Der Herbst im Inntal

Die Herbsttage in unserem Tale bringen so manche Sitten, Gebräuche und Volksmeinungen mit sich. Während der Landmann noch in der Ebene die Spätfrucht einfechset, hat im Gebirge alle Alpenwirtschaft längst schon aufgehört. Über die schroffen Alpenspitzen streichen jetzt frostige Winde, der Winter zerrt allmählich sein Leichentuch in ungleichen Zipfeln über hochgelegene Hügel und Matten hinunter, und in die öden Taien sind seit der Abfahrt wieder die Alpengeister eingezogen, und erschrecken die verspäteten Gemsjäger, welche dort, von Wetter und Kälte verfolgt, ein Obdach suchen; denn auf jeder Alpe hausen, nach dem Volksglauben, solche Geister, welche früher als Sennleute durch irgend eine Ungerechtigkeit oder Pflichtvergessenheit sich versündiget haben, nun aber zur Strafe auf eine dem Menschen unbekannte Zeit dorthin gebannt sind, und nach dem Abzug der Herde die verlassenen Sennhütten in Besitz nehmen, um am darauffolgenden Frühlinge der Sennerin, welche mit einem „gelobt sei Jesus Christus“ in die Taie tritt, wieder Platz zu machen, und ihre Wohnung in den schauerlichen Gebirgsschluchten oder auf einem majestätisch thronenden Gletscher zu nehmen; (den größeren Teil des Jahres hindurch sind also nach dem Volksglauben die Alpen in der Macht der Geister.) Im Unterinntal heißen diese die „Kasermandlen.“ Es sind Sennleute, die nach der Volksmeinung die Zeit ihrer Alpenwirtschaft oft nicht zum Besten der Eigentümer des Alpenviehes benützt, Milch und Butter verschleudert und so den Alpenbesitzer in Schaden gebracht haben, und daher nach Abzug des Alpenviehes in die verlassenen Sennhütten einziehen müssen, um aus der verschleuderten und unbeachteten Milch noch Butter und Käse zu bereiten. Hieraus entstanden die verschiedenartigsten Kasermandlen-Geschichten, und es ist kaum eine Alpe im Landl, die nicht irgend eine solche zu erzählen hat. — Nicht so schauerlich und unheimlich sieht es drunten im Tale in den Dörflein aus. Da gibt es sehr rühriges und lustiges Leben. Es ist zu Hause Arbeit über Arbeit, um die reichlich gesegnete Herbstfrucht an ihren Platz in die Scheune zu bringen. Man treibt daheim die glatthaarigen Kühe und Rinder unter dem Klange ihrer Halsglocken auf den Bofel (jenes zarte saftige Gras, welches, nachdem man zweimal gemäht, zum dritten male nach, schießt), und die friedlichen Dörfer und Fluren gleichen im Herbste einer anmutigen Alpengegend. Bei Tagesanbruch pfeift der Alpenhirte, da brüllen die Rinder lustig aus dem Stalle und ziehen unter lustigem Geläute der Schellen und frohen Gejauchze der Knaben, welche sich es nicht wehren lassen, ihre Kühe auf die Weide zu treiben, gemeinschaftlich auf die Fluren und Mahden (beim der Bofel wird im Oberinntal gewöhnlich gemeinschaftlich abgeäzt.) Wahrend nun die Kühe, die sich im Sommer aneinander gewöhnt und liebgewonnen haben, so friedlich dahin weiden, führen die muntern Knaben frohe Jugendspiele auf: üben sich im Springen, Laufen, spielen mit dem Balle, schnalzen mit ihren, hanfenen Geiseln, wo jeder die größere haben will, um die Wette, oder sitzen bei kühler Witterung jodelnd und jauchzend um ein loderndes Feuer herum. Diese weidenden Rinder, die freundlichen Wiesen und Felder mit den Türmen der friedlichen Dörfer in der Ferne, und auf der Seite die fröhliche Knabenschar, welche sich in Jugendspielen erlustiget, geben ein Bild des heimatlichsten Friedens und des innigsten Glückes.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Alpenbilder aus Tirol