Jastrow, 17. Dezember 1847.
Gestatten Sie mir, hochgeehrtester Herr Doktor, den Lesern Ihres geschätzten Blattes in aller Kürze einen Vorfall mitzuteilen, der zur Charakteristik unserer Gesetze – der jüdischen Konfession gegenüber – und der daraus hervorgehenden Konsequenzen auch für weitere Kreise nicht uninteressant sein dürfte. Vor ungefähr 1/2 Jahren traf hier ein jüdischer Knabe (Namens Moses) ein, der über sich und seine Herkunft weiter Nichts mitzuteilen wusste, als dass ihn seine Mutter (Namens Esther) – nachdem sie ihn seit Jahren mit sich herumgeführt – bis vor der hiesigen Stadt gebracht und sich sodann entfernt habe. Wo er geboren, war ihm unbekannt; auch konnte er sich seines Vaters nicht mehr erinnern; später äußerte er jedoch, dass (wie er von seiner Mutter gehört) sein Vater Mordechai geheißen und sich mit dem Unterrichten jüdischer Kinder befasst habe, aber schon seit einigen Jahren verstorben sei. Der Findling wurde nun bis auf etwaige spätere Ermittlungen bei einem hiesigen Polizeidiener untergebracht (das Essen erhielt er jedoch von einigen jüdischen Familien, die ihm Freitische gaben), und als alle Erkundigungen über ihn fruchtlos blieben, wurde ihm auf Veranlassung der königl. Regierung zu Marienwerder von dem hiesigen königl. Land- und Stadtgericht in der Person des genannten Polizeidieners ein Vormund gesetzt, welcher ihm nun jede Teilnahme an dem jüdischen Gottesdienste, die Sabbat- und Festfeier, so wie das fernere Speisen bei den jüdischen Familien streng untersagte, um ihn, der erhaltenen Vorschrift gemäß, in der christlichen Religion zu erziehen. Schreiber dieses wandte sich nun im Namen einiger hiesiger Familienväter an die königl. Regierung zu Marienwerder und stellte derselben vor: 1) dass der Knabe Moses von einer jüdischen Mutter geboren, laut ärztlichem Atteste beschnitten und jüdisch erzogen sei; dass er nicht nur Hebräisch weiß, und mit den jüdischen Zeremonien bekannt sei, sondern auch schon seit ungefähr einem Jahre die sogenannten Gebetriemen (Tefillin) angelegt, weshalb sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen lässt, dass er (wofür auch das Attest eines hiesigen Arztes vom 4. Mai, das das dermalige Alter des Knaben auf ungefähr 12–14 Jahre angibt, spricht) gegenwärtig schon das 14te Lebensjahr zurückgelegt haben müsse. 2) dass auch der Vater des Findlings – wie dieser wiederholentlich versichert – dem Judentum angehört und dass Letzterer daher bei Gelegenheit der an den Festen üblichen Totenfeier auch jedesmal seines Vaters (unter dem Namen Mordechai) erwähnen ließ, wozu noch kommt, dass der Knabe eine ganz besondere Anhänglichkeit an der jüdischen Religion zu erkennen gebe und nicht nur einige Mal gegen den Willen seines Vormundes und trotz der ihm angedrohten Strafe an dem jüdischen Gottesdienste Teil genommen, sondern auch geäußert habe, dass er – obwohl jetzt gezwungen die Speisegesetze zu übertreten, den Sabbat und die Festtage nicht zu feiern – sich dennoch nie zur Annahme des Christentums verstehen werde. Ferner bemerkten wir, dass sich mehrere hiesige jüdische Familienväter verpflichten wollen, für das weitere Fortkommen des Knaben, Falls er Jude bleiben darf, zu sorgen und ihn späterhin ein Handwerk erlernen zu lassen, wodurch dem Staate – auf dessen Kosten er jetzt er halten wird – unnütze Ausgaben erspart und der Findling gleichwohl einst ein brauchbares Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden würde usw. Hierauf erließ die königl. Regierung an den hiesigen löblichen Magistrat nachstehendes Schreiben:
„Der dortige jüdische Lehrer W. hat dringend gebeten, zu gestatten, dass der dort in Pflege untergebrachte heimatlose jüdische Knabe Moses im jüdischen Glauben erzogen werden dürfe. Wir haben nun zwar in unserer Verfügung vom 23. August d. J. bestimmt, dass der Knabe bis zum 14ten Lebensjahre im christlichen Glauben erzogen werden soll, da indessen die Bestimmung hierüber nicht uns, sondern der Vormundschaftsbehörde zusteht, da die Vorschriften §.753 sq. Tit. 2. Th. II. des A. L. R. von den Befugnissen der Pflegeeltern auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sind, so weisen wir den Magistrat an, den W. mit seinem Antrage an das betreffende Vormundschaftsgericht zu weisen, und dem Letzteren von dieser Verfügung Kenntnis zu geben. Wenn übrigens nach dem Atteste des Dr. Lehrs vom 4. Mai c. das der malige Alter des Knaben als mutmaßlich 12 bis 14 Jahre angegeben ist, so dürfte mit Rücksicht auf §. 83. Tit. 2. Th. II. des A. L. R. kein gesetzlicher Grund vorhanden sein, den selben in der Wahl des Religionsbekenntnisses zu beschränken.
Marienwerder, den 8. November 1847. Königl. Regierung. Abteilung des Innern. gez. Wegener.“
Ref. wandte sich mit Bezugnahme auf diese eben so günstige als gerechte Verfügung ungesäumt an das betreffende Gericht, welches folgenden Bescheid erteilte:
„Wir müssen – wie wir Ihnen auf Ihre Eingabe vom 1. d. Monats eröffnen zunächst dafür Sorge tragen, dass der Findling Moses Unterricht im christlichen Glauben erhält, weil nicht überzeugend nachgewiesen werden kann, dass der Moses von jüdischen Eltern abstammt. Da auch das Alter des Findlings nicht feststeht, so ist kein Grund vorhanden, diesen Unterricht jetzt schon auszusetzen. Durch Erteilung des christlichen Unterrichts an den Moses wird übrigens – was sich von selbst versteht – seinen künftigen Entschließungen über Annahme eines bestimmten Glaubens, so weit die Gesetze selbst kein Hindernis in den Weg legen, nicht zu nahegetreten.
Jastrow, den 3. Dezember 1847.
Königl. Land- und Stadtgericht.“
An den Lehrer Herrn Wedel hier.
Während die königl. Regierung also auf das Zeugnis des Arztes gehörig Rücksicht nimmt, was doch hier allein schon kompetent wäre, wenn nicht andere Indizien für das erforderliche Alter des Knaben zur eignen Wahl sprechen würden (denn diese Indizien sind unseres Erachtens gerade in dieser zweifelhaften Sache sehr gewichtig, weil erwiesen werden kann, dass nur ein 13jähriger Knabe legt usw.), umgeht das Stadtgericht die Ansicht der Regierung und schiebt einen Grund vor, der kein Gewicht hat. Weil – so präjudiziert das Gericht – das Alter nicht fest zu ermitteln ist, so muss das bisher jüdische Kind christlich erzogen werden! – Ein sonderbarer Grund, um so mehr, als nach dem richtigen Bescheid der königl. Regierung hier die Befugnisse der Pflegeeltern nicht in Anwendung kommen können. Es ist freilich nicht ganz überzeugend nachgewiesen, ob des Knaben Vater Jude gewesen, aber wie alle Umstände dafür sprechen, doch sehr wahrscheinlich. Sollte eine moralische Überzeugung hierbei gar Nichts in die Waagschale legen? – Sollte das Gericht wirklich ein Recht haben, den Knaben, der bisher Jude gewesen, zum Christen zu machen? – Sollte das hohe Staatsgesetz, das doch allen Konfessionen vollkommene Gewissensfreiheit zusichert, wirklich vorschreiben, dass ein Knabe, der als Jude geboren und erzogen, dessen Vater, wie gesagt, höchst wahrscheinlich dem Judentum angehört und der durchaus Jude bleiben will, zur Taufe und zum Christentum gezwungen werden könne? Hat der Staat irgend einen Nutzen davon, einen sich bisher zum Judentume bekennenden Knaben auf seine Kosten in der christlichen Religion erziehen zu lassen, der, wie sich voraussetzen lässt, doch nie ein wahrhafter Anhänger des Christentums – also keiner Konfession angehörend und dadurch in einem Gewissen beunruhigt – eher ein unglücklicher oder vielleicht gar ein schlechter Mensch werden würde? – Das Judentum ist von aller Proselytenmacherei fern: das müssen ihm eine Feinde nachsagen! Das Judentum spricht Keinem die Seligkeit ab, der menschlich denkt und fühlt und ein gottgefälliges Leben führt! Der Talmud sagt (Sanhedrin 59): Die Frommen aller Nationen können selig werden. Und dennoch ist es Pflicht, heilige Pflicht, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen und den Knaben (wie er den Schreiber dieses erst neulich unter Tränen bat) dem Judentum zu erhalten. Hier die Hand in den Schoß legen wollen, wäre Verrat – nicht am Judentum, das ist wahrlich nicht von der Anzahl seiner Bekenner abhängig – aber Verrat an der Wahrheit, an der Menschlichkeit, Verrat an der Heiligkeit einer Menschenseele. Hier gilt, wie uns jüngst ein achtungswerter jüdischer Gelehrter bemerkt: . . . . Wir werden also die Angelegenheit höheren Orts zur Sprache bringen und Ihnen, bester Herr Doktor, die etwaigen Resultate zu einer Zeit mitteilen.
„Der dortige jüdische Lehrer W. hat dringend gebeten, zu gestatten, dass der dort in Pflege untergebrachte heimatlose jüdische Knabe Moses im jüdischen Glauben erzogen werden dürfe. Wir haben nun zwar in unserer Verfügung vom 23. August d. J. bestimmt, dass der Knabe bis zum 14ten Lebensjahre im christlichen Glauben erzogen werden soll, da indessen die Bestimmung hierüber nicht uns, sondern der Vormundschaftsbehörde zusteht, da die Vorschriften §.753 sq. Tit. 2. Th. II. des A. L. R. von den Befugnissen der Pflegeeltern auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sind, so weisen wir den Magistrat an, den W. mit seinem Antrage an das betreffende Vormundschaftsgericht zu weisen, und dem Letzteren von dieser Verfügung Kenntnis zu geben. Wenn übrigens nach dem Atteste des Dr. Lehrs vom 4. Mai c. das der malige Alter des Knaben als mutmaßlich 12 bis 14 Jahre angegeben ist, so dürfte mit Rücksicht auf §. 83. Tit. 2. Th. II. des A. L. R. kein gesetzlicher Grund vorhanden sein, den selben in der Wahl des Religionsbekenntnisses zu beschränken.
Marienwerder, den 8. November 1847. Königl. Regierung. Abteilung des Innern. gez. Wegener.“
Ref. wandte sich mit Bezugnahme auf diese eben so günstige als gerechte Verfügung ungesäumt an das betreffende Gericht, welches folgenden Bescheid erteilte:
„Wir müssen – wie wir Ihnen auf Ihre Eingabe vom 1. d. Monats eröffnen zunächst dafür Sorge tragen, dass der Findling Moses Unterricht im christlichen Glauben erhält, weil nicht überzeugend nachgewiesen werden kann, dass der Moses von jüdischen Eltern abstammt. Da auch das Alter des Findlings nicht feststeht, so ist kein Grund vorhanden, diesen Unterricht jetzt schon auszusetzen. Durch Erteilung des christlichen Unterrichts an den Moses wird übrigens – was sich von selbst versteht – seinen künftigen Entschließungen über Annahme eines bestimmten Glaubens, so weit die Gesetze selbst kein Hindernis in den Weg legen, nicht zu nahegetreten.
Jastrow, den 3. Dezember 1847.
Königl. Land- und Stadtgericht.“
An den Lehrer Herrn Wedel hier.
Während die königl. Regierung also auf das Zeugnis des Arztes gehörig Rücksicht nimmt, was doch hier allein schon kompetent wäre, wenn nicht andere Indizien für das erforderliche Alter des Knaben zur eignen Wahl sprechen würden (denn diese Indizien sind unseres Erachtens gerade in dieser zweifelhaften Sache sehr gewichtig, weil erwiesen werden kann, dass nur ein 13jähriger Knabe legt usw.), umgeht das Stadtgericht die Ansicht der Regierung und schiebt einen Grund vor, der kein Gewicht hat. Weil – so präjudiziert das Gericht – das Alter nicht fest zu ermitteln ist, so muss das bisher jüdische Kind christlich erzogen werden! – Ein sonderbarer Grund, um so mehr, als nach dem richtigen Bescheid der königl. Regierung hier die Befugnisse der Pflegeeltern nicht in Anwendung kommen können. Es ist freilich nicht ganz überzeugend nachgewiesen, ob des Knaben Vater Jude gewesen, aber wie alle Umstände dafür sprechen, doch sehr wahrscheinlich. Sollte eine moralische Überzeugung hierbei gar Nichts in die Waagschale legen? – Sollte das Gericht wirklich ein Recht haben, den Knaben, der bisher Jude gewesen, zum Christen zu machen? – Sollte das hohe Staatsgesetz, das doch allen Konfessionen vollkommene Gewissensfreiheit zusichert, wirklich vorschreiben, dass ein Knabe, der als Jude geboren und erzogen, dessen Vater, wie gesagt, höchst wahrscheinlich dem Judentum angehört und der durchaus Jude bleiben will, zur Taufe und zum Christentum gezwungen werden könne? Hat der Staat irgend einen Nutzen davon, einen sich bisher zum Judentume bekennenden Knaben auf seine Kosten in der christlichen Religion erziehen zu lassen, der, wie sich voraussetzen lässt, doch nie ein wahrhafter Anhänger des Christentums – also keiner Konfession angehörend und dadurch in einem Gewissen beunruhigt – eher ein unglücklicher oder vielleicht gar ein schlechter Mensch werden würde? – Das Judentum ist von aller Proselytenmacherei fern: das müssen ihm eine Feinde nachsagen! Das Judentum spricht Keinem die Seligkeit ab, der menschlich denkt und fühlt und ein gottgefälliges Leben führt! Der Talmud sagt (Sanhedrin 59): Die Frommen aller Nationen können selig werden. Und dennoch ist es Pflicht, heilige Pflicht, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen und den Knaben (wie er den Schreiber dieses erst neulich unter Tränen bat) dem Judentum zu erhalten. Hier die Hand in den Schoß legen wollen, wäre Verrat – nicht am Judentum, das ist wahrlich nicht von der Anzahl seiner Bekenner abhängig – aber Verrat an der Wahrheit, an der Menschlichkeit, Verrat an der Heiligkeit einer Menschenseele. Hier gilt, wie uns jüngst ein achtungswerter jüdischer Gelehrter bemerkt: . . . . Wir werden also die Angelegenheit höheren Orts zur Sprache bringen und Ihnen, bester Herr Doktor, die etwaigen Resultate zu einer Zeit mitteilen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Allgemeine Zeitung des Judentums, 12. Jahrgang, 03. Januar 1848 - Zeitungsnachrichten