Abschnitt 10. Die Wirklichkeit, das Putzen, das Marschieren, das Exerzieren, das Hungern, das Kochen.

Phantasie und Glauben, nun mahnte der Hunger, Zwiebeln und Brot, Flammen des Kamins.

Aber, weiß der Himmel, ich konnte mich nicht zu diesen kühnen Schlüssen erheben. Die Wirklichkeit, das Putzen, das Marschieren, das Exerzieren, das Hungern und das Kochen hatten mich, wider Willen, ganz rationell gemacht. Ich schämte mich bisweilen, daß ich der Vernunft so viel Rechte einräumte über Ahnung, Phantasie und Glauben. Aber es ging mir damals wie so manchem Jungdeutschen von heute, welcher sich oft in der Seele schämt, daß ihm noch so viele mittelalterliche Vorstellungen ankleben, und er kann sie nicht los werden. Demnach blieben die Katzen für mich ordinäre Katzen, und meine fatale Vernunft suchte immerfort nach neuen Gründen, weshalb die Leute konnten fortgegangen sein, ohne daß ich doch den rechten fand.
Einmal hatte ich mich in meinen Mantel gehüllt und wollte meinen nächstwohnenden Kameraden aufsuchen, um mit ihm zu besprechen, was in dem Falle zu tun sei. Vielleicht war auch er verlassen; dann war es ein angelegter Plan, und unsere Pflicht war es, uns dem Könige und dem Vaterlande zu retten und mit Sack und Pack ins Hauptquartier zu marschieren, nämlich in unsres. Aber der Nebel war so stark, daß ich das Gehöft nicht finden konnte und zufrieden war, nach dem Umherirren von einer Stunde in Regen und Nässe meine eigene Hütte wieder zu finden. Nun mahnte der Hunger. Die Mittagszeit war längst vorüber, aber in meiner Wohnung alles beim alten, nämlich nichts zu finden als Zwiebeln und Brot. Ich verzehrte dieses spanische Guerilla- mittagbrot und - war unversehens eingeschlafen. - Die hellprasselnden Flammen des Kamins und das Aufsieden der Marmite weckten mich endlich, als es schon ganz finster war. Da war alles, als wäre nichts geschehen, als sei meine Einsamkeit wirklich ein Märchentraum gewesen. Die Alte saß am Kamin und rührte in der Marmite, der Kapitän hämmerte und seine Braut deckte den Tisch.
"Monsieur ist wohl hungrig? Wir sind etwas spät zurückgekommen," sagte die Alte lächelnd. Ich wollte auffahren; ich hatte Lust zu zürnen. Der Kapitän wußte durch einen freundlichen Scherz das Unwetter abzuleiten. Die Soupe de legumes war sehr warm und heute besonders geraten; ich schlürfte den Unwillen hinunter. Die Familie war nur in den Buchenwald gegangen, um "Faines", "Buchnüsse" zu sammeln. Was wir, soviel ich weiß, den Schweinen überlassen, ward hier gesammelt, um Öl daraus zu pressen. Ich wollte doch noch ungehalten sein, daß man mich allein und ohne Speise und Trank zurückgelassen. Man bot mir an, das nächstemal mit in den Wald zu gehen; das wäre ein sehr hübsches Vergnügen. Möglich, im Mai und Juni; aber im späten Oktober durch nasses Laub zu streifen, um vom Morgen bis Abend Buchnüsse zu raffen, dazu war ich nicht in Frankreich.
Wozu war ich denn überhaupt in Frankreich, ich meine: jetzt noch? Diese Frage, an der wir alle laborierten, sollte uns bald beantwortet werden, aber nicht zu unsrer Zufriedenheit. Tor, daß ich über die Einsamkeit, die tatenlose Ruhe nur einen stillen Stoßseufzer verloren! Der Märchentraum war in einer Woche vorüber. Wir mußten wieder putzen, exerzieren, marschieren, paradieren, früh bis abends. Es war eine Lust, dieses Exerzieren auf den quellenden Wiesen, im aufgeweichten, fetten Boden, um uns vorzubereiten, zum Kriege - nein, zur Rückkehr in die Heimat! Sieben starke Stunden weit lag die Festung Rocroy, wo das Hauptquartier unsres Regiments war, von unserm Dorfe entfernt. Es gefiel dem Kommandierenden, daß wir wieder einmal dort Parade spielen sollten. Ein rechtes Wetter zur Parade; denn die Regengüsse strömten Tag und Nacht. Und auf den Morgen um neun Uhr war sie angesetzt. Nur die Nacht durch brauchten wir im Sturmschritt zu marschieren, und alles war gut - vorausgesetzt, daß wir gut vorher geputzt hatten!
Wo blieb der Putz, als wir uns endlich um ein Uhr in der Nacht auf dem Versammlungsplatze einfanden. Über Gräben und Hecken, durch einsinkende Wiesen, in stockfinsterer Nacht brauchten viele von uns statt einer Stunde zwei, um nur bis dahin zu gelangen, und viele hatten den vollständigen Abdruck ihrer Figur im Kot der abschüssigen Wege zurückgelassen. Aber diesen Nachtmarsch darauf! Über geackertes Land und nasse Wiesen; denn die hohlen Wege unsrer Bagage waren gar nicht zu passieren. Wenigstens wäre es besser gewesen, im festen Bette eines mäßigen Flusses zu marschieren, als in dem glitschernden Wasser und aufgeweichten Lehmboden. Im ganzen Feldzuge erinnerten wir uns keines ähnlichen Marsches; aber was erträgt man nicht, wenn es zu einem Zwecke dient, wogegen dieselben Anstrengungen zu einer leeren Spielerei mit dem Körper auch den Geist erschlaffen. Natürlich verspäteten wir uns, wurden heftig gerügt, angewiesen, das Versäumte nachzuholen, häufiger zu exerzieren, besser zu putzen und dergleichen. Unsre Offiziere traf der nächste Vorwurf, und daß sie ihn nicht auf sich sitzen ließen, sondern weiter gaben, liegt in der Natur des Menschen. So, todmüde, in Kot starrend, von Nässe durchschüttelt, ward eine große Parade abgehalten, dann einer Feldpredigt beigewohnt - entsinne ich mich recht, so war es ein Friedensfest; ein schöner Friedensanfang für uns! - und dann zurückmarschiert; auf denselben Wegen, aber in einer zweiten Nacht! Zwei Nächte und einen Tag auf grundlosen Wegen marschiert, einen Tag über exerziert und paradiert und nichts zu essen und zu trinken, als was wir im Brotsack und der Flasche mitgebracht.
Der Tag von Rocroy blieb uns allen in furchtbarem Gedächtnis. Was an Waffen, Uniform und Schuhen noch bis da gehalten, saß jetzt in den letzten Zügen. Der Unwille war allgemein. Wozu diese Quälerei? Noch entlud er sich nicht; auch als viele, welche beim nächtlichen Rückmarsch sich verspätet hatten, zur Strafe nachexerzieren mußten, ertrug man es mit Geduld; als aber eine ebensolche Parade zur Feier der Leipziger Schlacht am 18. Oktober, ebenfalls in Rocroy, angesetzt war, und ein noch furchtbareres Wetter die schrecklichste Aussicht bot, ging schon ein dumpfes Gemurmel durch die Reihen. Ob man sich vor der Stimmung fürchtete? Ich bezweifle es. Das Wetter wurde zu schlecht; deshalb ward offiziell die Parade abgesagt. Der Jubel, der durch unsre Reihen scholl, war ein unermeßlicher; er sprach deutlicher als das Gemurmel, wie unsre Stimmung war. In meinem Tagebuche steht: "Eine größere Freude haben wir im ganzen Feldzuge nicht erlebt –" Freude darüber, daß wir nicht die Schlacht bei Leipzig feierten! Ein bedenkliches Zeichen, wenn man die beste Stimmung, die unter uns herrschte, so schlecht zu nutzen verstand.
Aber es geschah in der Tat jetzt alles mögliche, um diese Stimmung zu verderben, uns fühlen zu lassen, daß man auf unser Freiwilligentum nichts gäbe. Um dem alten preußischen Unteroffizierstriebe noch in den letzten Augenblicken zu frönen, wollte man keinen vorübergehen lassen, den wir noch unter militärischer Disziplin standen, uns den ganzen Ballast des Gamaschendienstes auf die Schultern zu laden. Von wem dies ausging, ich weiß es nicht. Vielleicht, wie ich schon früher anführte, war es die politische Strömung von auswärts aus den höheren Regionen herab, damit das Gefühl der Freiwilligen, mit Vaterlandsretter gewesen zu sein, gedämpft werde. Möglicherweise war es aber auch nur eben jener subalterne Trieb des militärischen Zunftgeistes, der nicht von seiner Art lassen konnte. Man mochte fürchten, daß die gefürchtete Freiheit uns zu Exzessen, zum Übermut verleiten könne. Eine sehr törichte Furcht in unsrer Lage und in unsern Kantonierungen!
Da wurden neue Einteilungen gemacht, neue Gefreite gewählt, neue Posten errichtet, nur, um uns zu beschäftigen. Unsre Kompagnie war in zwei Dörfern einquartiert. Da stellte man auf einem hohen Felde zwischen beiden in der Nacht eine Schildwacht, die durchaus nicht wußte, was sie bewachen sollte. Denn wenn sich ein Feind, eine verdächtige Bewegung zeigte, mußte sie eine halbe Stunde bis zur Wache zurücklaufen, um zu rapportieren. Bei einer wirklichen Gefahr wäre sie vom Feinde augenblicklich weggenommen worden, ehe es ihr gelang, zu entfliehen; denn sie stand allein auf einer hellen, weitgesehenen Höhe, und ringsumher in der Tiefe war Buschwerk. Um der Sache einen Namen zu geben, sagte man, sie solle auf etwaiges Feuer acht haben. Ein solcher Nachtwächterposten kam uns aber erst recht ehrenrührig und zugleich sinnlos vor, da einzelne Gehöfte vom Posten mehrere Stunden entfernt lagen, und ein Hof völlig niedergebrannt sein mochte, bis die Schildwacht darüber nur auf der Hauptwache berichtet hatte. Die Kritik über Anordnungen der Art ward auch gar nicht mehr im stillen geflüstert, sondern ging laut von Mund zu Munde. Jenes Vexierpostens spottete man so, daß die ganze Ablösung desselben in heitern Nächten sich hinauf begab und in einer duftenden Heumiete eine Höhle grub. Während die übrigen vortrefflich ruhten, stand der eine Wache, nicht nach Feuer und Feind ausschauend, sondern ob kein Lauscherauge sich nähere.
Die Unzufriedenheit fand auch in mancherlei anderem Nahrung. Man hatte uns zum Lohne für unsern schweren Dienst besonders gute Kantonierungsquartiere verheißen. Das waren auch die bessern in diesen Dörfern nicht. Wir sollten Wein geliefert erhalten; es geschah ein einziges Mal: am Tage der Leipziger Schlacht. Aber diese halbe Flasche war die erste und letzte in Frankreich, das uns für das Vaterland des Weines galt. Allerhand von Veruntreuungen und Einverständnissen ward gemunkelt. Ich habe es vergessen. Einzelne Erinnerungen aus jenen Kantonierungen in den Ardennendörfern sind in eine meiner frühen Novellen "Iblou" übergegangen. Da hat sich denn manches im poetischen Gewände erhalten, über dessen Echtheit ich heute kein Zeugnis mehr ablegen kann. Auch eine dunkle Tradition von einem Liebesverhältnis eines unsrer Offiziere mit einer Französin und einem bösen Maire jenes Namens, welcher nachher von seinen eigenen Leuten im Walde erschossen worden. Solche Verdächtigungen sind immer ein übles Zeichen, weniger der Tatsache, die man argwöhnt, oft irrtümlich, als des unglücklichen Geistes des Mißtrauens, der sich in eine Gemeinschaft eingeschlichen hat. Auch hieß es, daß man den Freiwilligen versprochen, sie nach Paris zu schaffen; ehe sie Frankreich verließen, sollten sie die eroberte und gedemütigte Hauptstadt gesehen haben. Allerdings erging ein solcher Antrag an uns; aber mit solchen Klauseln, daß niemand davon Gebrauch machen konnte. Eine jener halben Maßregeln, durch welche man ganze Schritte wieder halb zurück tat. Der Antrag wurde beim Verlesen satirisch kommentiert und höhnisch verlacht.
Alles das war geringfügig gegen das Gamaschenspiel, das man mit uns trieb. Wer glaubt es heut, daß man uns den ganzen Krieg durch ließ, wie wir uns selbst und auf eigne Kosten equipiert hatten; aber nun er vorbei war, wollte man uns uniformieren und dressieren! Absolut sollten wir uns Tschakos anschaffen; wer, wie ich, trotzig bis zuletzt bei seiner Mütze verharrte, ward in Reih und Glied immer tiefer hinabgedrängt. Auch andre Hosen sollten uns geliefert werden, stramm, eng anschließende graue Kommißhosen, die zugleich in Gamaschen ausliefen, jene unglückselige Bekleidung, welche bis ehegestern den preußischen Infanteristen zu einer Puppe machte und den Körper an jeder freien Bewegung hinderte. Sie hat sich im Felde nicht mehr bewährt oder vielmehr ihre ganze Unzweckmäßigkeit nicht mehr an den Tag legen können. Das Einschnüren versuchte man freilich bei uns nicht; aber wir sahen doch täglich das Beispiel vor Augen, und wer seine Taille recht schmal zusammenpreßte, gehörte zu den "Adretten" und ward vor den "Malpropren" bevorzugt. Es gingen fast dreißig Jahre ins Land, bis dieser Unsinn wie eine überreife Modekrankheit abblätterte, und man zur Erkenntnis kam, daß (wenn auch in sonst nichts) wir in der Kleidung uns doch dem Mittelalter wieder nähern müßten, und daß der Dreißigjährige Krieg für die Soldatenkleidung die besten Modelle liefere. Die Infanterie blieb aber nicht bei den Kleidern haften.
Mit unsern Bärten konnte man nicht spielen, da wir keine hatten, wenigstens der größere Teil. Dafür richtete man sein Augenmerk auf unsre Haare. Wie in Tiecks "Fortunat", ward uns ein Normalkopf gezeigt, der kurz hinten abgeschnitten war: und diese kurzen Haare starrten wieder wie die Borsten einer Bürste in die Höhe. Wie aber das bewerkstelligen? Bürsten und Kämmen allein tut es nicht, sagte unser Hauptmann in vertraulichem Ernst; es gehört noch etwas andres dazu. " Starch is the think!" – diese goldene Erbschaft hinterließ bekanntlich der große Brummel seinem undankbaren Vaterlande, als er dasselbe, in die Verbannung gehend, verließ; und seitdem trägt man in England steife Halsbinden. Aber Stärke war nicht das Ding hier, sondern Bier. Mit Bier, das wir übrigens nicht einmal zum Trinken geliefert erhielten, wie uns verheißen worden, mit Bier sollten wir jeden Abend unsern Hinterkopf waschen, dann das Haar seitwärts schräg in die Höhe kämmen und bürsten und endlich, wenn es in die rechte Lage gebracht, ein Tuch darum schlagen, es fest um den Kopf binden, und so die Nacht schlafen. Das würde unsern Kopf preußisch normalmäßig zurechtsetzen!
Ich muß unserm Hauptmann das Zeugnis geben, daß er hierin nicht als Despot auftrat, daß er diese Manipulation nicht befahl, sondern als aufrichtiger Freund nur anempfahl. Von der Masse es zu erwarten, wäre zu viel gefordert gewesen; aber er hoffte von den Erwähltern, daß der bessere, innere Trieb sie antreiben werde, sich über die andern zu erheben, das heißt, ihre Haare. Ich, mit mehreren, empfand eine herzliche Verachtung gegen diese Jämmerlichkeiten; und doch – wer erklärt diese Irrung der Natur – ich fing an, mein Haar naturwidrig zu Berge zu streichen, ja, wenn ich Bier zur Hand hatte, feuchtete ich es wohl damit an, still erfreut, wenn es gut stand. Es hat lange Jahre gedauert, bis ich zu den Gesetzen der Natur zurückgekehrt bin; es war, meinte ich, eine unschuldige militärische Erinnerung. Ja, noch jetzt betreffe ich mich zuweilen, daß ich unwillkürlich das Haar in die Höhe bürste!
Kurz vor dem Ende dieses Feldzugs ward noch eine wichtige Entdeckung entweder gemacht oder doch vervollkommnet: es war die neue Art, die Mäntel zu rollen und zusammen zu schnallen, dergestalt, daß sie wie eine dralle, runde Wurst kranzförmig um die Schultern gehängt werden konnten; der Tornister darüber oder darunter – hierüber schwankte noch die Theorie. Es war etwas unbequem, sollte aber sehr gut aussehen. Fünf, sechs, wo nicht mehr Kameraden waren jedesmal nötig, um den Mantel, der wie ein Prelltuch in der Luft ausgebreitet wurde, auf diese Weise zusammenzurollen. Das gab viel Beschäftigung, Sorge und Kritik; doch förderte es den Gemeingeist: der einzelne konnte für sich nichts tun. Was wetteiferten die Kameradschaften, durch Zerren, Pressen, im Schweiß ihres Angesichts die schlanksten Mantelwürste zu produzieren! Daß das Tuch selbst darunter litt und faserdünn wurde, darauf konnte es natürlicherweise nicht ankommen, wenn der Hauptmann dafür mit Vergnügen hinter den Reihen schritt und die glattesten und dünnsten Mantelschlangen mit eigner Hand befühlte und teilnehmend darauf klopfte.
Der Winter kam an. Das helle Wasser stand auf den Wiesen, daß wir dem Augenblick entgegensahen, wo wir zu Kahn zum Appell fahren würden; aber noch verlautete nichts von Entlassung oder Rückmarsch – nur von neuen Paraden! Ich träumte von einer, die im Städtchen Aubenton angesetzt war, als es in der Nacht heftig an die Türläden pochte. Eines Kameraden Stimme rief meinen Namen mit lautem Hallo. Er stürzte durch die erbrochene Tür; mit Sack und Pack, mit Wehr und Waffen. "Der Generalmarsch wird geblasen! Wir rücken aus! Es ist kein Augenblick zu verlieren!" – Wohin? – Das wußte niemand. Hatte der Kamerad doch selbst nur von einem Bauer die Nachricht erhalten, das Signalhorn nur in der Ferne gehört, durch Nacht und Nebel schmettern. So zerstreut lagen wir, daß in der Eile kein Umlauf zu bewirken war. Aufspringen, nach Licht rufen, Feuer anmachen, suchen, die zerstreuten Sachen zusammenwerfen, packen, war das Werk eines Augenblicks, während mein Kamerad mit dem Büchsenkolben auf die Schwelle stampfte, um mich und meine Wirtin zur Eile anzutreiben. Ein erschreckender Gedanke: allein zurückbleiben zu müssen. Ein Stück Brot, einen Apfel in der Tasche, mit einem Händedruck für meine gutwilligen Wirte, stürzte ich ins Dunkel und den Regen hinaus, um die Hütte, in der ich vier Wochen gelegen, nicht wieder zu sehen. Die Eile war unnötig; diesmal waren wir die ersten auf dem Platze und mußten zwei Stunden im Regen warten, bis abmarschiert ward. Doch mit einigem Troste. Nicht nach Metz, wie das Gerücht sagte, sondern nach der Maasfestung Mezières ging der Marsch und von dort nach der Stadt Sedan, wo wir mit unserm Regimente eine neue, letzte Kantonierung beziehen sollten, um nach Hause entlassen zu werden.
Mit den Fatalitäten dieser Märsche will ich meine Leser, die mir bis hier gefolgt, nicht unterhalten. Die französischen Chausseen waren mit den unsern jener Zeit nicht zu vergleichen; aber im regnerischen Oktober- und Novemberwetter und von Heereszügen und Artillerietrains aufgewühlt, waren sie nicht viel besser, als die durchweichten Landwege, welche wir bis da hin und wieder von den Chausseen herab bis in die entfernt gelegenen Dörfer zu machen hatten. Dazu fast immer Nachtmärsche, nun, zu Ausgang eines trüben Oktobers, zuweilen unter Fackelbegleitung, weil es durchaus unmöglich war, den Weg zu finden.
Wir marschierten in Parade durch Charlesville und Mezières, eine traurige Parade, da wir an uns wirklich nichts mehr hatten, um zu paradieren. Ein grauer Regenhimmel hängte seinen schützenden Mantel über unsre Blößen oder unser Zuviel. Die durch Bayards Verteidigung berühmt gewordene Festung soll in ihrem Innern noch manche Erinnerung an jene Zeit aufzuweisen haben; im Äußern sieht man nichts vom edlen Rost des Altertums. Noch weniger sahen wir im Felde umher etwas von den berühmten Schanzen, welche Franz von Sickingen gegen den Helden ohne Furcht und Tadel aufwarf. Der Umstand selbst, daß wir hier auf einem auch für Deutschland klassischen Boden standen, war wohl keinem unter uns bekannt.
In Sedan zogen wir mit Spiel und Klang ein, um des Glückes zum erstenmal teilhaftig zu werden, in einer größeren, französischen Stadt Quartiere zu beziehen. Sie waren leidlich und wurden durch den Umgang mit freundlichen Wirten selbst angenehm. Wie manches kam uns nach dem langen Biwakieren und den Quartieren in armen Gebirgsdörfern sogar als Luxus vor, was uns zu Hause eine alltägliche Erscheinung war. Ein Bette, ein servierter Tisch, sauber wenigstens angerichtete Speisen und dazu französische Höflichkeit. Die Stadt ist verhältnismäßig groß, heiter und trägt noch einige Spuren ihres ehemaligen mittelalterlichen Charakters, als sie die Residenz und Hauptstadt nicht unmächtiger Dynastengeschlechter an der Grenze zwischen Frankreich und Deutschland war. Hier herrschten die Bouillons, die einst die Krone von Jerusalem eroberten und trugen, hier die Herren von der Mark, denen Walter Scott durch seine karikierte Schilderung des "Ebers der Ardennen" nicht geschmeichelt hat, Fürsten, zuzeiten wohl geeignet, ihr Schwert in die Wagschale zu legen, die zwischen Deutschland und Frankreich schwankte. Franz von Sickingen war lange Zeit noch mit ihnen verbündet, und seine letzte Hoffnung auf Landstuhl war auf Robert von der Mark gerichtet. Sie versagte. Mit der konsolidierten Macht des französischen Thrones ward die unabhängige Stellung dieser Grenzherren immer prekärer. Noch versuchten sie in den Reibungen der Feudalherren mit der Krone unter Ludwig XIII. sie zu retten, und nicht ohne Klugheit mischten sie sich in die Kämpfe der Prinzen von Geblüt mit dem allmächtigen Minister; aber Richelieus Klugheit war überwältigender, und Sedan, so oft der Waffenplatz der Mißvergnügten an der Grenze, ward der französischen Regierung unmittelbar unterworfen.
Von dem alten Feudalrecht steht noch ein gewaltiger Stengel inmitten der Stadt: die Burg mit ihren kolossalen, verwitterten, graubraunen Mauern, ehrwürdig, zerrissen, hinfällig vom Alter, und doch ein imposanter Anblick, trotz seiner wankenden Türme. Ich sah Sedan seitdem nicht wieder; aber entzückt ruft der siebzehnjährige Romantiker in seinen Briefen: "Ein ungeheures Riesenwerk, von Stein und Menschenhänden aufgeführt; keine erhabenere Ritterburg habe ich je gesehen." Kanonen waren noch auf den Mauern aufgepflanzt. Unter der Tür zu einer verfallenen Kammer stand mit goldenen Buchstaben: Ici naquit Turenne. Die Bewohner von Sedan lassen sich noch heute gern "fils de Turenne" nennen." Aber nach unsern Begriffen achten sie die Wiege des Helden nicht besonders, indem sie die "Bequemlichkeiten", welche man in den hoflosen, engen Häusern vermißt, unter den Mauern seiner Burg aufsuchen. In demselben naiven Sinn, wie jener Italiener den Reisenden anrief: "Non qui e palazzo", wies uns die Tochter unsres Wirtes, als wir im Hofe suchten, nach dem alten Schlosse.


Das gute Mädchen fragte mich einst in vollem Ernste, ob denn der Boden bei uns bebaut würde? Ich "ärgerte mich furchtbar darüber", steht in meinem Briefe. Die Sünde der Unwissenheit dieses armen Mädchens teilen viele ihrer Landsleute. Noch eines andern naiven Ausdrucks entsinne ich mich. Sedan ist eine betriebsame Fabrikstadt. Ein Teil der Bevölkerung gehört der reformierten Kirche an. Auf unsre Frage, ob auch ihr Vater reformiert sei, antwortete die Tochter mit einem bescheidenen Erröten: "Ach nein, mein Herr, mein Vater ist nur ein Schlosser. Nur die reichen Einwohner, die großen Fabrikanten sind reformiert; wir Handwerker sind katholisch." Es kam beinahe heraus, als wollte sie auch das "nur" sagen. Wenn das gute Kind sich sehnte, reformiert zu sein, so war es nur ein stiller Wunsch, auch, wie die geputzten Frauen und Töchter der reichen Fabrikherren, in die helle reformierte Kirche zu gehen. Aber ein seiden Kleid trug sie, trotzdem, daß sie nur katholisch war. Der bigotte Sinn des Landvolks war hier nicht eingedrungen.
Es gab auch ein Theater in Sedan. Tragödien und Lustspiele wurden abwechselnd aufgeführt; das Haus war mehr durch die Besatzung als die Einwohner gefüllt. Ich sah des unsterblichen Corneille "Nicomedes" über die Bretter schreiten, welcher, nach des großen Voltaire Urteil, die vorzüglichste Tragödie desselben war, und die Einwohner von Sedan sollten zum ersten Male das Vergnügen und die Ehre haben, dieses Meisterwerk auf ihrer Bühne zu bewundern. So sagte ein ellenlanger, roter Zettel an den Ecken; aber "die Söhne Turennes" schienen wenig auf diese Ehre zu geben. Bei jeder Ankündigung eines neuen Stückes verfehlte der Direktor nicht, den Einwohnern im voraus zu sagen, wie außerordentlich dieses Stück den Parisern gefallen; also, stand hinter den Zeilen, hätten sie sich wohl danach zu achten, und wenn sie nicht jeden Anspruchs auf Geschmack sich begeben wollten, ebenfalls entzückt zu sein. Mich verdroß diese offene Darlegung der Geschmackstyrannei einer Hauptstadt; die Tragödien langweilten mich, natürlich schon um deswillen, weil ich als guter deutscher Romantiker an klassischen Tragödien der Franzosen keinen Geschmack finden durfte, und die Lustspiele, die, wie von allen französischen Truppen, mit Lebhaftigkeit und Grazie gespielt wurden, verstand ich nicht. Dennoch besuchte ich gern dieses Theater. Es war ein zu wunderbarer Gegensatz gegen die Ardennenhütten und das Lagerleben. Einige Kameraden gingen in der Bewunderung so weit, daß sie mitspielten. Da es mit unserm Freiwilligentum aus war, wurden sie freiwillige Römer und Griechen – nur aus unüberwindlicher Theaterlust. Statisten hier wie dort. Auch die in Deutschland als Oper einst so beliebt gewesene " La chasse du jeune Henry" ward hier wiedergegeben. Im Parterre erhob sich die Bourbonen- und Friedenspartei und stimmte mit vollem Jubel in das " Vive Henry quatre!" ein. Vielleicht ein Schaustück für uns?!
Am 25. Oktober waren wir in Sedan eingerückt, um von dort aus in die Heimat entlassen zu werden. Am 9. November marschierten wir aus, noch nicht entlassen, um noch einige zehn Meilen tiefer in Frankreich hineinzumarschieren. Nur der Ordnung wegen! Vom 3. Oktober war der Kabinettsbefehl, daß man uns entlassen sollte! Aber nicht alle konnten mit einem Male entlassen werden, und an uns kam die Reihe zuletzt. Wieviel hundert Listen mußten vorher geschrieben und unterschrieben, abgeschrieben und kollationiert werden! Eine Kompagnie, die entlassen werden soll, ist wie eine Baurechnung, die oft noch nicht ganz erledigt und revidiert ist, wenn das Haus schon anfängt einzufallen. Aber anstatt uns zu lassen, wo wir waren, mußten wir unserm Regimente in dessen neu angewiesene Kantonierungen – es sollte auf fünf Jahre unter den Besatzungstruppen bleiben – nachfolgen. Zu welchem Zwecke diese mühsamen, unnützen, kostspieligen Märsche! Um noch etwas zu exerzieren, putzen, paradieren? Um nicht aus der Gewohnheit Zu kommen!
Die Gewohnheit, das heißt das Beispiel vom vorigen Kriege, forderte, daß aus der Zahl der Freiwilligen einige als Offiziere entlassen würden. Die letzten Spielereien hatten uns aber gegen das fernere Soldatensein einen solchen Widerwillen eingeimpft, daß unter uns dazu Aufgeforderten die Mehrzahl die Erklärung abgab, sie danke, es sei damit genug, und mache auf den Ehrentitel keinen Anspruch. Die zweite Frage war, wer weiterdienen wolle? Nur wenige, denen die Aussichten zum bürgerlichen Fortkommen durch Verhältnisse oder eigene Schuld versperrt schienen, meldeten sich dazu. Die Mehrzahl rief protestierend: "Wir wollen keine Tschakos, keine neuen Hosen, wir wollen nur nach Hause!"
Ungern schied ich nach einem längern als vierzehntägigen Aufenthalt von Sedan. Es war mir dort wohl ergangen, meine Wirte hatten sich von Tag zu Tage freundlicher bewiesen, mich, als ich krank war, gepflegt, selbst Wein angeboten – etwas, wozu sich der französische Wirt in diesen Gegenden sehr schwer entschloß – selbst freundlich waren sie geblieben, als ich eine große Delikatesse, welche die Töchter mir bereitet, ausschlug – ein Gericht Froschkeulen! Ich konnte mich nicht überwinden.
Und nun aus dem gastlichen, freundlichen Stadtaufenthalt wieder die Maas hinauf in Dörfer und Hütten, ohne Ziel! Nur etwas tröstete: der Frost und der Sonnenschein. Ich fror lieber in meiner abgeriebenen, dünnen Kleidung, als dies ewige, nasse Nebelwetter auf den Straßen, deren Kot wir an Schuh und Kleidern mitschleppen mußten.
Zehn Tage nach dem Ausmarsch aus Sedan finde ich mich endlich, wonach das Herz so lange sich gesehnt, bei dem alten Dun in einem Weindorfe, dem ersten und letzten in Frankreich. Aber grade mein Wirt behauptet, keinen Wein zu haben; er sei ganz arm, und der Wein teuer. Da entdeckten wir im Keller aus dem Boden eine große Anzahl Fässer, Kufen. Nun muß er geben; die gewöhnliche Ausrede, daß er nie zu Napoleon gehalten, hilft ihm nicht. Aber der Wein ist herzlich schlecht, und unsre Ärzte lassen uns warnen, davon zu trinken, da er Haut- und Eingeweidekrankheiten veranlasse. Den Becher an der so lange dürstenden Lippe, müssen wir ihn absetzen. Aber wir sind doch im Weinlande gewesen und haben Weinberge, vom Novembersonnenschein angerötet, gesehen. Und hier die ersten warmen Öfen. Wie das an die Heimat mahnte!
Aber auch in dem Weindorfe bei Dun noch keine Erlösung. In der Nacht hatte es unerwartet geschneit, fußhoch, und wir brachen auf, wieder westlich in die Gebirge, in eine neue, vierte Kantonierung. Auch im Schneekleide, von der Sonne angeglänzt, nahmen sich die Ardennen schön aus. Hier lagen wir bis gegen Ende November, und noch immer waren unsre Listen nicht fertig, unsre Marschroute nicht bestimmt. Noch einmal mußten wir wieder nördlich die Maas hinaufmarschieren, heute auf festgefrornem Boden, morgen hatte es getaut, und am Tage darauf hatten wir wieder grundlose Wege, bis an die Knie versinkend, bis ans Kinn bespritzt, zu durchwaten. Elende Quartiere, hier in Hütten, dort gelegentlich in einem alten Herrenhause mit allem Luxus aufgenommen. Wenigstens sollten wir diesen Teil von Frankreich in allen Klassen seiner Bewohner kennen lernen. Aber wir waren müde, wir hatten genug, kein moralischer Impuls trieb uns mehr; wir wollten nichts mehr lernen.
Und doch muß ich manches da gelernt haben. Es taucht vieles aus der Erinnerung auf, was ich in meinen Briefen nicht notiert finde. Wäre ich nur älter als siebzehn Jahre gewesen, welche Studien des französischen Bauerncharakters hätte ich machen, ich hatte "Dorfgeschichten aus der Pikardie" schreiben können! Wie ward ich oft als Wunder angestaunt wegen meiner Gelehrtheit, und welche Schulmeister lernte ich kennen und ward dieser meiner außerordentlichen Eigenschaft wegen zu ihnen geführt, ohne, es tut mir leid, es zu sagen, ihnen das Kompliment wiedergeben zu können. Da sollte ich Lateinisch mit einem sprechen. Der Schulmeister hielt es für angemessener, mir ein Glas Zider (Obstwein) vorzusetzen und mich zum Trinken aufzufordern. Wenn ich heute an des Schulmeisters Stelle wäre, machte ich es ebenso. – Aber in einem entlegenen Dorfe in den Ardennen wuchs dies Erstaunen zu einem gespensterhaften Ausdruck. Wir saßen am Kaminfeuer, als mein Zeltgenoß – derselbe, der spater den Heiden in Amerika predigte, damals aber Fouqués "Zauberring" für das größte Werk der Deutschen hielt – in den Winkeln umherstöberte und einen alten, schweinsledernen Band auffand, welcher, der Himmel, weiß wie, dahin geraten war. Es waren Ovids "Metamorphosen". Er schlug lachend mit der Hand auf den Fund und begann den ersten Vers zu rezitieren, als ich, der noch etwa fünf bis sechs Monate vorher in Sekunda meinen Ovid wohl durchpflügt und wenigstens die ersten Verse im Kopfe hatte, einfiel:

In nova fert animus mutatas dicere formas Corpora.

So respondierten wir beide. Die Blicke der guten pikardischen Bauern und Bäuerinnen zu schildern, ist mir nicht möglich. Einer schrie dem andern das Wunder zu: " Il sait par coeur, ce qu'aucun, dans tout le village peut lire." Ein gemeiner Soldat, ein Soldat aus dem Barbarenlande, und er weiß ein Buch auswendig, was selbst der Pfarrer nicht recht kannte. Man kam, mich zu sehen als ein halbes Wundertier oder einen Zauberer. Dann sollte ich dem Pfarrer vorgestellt werden. Ich weiß nicht, warum es unterblieb. Der Zider des Herrn Pfarrer war vermutlich nicht süß genug. Endlich siegte der industrielle Sinn über das Märchenhafte. Man berechnete, daß ein solches Buch, welches wir in der Barbarei auswendig wußten, außerordentlichen Wert haben müsse, und bot es mir zum Kauf an. Ich dankte dafür, weil es jeder bei uns besäße.
In Givet sollten wir förmlich entlassen werden; dorthin waren die Jägerdetachements aller Regimenter beordert, um gemeinschaftlich den Rückmarsch anzutreten. So waren wir schon von unserm Regimente getrennt, und der Kommandeur desselben ließ uns schriftlich sein Bedauern ausdrücken, nicht mehr uns wiederzusehen und persönlich von uns Abschied nehmen zu können. Er war ein strenger Ehrenmann, wenn er uns gleich, nach unsrer Meinung, ohne Not zu sehr gequält hatte. Zu Bysanci in den Ardennen entließ uns ein andrer General nach einer Parade mit den Worten: "Na, Jäger, nun werdet Ihr nach Hause gehen. Ich danke Ihnen im Namen des Königs. Na, und wenn's wieder losgeht, so kommen Sie doch wieder?" Nur einige Stimmen antworteten; fort war er geritten. Der General ist jetzt tot; er war erst seit kurzem ein Preuße geworden.
Auch der November war verstrichen, und ein regnerischer, unfreundlicher Dezember sah uns noch immer in Frankreich. Am 4. standen wir, von einem Marsche durch Wasser und Schmutz bis über die Ohren bespritzt, in einem großen Kasernenhofe zu Sedan, viele Tausend freiwilliger Jäger um einen freien Mittelpunkt, wo der General von Ziethen zu Pferde eine Entlassungsanrede an uns hielt. Es stäubte vom Himmel. Der Tag, die Rede sind mir unvergeßlich. Der Sinn der Rede war: nun sei es aus. Wir sollten uns nicht einbilden, mehr getan zu haben, als unsre Schuldigkeit wäre; wir hatten getan, was wir hätten tun müssen, und weil es nun vorbei sei, schicke uns der König nach Hause. Aber doch sollten wir darum nicht denken, daß es aus wäre; denn wenn Seine Majestät der König beföhle, müßten wir wiederkommen, und dann ginge es wieder an. Danach hätten wir uns zu achten. –
Also darum – Freiwilliger! Der Regen war nicht kalt; aber die Rede wirkte wie ein Glas kaltes Wasser. Wenn ich später den seligen Professor und Geheimrat Schmalz hörte und Friedrich v. Gentz' Artikel über die Freiwilligen las, dachte ich an den General Ziethen und den Kasernenhof in Sedan.
Ein andrer General sprach nach Ziethen. Ich glaubte, es sollte ein Zuckerpulver werden auf den harten Teig, den wir zu verdauen hatten; aber es war Pfeffer, auf Wunden gestreut. Dieser General sollte den Rückmarsch der heimziehenden Jäger befehligen; er hielt es deshalb für nötig, die strenge Seite im voraus herauszukehren. Seine Worte waren Drohungen von In-die-zweite-Klasse-versetzen, Stockschlägen und Von-Gendarmerie-zurückbringen-lassen. Sah er uns denn an, daß wir Marodeure waren? Er konnte uns höchstens unser Mißvergnügen ansehen.
Von diesem Augenblicke an war mein und mehrerer andrer Entschluß gefaßt, die uns schon früher angebotene Entlassung zu nehmen, um auf eigene Kosten zurückzukehren. Obgleich diese Anordnung nicht von unsern unmittelbaren Vorgesetzten herrührte, sondern aus höherer Quelle kam, stellte man uns doch alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg, und es gehörte Geduld, Ausdauer und ein so fest gewordener Entschluß dazu, um endlich unsern Paß zu ertrotzen.
Ich wollte nicht länger Soldat spielen, ich wollte nicht einen Tschako auf meinen Kopf drücken, und meine Haare nicht länger in die Höhe pressen. Es gibt Augenblicke, da die willigste, duldsamste Natur die Grenze des Duldens erreicht hat und zu einem Widerstande, vor dem sie sonst erschrocken wäre, fähig ist. Überdem war es eine traurige Aussicht, auf der großen Heeresstraße, im Gefolge von 4000 Jägern, die zugleich entlassen wurden, in langsamen Märschen und im Winter nach der Heimat zu kehren. Während es mir sehr poetisch vorkam, mit wenigen Befreundeten und nach Muße durch das südliche Deutschland, über altberühmte Städte dem Vaterlande als ein freier Mann zuzueilen. Wir wollten über Luxemburg, Trier, Mainz und Frankfurt reisen. Mit dem "auf eigene Kosten" ward es in solchen Fällen nicht zu streng genommen, da es ein ganz ungewöhnlicher Fall war, daß Soldaten, die vom Feldzuge zurückkehrten, nicht einquartiert würden; auch hätte unsre Barschaft allein wohl schwerlich noch zu dieser Reise ausgereicht.
Noch abermals zehn Tage zog man uns hin. Noch einmal marschierten wir zurück in die Gebirge, noch einmal kehrten wir nach Givet zurück, und erst am Abende des 13. Dezember kehrten wir mit unsern Pässen in das schon früher genannte Dorf Fromlianes zurück, einst während der Belagerung der Sitz eines der Vorposten, um zum letzten Male mit unserm Detachement daselbst zu übernachten. Es war ein seliges Gefühl, als wir uns auf das elendeste Strohlager niederwarfen; denn wir waren frei. O diese Nacht, wo wir ausschlafen konnten, Herren über unser Geschick! Und als am Morgen das Horn weckte und rief, und alles fortstürzte – uns ging es nicht mehr an, wir konnten uns umwenden, strecken, die Augen wieder schließen. Nein, wir sprangen doch auf, nur später, und doch zeitig genug, um an den Reihen unsrer nicht so glücklichen Kameraden vorüberzugehen, die Hände mit ihnen zu schütteln und, als das Horn wieder schmetterte, die Kommandoworte erschallten, ein fröhliches Auf-Wiedersehen im Vaterlande uns zuzurufen. Es war ein bewegter Abschied.
Warum war es nur der Abschied der Zeltgenossen, warum nicht der ganze Ausgang eines glücklichen Krieges? Weil – der Jammer schon anbrach, der jedem aufgeregten Zustande folgt. Weil man schon anfing, es zu bereuen, aus dem alten Geleise gewichen zu sein, weil der tote Organismus unbemerkt Herr ward über den lebendigen Geist. Noch wußte man es nicht, daß man einen Schritt zu weit gegangen war; aber das Gefühl, der Instinkt war schon da, daß man Kräfte aufgerufen, die man weiterführen oder zurückdrängen mußte. Ein Stillstand war nicht möglich. Dieses unbewußte Gefühl arbeitete in den Trägern der alten Ordnung. – –
Ich breche hier ab; ich wollte eine mir werte Erinnerung an die letzten Ausläufe einer großen Zeit niederschreiben, nicht Epigramme, wie die Halbheit scheuer Bewachung den Sieg davontrug über, rückhaltloses Vertrauen und zu volle gläubige Begeisterung.
Unsre Rückreise war nicht ohne Abenteuer, Fährlichkeiten und angenehme Erlebnisse. Von den Vieren, welche sie zusammen antraten, vom schönsten Winterwetter begünstigt, ist mir der eine aus den Augen verschwunden, der Zweite ist ein namhafter Arzt und glücklicher Dirigent einer berühmten Irrenanstalt, und der Vierte, der sich nicht zu retten wußte vor den Nachwirkungen und Versuchungen des Soldatenlebens, ist wahrscheinlich in Amerika verkommen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Als Kriegsfreiwilliger nach Frankreich 1815