Die Schweiz. Aus dem Aargau, 20. Dezember 1846.

Die Schweiz, das Land der großartigen Naturmerkwürdigkeiten, mit seinen majestätischen Alpen, seinen herrlichen Gauen und Tälern, das Land, wo so vielen europäischen Ländern der Segnungen ohne Zahl entquellen, dieses Land hat frühe schon Israeliten gelockt, dass sie daselbst ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben. Zu Vespasians Zeiten schon sollen Juden nach Helvetien gewandert sein, was aber nicht mit Gewissheit behauptet werden kann. Die Urkunden, welche die Existenz der Juden in der Schweiz beweisen, gehen bis ins dreizehnte Jahrhundert. Es wohnten nämlich Juden zu Zürich, Bern, Basel, Luzern, Schaffhausen, Appenzell, St. Gallen, Winterthur, Biel, Yverdon und Genf, zu Bremgarten, Mellingen, Baden, in Graubündten und im Thurgau — bis die Katastrophe des Jahres 1349 über sie hereinbrach und aus dem Lande vertrieb was nicht dem Martertode preis gegeben wurde. Dem Schweizerstädtlein Zosingen im Aargau gebührt die schreckliche Ehre, den Schwindel der Brunnenvergiftung aufs Tapet gebracht zu haben. —

Heut zu Tage ist die Zahl der Juden in der Schweiz sehr gering und sie leben daselbst zerstreut in den verschiedensten Gegenden. Es wohnen Juden in Basel, Bern, Zürich, St. Gallen, Genf, Lausanne, Bivis, Yverdon, Avenches, Locies, Lacheaudefonds, Neufchatel, St. Imier, Porrentruy; die Meisten aber wohnen zu Endingen und Lengnau im Aaxgau. Und weil die Schweiz in, Beziehung der Lage ihrer verschiedenen Gegenden, des Charakters und der Sitten ihrer verschiedenen Bewohner, ein so vielfarbiges Gebilde der verschiedensten Variationen von Verfassungen und Gesetzen, darum bietet, auch die bürgerliche Stellung der Juden in diesem Lande so verschiedenartige Verhältnisse dar. Während in Genf und in den französisch redenden Kantonen der Jude wie jeder andre fremde Bürger — die hier wohnenden Juden sind französische Bürger —angesehen und behandelt wird und man weit davon entfernt ist, ihn seines religiösen Bekenntnisses willen zurückzusetzen, darf er in Graubündten und Luzern nicht einmal die Märkte besuchen mit seiner Ware. In den Urkantonen, Uri, Schwyz, Unterwalden, so wie in Zug ist ihm Letzteres zwar gestattet; er dürfte es sich aber nicht einfallen lassen, sich dort zu etablieren. Die regenerierten Kantone Zürich, Bern, Aargau, Glarus und Tessin führen allmählich eine tolerantere und liberalere Behandlung der Juden ein und in den drei Ersteren wurde seit neuerer Zeit die freie Niederlassung der Juden zum Gesetz.


In Beziehung der inneren Entwicklung der israelitischen Verhältnisse lässt sich bloß von Endingen und Lengnau Erhebliches berichten. Diese beiden Gemeinden im Aargau zählen zusammen ungefähr 2.000 jüdische Seelen. Sie sind die einzigen in der Schweiz, deren Verhältnisse einigermaßen durch staatliche Gesetze geordnet sind und wo die Regierung sich bei der Wahl der Gemeindebeamteten und Rabbinen beteiligt, die überhaupt in allen Beziehungen mit ihrem Gemeinwesen unter Kontrolle des Staates stehen, deren Schulen den christlichen gleichgestellt und die sehr bedeutende Staatsbeiträge zur Besoldung der Lehrer beziehen. Diese beiden Gemeinden erfreuen sich mancher zweckmäßigen und wohltätigen Institute. Endingen hat einen Verein zur Unterstützung von Handwerkern, einen solchen zur Besorgung der Krankenpflege, einen Schiedsgerichtsverein, eine sehr bedeutende Ersparniskasse, einen nicht unbedeutenden Schulfonds und einen Armenfonds. Diese Gemeinde könnte bei ihren vielen Instituten und den vielen intelligenten Kräften, die sie besitzt, viel Gutes und Großes leisten, wenn diese Kräfte zu einem harmonischen Ganzen vereinigt würden durch einen imponierenden, vom echten Geiste beseelten und unermüdlicher Willenstätigkeit ausgerüsteten Mann. Die Förderung des Guten ist daselbst um so leichter, als die Gemeinde sehr lenksam ist. Verdienen auch Vorsteher und Leiter der Gemeinde durch ihren guten Willen und durch die Opfer, die sie dem Gemeinwesen darbringen, den Dank der Gemeinde in hohem Maße, so muss anderseits bedauert werden, dass unter denselben nicht Einer sich befindet, dem es seine Stellung erlaubte, dem Gemeindewohl sich also hinzugeben und demselben also vorzustehen, wie die Schwierigkeit und Wichtigkeit der Sache es erheischt. Daher rührt es, dass in dem wirklich zweckmäßig organisierten Gemeindehaushalte, der doch von fähigen und mit Talent begabten Personalitäten geleitet wird, jene Regsamkeit und jene Ordnung fehlt, die in jeden Haushalt Leben, Fortschritt und Gedeihen bringen. —

Lengnau hat nicht so viel gemeinnützige Vereine wie Endingen. Dafür aber herrscht im Gemeindewesen mehr Ordnung, mehr Harmonie und Aufschwung. Hier ward mit bedeutenden Opfern vor drei Jahren ein prachtvolles Schulhaus gebaut und jetzt wird bald eine herrliche Synagoge eingeweiht werden, deren Baukosten mindestens 25.000 Fl. betragen. Die Einmütigkeit und der Enthusiasmus, mit welcher diese Werke beraten, beschlossen und vollführt wurden, verdienen öffentliche Anerkennung.

Die Verhältnisse der Synagoge sind in beiden Gemeinden nichts weniger als geordnet. Zwar haben beide Gemeinden eine jede für sich ein Synagogenreglement entworfen, Keins von Beiden aber ahnt nur im Geringsten die Forderungen, die an einen Gottesdienst gestellt werden können und müssen, so derselbe Erhebung und Erbauung verschaffen soll. Auch wird Keins von Beiden streng vollzogen. — Das Institut der Predigt hat hier noch keinen mächtigen Aufschwung erhalten, und die hohe Regierung tragt eine gewisse Scheu vor jedem ernstlichen Einschreiten in religiöser Beziehung, weil sie fürchtet, es möchte ein solches Einschreiten als ein Über- oder Eingriff in die Religion angesehen werden.

Beide Gemeinden bringen große Opfer für ihr Armenwesen; allein so lange nicht Anstalten getroffen werden, die die Quelle der Armut verstopfen, nämlich dadurch, dass die Arbeitslosigkeit von der Wurzel ausgerottet wird, so lange sind diese Opfer Nichts als ein Schöpfen in das Fass der Danaiden. Zu wünschen wäre es, dass Herr Vorsteher L. H. Guggenheim, der schon zu wiederholten Malen bei Gemeindeversammlungen zu Endingen Vorschläge gegeben, deren Realisierung dem Übel der Armut radikal abhelfen würde, wir sagen es wäre zu wünschen, dass Herr Vorsteher solchen Anträgen mehr Nachdruck geben und seine ganze Energie aufbieten möchte, und solche Anstalten ins Leben rufen, die der Armut auf eine gründliche Weise steuern würden.

Eine hoffnungsvolle Jugend dürfte unseren beiden Gemeinden eine schöne Zukunft versprechen, wenn nicht teils die leidigen ökonomisch schlimmen Verhältnisse mancher Familie, teils der Mangel an gehöriger Einsicht der Eltern, die Kinder gar oft mit hinein in den Strudel des Alltags-, wir wollen nicht sagen des Schacherlebens ziehen würde. Zur Freude des Freundes der Aufklärung geht dennoch mancher schöne Keim auf und wächst heran zum herrlichen Bäumchen, das schöne Blüten und Früchte hoffen läßt.

Außer diesen beiden Gemeinden existieren noch solche zu Bern, Basel, Avenches, Locles, Genf und Porrentruy, die von Israeliten aus dem Elsaß gebildet werden. Bietet auch die Organisation solcher Miniatur. . . meistens ein form- und geistloses Unding dar, so kann auf der andern Seite nicht geleugnet werden, dass auch hier die unverwüstliche Kraft des israelitischen Stammes sich äußert, dass er überall, wo er nur einzelne Würzelchen aussendet, dieselben gar schnell zu einem neuen Stammlein vereinigt, welches rastlos treibt, um Knospen und Blüten zu Tage zu fördern. — Die israelitische Gemeinde zu Genf — aus 20 Familien bestehend — ist zusammengesetzt aus den nun übergesiedelten Nachkommen der früheren berüchtigten Gemeinde zu Carouge. Dieses Städtlein ist beinahe an den Toren Genfs und gehört jetzt zu dessen Gebiete. Dasselbe aber sollte früher die Nebenbuhlerin Genfs werden und wurde zu diesem Zwecke im vorigen Jahrhunderte bedeutend verschönert und erweitert. Um dieses Städtlein volkreich zu machen erteilte der damalige Herzog von Savoyen allen Heimatlosen u. dgl. das Asylrecht. Es ließen sich auch Juden herbei, von denen die Meisten zur niedersten Klasse, Einige sogar zur Klicke der Beutelschneider gehörten. — Die gegenwärtigen Israeliten zu Genf haben sich aber dermaßen emporgeschwungen, dass sie in moralischer Beziehung hoch über den früheren carouger Ahnen erhaben stehen. Es sind dieselben ehrenfeste, fleißige und redliche Leute, die meistens bedeutende solide Handelshäuser bilden, von denen aber Andere wieder, besonders die jüngeren Leute, sich mit der Uhrmacherei, Bijouterie, Gravure und Pelleterie sich befassen. Nicht bald wird ein emsigeres, fleißigeres Völklein gesehen als die Israeliten zu Genf. Diese Leute, die höchstens einige Religionsbegriffe aus Voltaire, Rousseau und Lord Byron zusammengetragen, ließen es sich in neuerer Zeit angelegen sein, eine ordentliche Synagoge zu etablieren und ihren Kindern einen Religionslehrer zu geben. — Daselbst lebt ein ausgezeichneter Israelit, Herr N. Bluc, der als Mann von eminenten Kenntnissen, biederem und achtungsvollem Charakter, die Liebe, die Ehrfurcht nicht nur des Niederen bürgerlichen Standes, sondern auch der Aristokratie dieser Stadt genießt.—

Avenches, eine Gemeinde von ungefähr 27 Familien, das alte römische Aventicum mit seinen Ruinen zu deutsch Wiflisburg, bietet nicht viel Berichtenswertes dar; wohl aber verdient die patriarchalische Gastfreundschaft dieser Juden von elsäßischem Schrot und Korn der Erwähnung. — Die israelitische Gemeinde zu Bern ist ohngefähr aus den gleichen Elementen zusammengesetzt, 30 Familien zählend, und nicht bald wird eine städtische israelitische Gemeinde getroffen, die von der Zivilität und den feineren Sitten der städtischen Bewohner so wenig sich angeeignet wie die Israeliten zu Bern.

Leider ahnen die dasigen Juden die Nähe des Sternes nicht, der über den Zinnen ihrer Stadt leuchtet und auch nicht ein Schimmer seines glanzvollen Lichtes dringt in ihre Wohnung. Wir meinen den Herrn Prof. Dr. Valentin, der ungeachtet seiner christlichen Umgebung und seiner Stellung an einer christlichen Universität, dennoch dem Judentume nicht ferne steht und mit warmem Herzen an den Interessen des Judentums Teil nimmt. Der gebildetere Israelit in der Schweiz freut sich einen solchen Mann an einer schweizerischen Universität zu sehen, dessen hoher Charakter ihm die Achtung der bernischen Notabilitäten verschafft und ihn über allen dort herrschenden politischen Parteien erhaben hält. — In der Nähe von Bern lebt ein jüdischer Arzt — Dr. Weil aus Eichstätten — zu Walkringen im Emmenthal. Derselbe bekleidet die Stelle eines Militärarztes. Das Zutrauen, dessen Herr Weil sich bei seiner christlichen Umgebung zu erfreuen hat, verschafft ihm eine wohl ausgedehnte Praxis. Auch wurde derselbe in seiner Stellung als Arzt schon oft mit Aufträgen höheren Ortes beehrt. — Der in St. Imies lebende Dr. Baßwitz ist auch Militärarzt und wurde in den dortigen Munizipalrat gewählt. — Die Juden in Basel sind wegen ihres loyalen Benehmens von den dortigen Bürgern wohlgelitten und zeichnen sich aus durch echt israelitische Mildtätigkeit. Sie stehen unter dem eben so gelehrten als für die Verbesserung und Reform in Israel eifrig bemühten und verdienstvollen Rabbiner Nordmann zu Hegenheim im Elsasse. Die in St. Gallen wohnenden Juden — aus Hohenems im Vorarlberg — bringen dieser Stadt enorme Summen durch ihre Einkäufe.