Die Schafscheide in den Alpen Oberinntals

Nach dem St. Matthäustage verlassen auch die Schafhirten und ihre Herden die Alpen und wandeln in langem ununterbrochenem Zuge dem Schafanger zu. Voraus geht gewöhnlich ein starkes Schaf mit einer weit tönenden Schelle und eröffnet den Zug; diesem folgen enge angeschlossen die übrigen, und am Ende kommen die Hirten, die Hüte mit Edelraute geschmückt und auf den Armen zarte Lämmlein tragend, die noch zu schwach sind, den weiten Weg zu machen, und nebenher blöken die sorgsamen Mütter. So bewegt sich die Herde bis auf den Scheideplatz, der gewöhnlich in der Nähe eines Dorfes hergerichtet ist; denn größtenteils haben mehrere Dörfer nur eine gemeinsame Schafalpe, jeder Eigentümer sichert seine Schafe durch eigene an den Ohren angebrachte Merkzeichen, woran sie bei der Scheidung gleich erkannt werden, und so wird auch einer möglichen Verwirrung vorgebeugt. Zu diesem Ende ist auf einer weiten Wiese ein geräumiger viereckiger Platz eingezäunt, der nur eine Lücke — Zugang — hat. Am Tage der Schafscheide eilen Jung und Alt von Nahe und Ferne dem Schafanger zu; da entsteht ein Gedränge und Getümmel von Eigentümer, Käufer, Metzger, Frucht- und Obsthändlerinnen, so dass die noch vor Kurzem so ruhige Wiese in einen lauten Markt verwandelt wird; indessen aber eilen die Knaben mit schnalzenden Geiseln (Peitschen) der Herde entgegen. So mancher von den muntern Jungen merkt sich hierbei seine Schafe noch besonders und zwar mittels eines Rötels, um sie dann beim allgemeinen Ausscheiden um desto schneller und leichter wieder heraus zu finden. Indessen schlagen die Eigentümer außerhalb dem Gehege ein jeder zwei Pfosten in die Erde, verbinden sie mit einem Seile, um mit den bereit gehaltenen Kampen (Ringe aus weichen Bachweidenzweigen geflochten) ihre Schafe daran zu binden.

Endlich strömt die Herde in das Gehege und alles macht sich auf die Beine, eilt in den Anger, und nach einer Viertelstunde sind die Schafe verteilt. Fehlt eins, so durchsucht man die abgeschnittenen Ohren, welche der Hirte von den umgekommenen Schafen an einem Seile herumträgt.


Die zu dieser Zeit herrenlosen Schafe aber (Halge-Schafe genannt) bleiben in dem Gehege zurück, werden einige Wochen für den sich meldenden Eigentümer verwahrt und gehen dann, wenn sich nach verstrichener bestimmter Frist Niemand darum meldet, in das Eigentum der Dorfkirche über.

Nach der Scheidung geht die Alpenvorstehung mit der Herde-Liste in den Händen um das Gezäun herum, besichtiget genau die ausgeschiedenen Schafe jedes Einzelnen, untersucht ob Alles in Ordnung ist, und erst wenn diese Untersuchung fertig ist, werden die Schafe auf ein gegebenes Zeichen abgelassen, und diese eilen, bald in größeren, bald in kleineren Haufen, unter allgemeinem Jubel und Jauchzen der Knaben, die hintenher mit ihren hanfenen Peitschen um die Wette schnalzen, in ihre Dörfer heim. Wenn die Schafe fort sind, verzieht sich allmählich das bunte Gewimmel und die Vorstehung beendet den Tag mit einer kräftigen Marende.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Alpenbilder aus Tirol