angeklagt des zu wenig Schreibens, dort, ich schriebe so viel, daß die Feldpost Beschwerde gegen mich eingelegt habe.
Bald darauf trat schlechtes Wetter ein. Unsre Hütten waren an jenem Abende, wie man sich denken mag, nur leicht gebaut. Auch am folgenden Tag hatte man es nicht für nötig erachtet, sie fester zu machen und dichter zu decken, da das Gerücht sich wieder erneute, wir würden nach Paris marschieren. Auch hatte es geheißen, daß wir dies zu entfernte Lager auf dem Berge verlassen und näher der Festung, die noch immer zwei und eine Viertelstunde entfernt lag, biwakieren sollten. Der Regen strömte vom Himmel, der Wind trieb immer neue Wolken heran, und wenn die Güsse nachließen, rieselte von dem grauen Himmel ein alles durchweichender Staubregen herab, der tagelang anhielt. Was half da Flicken und Reparieren, wo der ganze Bau nichts taugte; und was den Regen von oben abhalten, wo er unten schon eingedrungen war! Der Boden war lehmicht und bald ganz aufgelöst. Der Platz, auf dem unsre Baracke stand, lag niedriger als die Höhen dahinter, und niemand hatte uns gesagt, daß wir Gräben darum ziehen müßten, um das Wasser abzuleiten; so drang es denn in hellen Strömen herein, und hatte nur einen Rivalen an dem Wasser, welches schon oben durchsickerte ober bald durchplätscherte. Unsre Uniformen und Mäntel waren durchnäßt; nirgends ein Ort zum Trocknen, oder, wenn man sie etwa am Feuer getrocknet hatte, wo man sie aufhängen konnte. Selbst wo den Schatzkasten, der unsre "Omnia" enthielt, den Tornister sicher unterbringen? Auch unsre Wäsche wurde feucht und stockte. Endlich ward man gleichgültig, als sollten wir und unsre ganze Equipage sich im Regen auflösen, der eine Woche anhielt. Man warf die Sachen hin, wo es war, und ließ den Himmel dafür sorgen.
Ich bewunderte einige meiner Kameraden, die sich in vollem Mißmut oder in vollkommener Resigniertheit auf den nassen Moder in unsrer Hütte zum Schlaf hinwarfen; denn alles darauf geworfene trockene Stroh half nichts: es ward Mist. Den Mantel über das Gesicht gegen den Tropfenfall von oben, trösteten sie sich mit der Erinnerung an die Lagerstätten der Preußen nach dem Rückzüge von Dresden, wo die Ermüdeten ohne weiteres ihre Mäntel in dem kniehohen Kot ausbreiteten und sich darauf warfen. Für mich war es in diesen Tagen eine Wohltat, wenn ich zur Wache oder auf Pikett kommandiert wurde. Dort gab es doch zuweilen Orte, wo man sich trocken niederlegen konnte, einen Torweg, einen Schuppen, und wo nicht, so begegnete man durch Tätigkeit den niederdrückenden Einflüssen der Witterung. Auf einzelne Stunden fand ich wohl Unterkunft in den Hütten meiner Kameraden, die günstiger gelegen und fester gebaut waren, und benutzte sie, wenn meine Freunde gerade auf Wache zogen; die mehrsten dieser Schreckensnächte aber kauerte ich auf einer Tonne und daneben liegenden Reisigbündeln. Auf einer runden Tonne und im Reißig kann sich der Regen nicht setzen; man bleibt wenigstens von unten, wenn nicht trocken, doch nicht in einem unfreiwilligen Schlammbade. Die Tonne lag, soviel ich mich entsinne, an der hintern Giebelwand einer der größern Hütten, die zu allgemeinen Zwecken, also splendider und solider erbaut waren. Das Dach stand um etliche Zoll über; diesen Schutz benutzte ich für meinen Kopf, ohne mich zu entsinnen, ob dann der Hals die Traufe erhielt. Es gab so viel Regen und Traufe, daß man die Details ganz vergaß.
Wie sehnsüchtig erwartete ich den Morgen, um mich von der Nacht zu erholen. Aber womit? Ich weiß es selbst nicht. Regnete es am Tage weniger? In der Nacht fühlte man ihn doch nur, aber beim Tageslicht sah man noch dazu den Regen. Die Sonne, wenn sie vorblickte, trocknete nicht, und die angezündeten Feuer gingen wieder aus. Mit nassem, grünem Holze Feuer anmachen müssen auf nassem, durchwühltem Lehmboden, und während des Regens und den Regen hindurch es brennend erhalten, könnte unter Herkules' Arbeiten aufgezählt werden. Freilich Herkules hätte sie vollbracht. Er hätte fette Kieferbäume übereinander getürmt, die einen Brand geben, um den Regen in Respekt zu setzen. Ähnliches wurde auch bei uns versucht; einige große Feuerbrände schwelten Tag und Nacht fort, und die von Frost und Nässe Durchschüttelten standen darum, sich und ihre Mäntel einmal zur Abwechslung zu wärmen, besser gesagt, zu räuchern. Von der dicken Luft niedergehalten, strich der Rauch von den Hunderten von erlöschenden oder nicht brennen wollenden Feuern durch das Lager. Rauch, branstiger Geruch, Fettdampf, sprühender Regen und Windstöße, unten ein aufgewühlter Morastboden, die Schuhe durchweicht, die Kleider mit Kot bespritzt, nirgends ein Ruheplatz, nirgends eine Erholung: das waren die Lagerfreuden vor Philippeville.
Noch waren sie damit nicht erschöpt. Wer konnte kochen, wo kein Feuer brannte! Nur dann und wann gelang es, eine warme Suppe, ein halb gar gekochtes Fleisch sich zu verschaffen. Zwar wurden die Feuer, wenn ich mich recht entsinne, korporalschaftsweise angelegt, lange Linien vor den Baracken, jede Feuerlinie im rechten Winkel mit der Front der Zeltlinie, und die Kameradschaften hatten, je zwei und zwei, die in einem Geschirr kochten, links und rechts daran ihre bestimmten Plätze. Wehe denen, gegen die der Wind stand. Sie mußten oft, weil sie es vor Rauch nicht aushielten, ihre Töpfe im Stiche lassen, oder rissen sie im Unmut weg, um halb rohes Fleisch hinunterzuwürgen oder den ganzen Inhalt auszuschütten. Dann aber kam ein Platzregen, und für alle war die Hoffnung zu Ende. Wer unmutig ist, zankt gern. An heftigen Streitigkeiten fehlte es denn auch nicht am Feuer.
Also auch mir waren diese sieben Regentage ohne Obdach Schreckenstage. Kaum einmal eine kräftigende, warme Speise, um dem Frost von außen Widerstand von innen zu leisten. Auch waren die Naturallieferungen sparsam; es mochte eine ärmere Gegend sein als die um Landrecy. Kommißbrot und Branntwein sollte uns aufrecht erhalten. An letzterem fehlte es denn auch hier nicht, und die Verführung, ein Trinker zu werden, lag nahe genug. Aber der Branntwein schmeckte mir schlecht, und ich brauchte ihn nur als ein notwendiges Existenzmittel. Zum Glück wimmelte das Lager bald von Verkäufern und Verkäuferinnen. Es war ein völlig freier Markt von alliierten und französischen Marketendern; Greise, Frauen, Kinder hielten alles mögliche feil für den - der bezahlen konnte: Milch, Kaffee, Schokolade, Stiefelwichse, Trinkwasser. Letzteres ein sehr gesuchter Artikel wegen der Entfernung der Quelle; Schokolade war in solcher Fülle da, daß jeder Bauer davon in seinem Hause eine Fabrik zu haben schien. Möglich, daß es auch so war; denn sie war sehr schlecht. Noch bewahrte ich eine Tafel von einer Berliner Fabrik im Tornister als letztes Auskunftsmittel in der äußersten Not.
Schokolade konnten wir allenfalls kochen; wer aber kann auf die Dauer davon leben und Soldatendienste verrichten! Endlich sehnte sich das Herz nach einer Kräftigung, und mein Kochkamerad und ich beschlossen, trotz Wind und Wetter uns doch einmal eine warme Fleischsuppe zu bereiten. Verzeihe der geneigte Leser, wenn ich ihm davon berichte; es ist ein Stilleben der gemeinsten Art, aber man liest ja gern, auch im Alter, Robinsonaden, und mir steht die Geschichte meiner Fleischsuppe so lebendig vor Augen, als wäre sie erst gestern geschehen. Wir hatten zusammen ein halbes Pfund Kuhfleisch und etwas Reis geliefert erhalten. Der Kamerad übernahm die Sorge für das eine, ich für das andre Element; er nämlich für das Feuer, ich für das Wasser. Beides war schwierig. Von jenem redete ich schon. Aber die einzige Quelle mit trinkbarem Wasser war über eine halbe Stunde vom Lager entfernt, und unser einziges Gefäß zum Kochen und Wasserholen unser Kochgeschirr. Während er auf den Knien das Feuer anblies und die zarte Flamme mit beiden Händen gegen den Windshauch schützte, machte ich mich auf den Weg nach der Quelle. Welch ein Weg! Bei jedem Tritte versank der Fuß im aufgeweichten Lehmboden, und über die Arbeit, ihn wieder herauszuziehen, verstrich so viel Zeit, daß es ein doppelter Weg, nach Stunden zu rechnen wurde. Nun rechne man, wieviel mehr Zeit und Mühe ich bei der Rückkehr brauchte, wo ich mit aller Behutsamkeit mein volles Wassergeschirr tragen mußte, aber trotzdem ein gutes Teil vom Inhalt verschüttete. War der Weg schlecht, wie war die Quelle und wie der Boden umher! Von diesem zuerst. Zehn Schritt in der Runde ein Morast; denn das halbe Lager holte hier seinen Wasserbedarf, nicht allein die Menschen, auch die Tiere. Pferde gehen tiefer als der Mensch. Endlich watete ich bis an die Quelle, vermittels Steine und Holzblöcke, die man in das Moor gesteckt, und fand allerdings noch Wasser, aber welches! Da hatten die Pferde gesoffen, die Wäscher und Wäscherinnen gespült. Was alles mußte erst weggeräumt werden! Und vorher wurde das Fleisch gewaschen, und dann nach einer Weile ein Wasser geschöpft, welches wir damals klar nannten! Es ging. Das Feuer brannte, das Wasser kochte, das Fleisch tauchte auf und unter, ein angenehmer Brodem stieg in unsre Nasen. Sogar schäumten wir mit unserm Blechlöffel die Suppe ab; wir waren Gourmands, wir wollten einen reinen Genuß. Aber das Feuer trug den Sieg über das Wasser davon nach dem natürlichen Prozeß, den man in jeder Küche beobachten kann. Die Suppe kochte rasch ein, und wenn wir nicht die Hälfte verlieren wollten, mußte Wasser zugegossen werden. Noch einmal trat ich den sauern Weg nach der Quelle an. Aber mit welchem Gefäß! Mit dem flachen Deckel des Kochgeschirrs welches so eingerichtet ist, daß es Zugleich als Teller dient. Wieviel Wasser ich auf dem langen Wege zurückbrachte, mag man denken. Während ich gegangen, war wieder ebensoviel eingekocht, als ich brachte.
Unser Durst war groß, und die Quelle fern. Einen Mosesstab besaßen wir nicht; aber ringsumher auf dem Felde waren kleine, tiefe Löcher von den Pferdehufen, in denen sich das Regenwasser gesammelt hatte. Die Suppe duftete so kräftig, daß sie wohl den Zusatz von etwas Regen- und Lehmwasser vertrug. Die Zwiebeln würden das weitere tun, den etwa üblen Geschmack zu verdecken. Also schöpften wir, siebten so gut es ging, und füllten. Endlich regnete es. Wer hätte jetzt den Topf zugedeckt! Lieber das Feuer, daß es nicht ausgehe. Scheite Holz, die wir, um sie zu trocknen, auf der Brust eingeknöpft trugen, wurden darauf gelegt, was von Talg und Fett da war, ins Feuer geworfen. Item, es ging, das Feuer prasselte herrlich trotz dem Regen, und wir teilten uns in eine Suppe, die mir noch heute schmeckt und Leib und Seele erfrischte, ob sie schon angebrannt und räucherig zugleich war.
Schnupfen, Husten, rheumatische Affektionen und Krankheiten der verschiedensten Art, wer sollte die nicht als notwendige Folge eines solchen Lagerlebens erwarten! Aber ich blieb gesund und weiß auch nichts von vermehrten Krankheitsfällen im Lager. So waren diese Mühseligkeiten zu ertragen? – Gewiß, durch frische Jugendkraft, im Sommer und in der gesunden Luft einer hochgelegenen Gegend. Aber Soldaten haben in allen Kriegen weit größere Strapazen, Entbehrungen und Fährlichkeiten erdulden müssen. Und sie erdulden sie ohne Murren? – Ohne Zweifel, wo es etwas galt: eine Eroberung, einen Sieg oder einen Rückzug. Wo Großes auf dem Spiele steht, und wäre es auch nur die Rettung des eigenen Lebens, kann der Mensch ungeheuer viel, seine Kraft wird elastisch gehoben. Hier aber galt es gar nichts, als eine Festung von weitem einschließen, die auch ohne uns wäre eingeschlossen worden, und eine Festung erobern, die auch ohne uns wäre erobert worden. Der große Krieg war beendet; dies waren Nachspiele seines blutigen Ernstes, der gegenseitigen Ehre wegen, um diplomatischer Vorteile oder irgendeines Gewinstes willen gespielt. Das fühlten wir alle; der Fanatismus gegen den Welteroberer war abgekühlt. Um solche Nachexerzitien der Kriegslust schien uns das zu viel auferlegt. Auch wozu das Putzen und Paradieren, die Exerzitien im Gamaschendienst? Vergeudete Zeit, fortgeworfene Mühe, wenn der Krieg zu Ende ging! Wollte man uns ganz als Soldaten behalten, vergessend, daß wir uns als Freiwillige zum Krieg selbst und zu dem für die Interessen des Vaterlandes gestellt hatten? Dergleichen trübe Anschauungen, genährt durch das trübe Wetter, stellten sich damals ein, um später immer stärker vorzutreten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich 1815