Aus Mecklenburg-Schwerin, 22. Dezember 1847

Zu meinem Berichte vom 15. d. M. in Bezug auf die Gleichstellung der mecklenburgischen Juden in staatsbürgerlicher Beziehung ist noch hinzuzufügen, dass die Landtagsversammlung zu Sternberg, mit 57 gegen 49 Stimmen, ihnen auch den Erwerb ländlicher Grundstücke, insofern mit dem selben die Ausübung von Patronats- und Jurisdiktionsrechten verbunden ist, gewährt hat.

Zugleich glauben wir den Lesern Ihres geschätzten Blattes einen Dienst zu erweisen, wenn wir die Antwort des Herrn Dr. Einhorn, Landesrabbiner in Mecklenburg-Schwerin, an den Herrn Religionslehrer Salinger in Teterow, Behufs der Namenserteilung des unbeschnittenen Kindes, vollständig mitteilen. (S. Rostocker Zeitung 195)


„An den Herrn Religionslehrer Salinger zu Teterow. Auf Ihre Anfrage vom 14. v. M., ob dem unbeschnittenen Kinde des Herrn H. daselbst israelitischer Seits ein Name zu erteilen sei, diene. Ihnen Folgendes zur Erwiderung und Darnachachtung. Es ist ein, selbst auf dem Standpunkte des talmudischen Judentums allgemein anerkannter und durchaus unbestrittener Grundsatz, dass für den Juden die Beschneidung zwar eine der heiligsten und wichtigsten religiösen Verpflichtungen sei, jedoch keineswegs die Aufnahme in die jüdische Glaubensgenossenschaft bedinge, sondern vielmehr jeder von jüdischen Eltern Gezeugte als Jude, d. h. als ein Solcher betrachtet werden müsse, dem die religiösen Pflichten, Rechte und Fähigkeiten des Israeliten zukommen; dass der Jude zwar eine heiligsten Obliegenheiten in der einen oder andern Weise freventlich verletzen, nimmer aber hierdurch der israelitischen Glaubensgenossenschaft sich entziehen, nimmer vom Bunde Israels sich lossagen kann, gleichviel ob diese Verletzung zeremonielle oder rein religiöse Ge- und Verbote des Judentums betrifft. Ein Jude, der zu einer andern Konfession übergeht, oder gar Götzen dient, oder das Dasein Gottes leugnet, hat sicherlich das charakteristische Merkmal des Juden in weit höherem Maße als der Unbeschnittene abgestreift – und dennoch vermag selbst diese Treulosigkeit gegen das Judentum ihn nimmer loszureißen von der Kette unserer Glaubensgenossenschaft, die ihre Glieder schon mit dem ersten Atemzuge umschlingt und nur mit ihrem letzten Atemzuge freigibt. Bei der Unterlassung der Beschneidung findet ein solches Sichlosreißen noch viel weniger statt, als nach den klaren Aussprüchen der Rabbinen (vide Schulchan Aruch Jore dea 2, 7. „Mumer leorlot dino Remumer laabera achat“) dieselbe keineswegs, wie die bei Götzendienst und (nach den Begriffen des rabbinischen Judentums) öffentlicher Sabbatschändung der Fall, die Leugnung des israelitischen Glaubensbekenntnisses involviert, und sonach von Seiten des die Beschneidung unterlassenden Individuums die Kundgebung selbst des Willens sich loszureißen fehlt. Wer daher die Beschneidung nicht vollziehet, der hat – wie schon das ehemalige Bethdin in einer Note zu Bährs Religionsbuch bemerkt – ganz dieselbe Sünde begangen, wie derjenige, der irgend eine andere Gesetzesübertretung, worauf Karatstrafe steht, wie z. B. den Genuss gesäuerten Brotes am Pessachfest sich zu Schulden kommen lässt; er hat sich ferner, nach den Begriffen des rabbinischen Judentums, nicht in dem Maße versündiget, wie derjenige, welcher den Sabbat öffentlich schändet, weil dieser, nicht aber jener, seine Absicht zu erkennen gibt, der jüdischen Glaubensgemeinschaft nicht mehr angehören zu wollen. Wo hätte man aber je einen Juden, der gesäuertes Brod am Pessach isst oder selbst den Sabbat öffentlich verletzt, als einen aus der israelitischen Religionskörperschaft wirklich Ausgeschiedenen betrachtet, wo je eine mit demselben geschlossene Ehe für ungültig oder verboten erklärt, ihn aus der Minjanzahl ausgeschlossen, ihm das Aufrufen zur Tora verweigert oder ein jüdisches Begräbnis versagt usw.? Ist demnach das Judentum weit entfernt, selbst diejenigen freizugeben, die sich seiner Herrschaft entziehen wollen *) und diesen Willen auf die bestimmteste Weise in Wort oder Tat auszusprechen; so will es gewiss noch weit weniger diejenigen aus der israelitischen Gemeinschaft hinausdrängen, die das eine oder das andere seiner Gesetze aus Leidenschaft (leteebon) oder aus Leichtsinn oder gar bloß in Folge ihrer religiösen Überzeugung von der Nichtverbindlichkeit eines solchen Gesetzes auf der gegenwärtigen religiösen Entwickelungsstufe übertreten, ohne dabei die Absicht der Lossagung von dieser Gemeinschaft irgendwie kundzugeben. Völlig abgesehen nun davon, dass im vorliegen. Falle der Vater des unbeschnittenen Kindes nicht nur keine Absicht, ein Kind von der israelitischen Glaubensgemeinschaft zu trennen, zu erkennen gibt, sondern vielmehr auf das Bestimmteste den Wunsch ausspricht, seinem Kinde einen Namen in Israel zu erteilen und dasselbe sonach im israelitischen Glauben zu erziehen; so handelt sich's ja hier nicht darum, ob der Vater des unbeschnittenen Kindes, sondern ob das unbeschnittene Kind als Mitglied der Gemeinde Israels gelten solle. Niemand wird behaupten wollen, dass der Vater als Übertreter des Gesetzes um dieser Übertretung willen aufhöre, Jude zu sein. Und das unschuldige, unzurechnungsfähige Kind, das bloße Objekt der übertretenen Verpflichtung, sollte – wenn dies auch möglich wäre, wie es in der Tat unmöglich ist – aus unserer Gemeinschaft gewaltsam verstoßen und so ohne Wissen und Willen und Verschulden des heiligsten Rechtes und der höchsten Wohltat beraubt werden? Welche Ungerechtigkeit, welche Absurdität! Wenn unsere Alten schon in Bezug auf zeitliche Interessen den humanen Rechtsgrundsatz: „Ehn chobin leadam schelo bepanaw“ als Norm auf stellen – um wie viel schwerer werden wir uns nicht erst an diesem schuldlosen Säuglinge versündigen, wenn wir ihn schonungslos von uns werfen und ein von ihm weder verschuldetes noch begriffenes Verdammungsurteil über ihn aussprechen, das den Verlust des höchsten Gutes und Glückes eines jeden wahrhaften Israeliten, nämlich Israelit zu sein, nachziehen soll. – Sie sind sonach verpflichtet, dem unbeschnittenen Sohne des Herrn Hirsch daselbst, nach Anweisung der Synagogenordnung S. 68, einen Namen in der Synagoge zu erteilen. Möge Gott dieses Kind segnen und es schmücken mit den Tugenden eines Israeliten beschnittenen Herzens, und möchten alle diejenigen, welche durch solche Vorgänge den Fortbestand unserer göttlichen Religion, die unsere Vorvorderen tausendmal als einen Bund zwischen Gott und Israel und der gesamten Menschheit mit ihrem edlen Blute besiegelten, bedrohet sehen, und deshalb in innerster Seele sich betrüben, den Gedanken sich zur Beruhigung dienen lassen, dass das Göttliche seiner Natur nach unvergänglich ist und dass das Judentum auf den unerschütterlichen Säulen des Rechts, der Wahrheit und des Friedens beruhet; Säulen, die nimmer wanken, wenn auch die Erde wie ein Kleid ältere und die Himmel wie Rauch zerflössen. – Indem ich Sie schließlich noch auffordere, den ganzen Inhalt dieses Schreibens in der dortigen Synagoge unmittelbar vor der betreffenden Namenserteilung vorzutragen und ferner in jedem einzelnen ähnlichen Falle über das einzuschlagende Verfahren hierorts anzufragen, zeichnet sich ec. Dr. Einhorn, Landrabbiner. Schwerin, 25. November 1847“