Allgemeine Ansichten des politischen Gleichgewichts von Europa. I. Europas Verhältnis zu den andern Weltteilen, und einige sich daraus für die europäische Politik ergebende Folgen

Aus: Ideen über das politische Gleichgewicht von Europa mit besonderer Rücksicht auf die jetzigen Zeitverhältnisse.
Autor: Butte, Wilhelm (1772-1833) Lehrer, Prinzenerzieher, Pfarrer und Professor für Statistik und Staatswissenschaften, königlich preußischer Regierungsrat, Erscheinungsjahr: 1814
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Europa, Politik, politisches Gleichgewicht der Kräfte, 1814, Befreiungskriege, Grenzen Europas, Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal, Sizilien, Holland, Dänemark, Schweden, Skandinavien, Österreich, Italien, Schweiz, Preußen, Russland, Polen, Geographische Genzen, Völker, Charakter, Kultur, Sitten und Gebräuche
Auf rein geographischem Standpunkte kann die Länderstrecke, die wir Europa nennen, nicht füglich für einen eigenen, sondern nur für einen Teil des vorzugsweise großen Weltteils gehalten werden, den es mit Asien verbunden gedacht ausmacht, und an welchem es als westliche Halbinsel, in der Ausdehnung von etwa 160—170tausend Quadratmeilen, hervortritt, während Asien allein deren 600 — 700tausend haben mag.

Eine so ziemlich gerade laufende Linie, gezogen von den Mündungen des Don am Asowischen Meere, bis zum Eingang in das weiße Meer, scheint mir die beste Grenze zu sein für die immer etwas schwankende Scheidung Europas und Asiens. Donische und Kasanische Kosaken sind die vorzüglichsten Völkerstämme für den Übergang des asiatischen Charakters in den europäischen. Die Stadt Moskwa, die bald wieder herrlicher blühen wird, als je zuvor, ist der Ort, wo sich europäische und asiatische Lebensweise, Industrie und Luxus am leichtesten und innigsten einigen. Würde dieser Ort in seinen Ruinen liegen geblieben sein, so wäre damit eine der vorzüglichsten Originalpartien im Gemälde von Europa untergegangen. Die Ahnung, dass die französische Revolution Europa durchrasen würde, ging nur zu sehr in Erfüllung, seitdem sich die Lava ihres Feuerstroms auf einer Seite bis Lissabon, auf der andern bis Moskau ergoss.

Wenn die Grenze zwischen Asien und Europa schwankend ist und sein sollte, so fordert auch die innere Einteilung Europas in das nördliche und südliche, in das westliche und östliche eine besondere Verständigung. Die Einteilung in das nördliche und südliche Europa fällt notwendig ganz falsch aus, wenn der Norden an der östlichen Grenze nicht um mehrere Grade dem Äquator näher rückt, als an der westlichen. Was die Notwendigkeit dieses Näherrückens begründet, ist der Zuwachs der Kälte nach Osten, den die Geographen als faktisch erkennen, ob sie gleich über dessen Ursachen noch lange nicht im Reinen sind. Zieht man die Grenzlinie mit der nötigen Rücksicht auf diesen faktischen Zuwachs, so fällt sie so aus, dass man im Allgemeinen sagen darf: „alles Land, welches den Städten Paris, München und Buda, den Mündungen der Donau und der Krimmischen Halbinsel nördlich liegt, bildet das nördliche, was diesen Punkten südlich liegt, bildet (umflutet von dem atlantischen, dem mittelländischen und schwarzen Meere) das südliche Europa. So viel ist gewiss, dass diesseits und jenseits dieser so gezogenen Linie eine nicht unbedeutende klimatische und ethnologische Verschiedenheit wahrgenommen wird. Von Nordeuropa soll man streng das polarische unterscheiden; die Vermischung, vor der ich warne, hat den Nachteil, dass sie den Begriff der Kraft und Stärke entstellt, welchem die nordischen, aber freilich die polarischen Völkerschaften keineswegs entsprechen.

Eine Linie, die man von dem Isthmus, auf welchem die Ruinen des alten Korinths liegen, fast mitten durch die europäische Türkei über Warschau, sodann an der Westküste von Finnland her so zöge, dass sie sich in Lappland bedeutungslos verlöre, würde die beste sein, um sich nach ihr über die Ausdrücke, westliches und östliches Europa, zu verständigen. Bei minder treuem Gedächtnis darf man nur die erste beste Karte von Europa zur Hand nehmen, um das Detail der hiermit gezogenen Grenzen aufzufinden.

Mag man auf das Reich des vegetabilischen, oder auf das des animalischen Lebens sehen, so kommen diesem kleinen Europa sehr viele Länderstrecken anderer Wellteile nicht bloß gleich, sondern einige übertreffen dasselbe sogar bei weitem; besonders ist die Fruchtbarkeit des nördlichen und des östlichen Europas im Durchschnitt auffallend gering. Eine Menge nutzbarer Pflanzen- und Tiergeschlechter der übrigen Erde verschwindet hier bald gänzlich, ohne dass die wenigen diesen Länderstrichen eigentümlichen hinlänglichen Ersatz gewährten; bald erkennt man an vielen derselben, die hier künstlich unterhalten werden, dass sie, ihrem Mutterlande gewaltsam entrissen, so zu sagen an dem Heimweh kranken. Alle Naturanlagen des Europäers finden sich auch bei Nichteuropäern: namentlich werden wir an physischer Kraft und Schärfe der äußern Sinne bald in diesem, bald in jenem Stück von Menschen übertroffen, die noch in dem rohen Naturzustande, oder doch in dessen größerer Nähe leben.

Es fehlt nicht an Schriftstellern, welche diese Mängel Europas und seiner Bewohner mit grellen Farben gezeichnet, und zu beweisen gesucht haben, dass die derzeitige Herrschaft des kleinen, unfruchtbaren Europas über die andern Weltteile etwas Zufälliges, eben darum notwendig Vorübergehendes sei. Diese unterstützen sofort ihre Behauptung durch das Berufen auf die Geschichte, besonders auf die des ehemaligen Asiens, und mischen nicht selten historisch Unerwiesenes über eine außerordentliche Höhe des Kulturzustandes alt-afrikanischer, wohl gar alt-amerikanischer Völker, ein. Neuerlich besonders, als Europa so anhaltend und oft so unbesonnen seine besten Kräfte in dem Veitstanze der politischen Sphären vergeudete, welcher krampfhaft alle Staaten, die unschuldigen wie die schuldigen, mit sich fortriss, träumte man viele goldene Träume über das, was Amerika und Australien im Kreislaufe der Jahrhunderte zu werden, und wie diese Weltteile den unsrigen einst weit hinter sich zurückzulassen, nicht verfehlen würden. Ich erkenne den Anteil, den diese Schriftsteller sich an der Förderung der Wahrheit erwarben, indem sie manches nützliche Wort redeten teils gegen den Übermut des Europäers, teils zur Belebung der dem Menschenfreunde so süßen Hoffnung, dass für die Bewohner der übrigen Weltteile ebenfalls bessere Zeiten, als die jetzigen, entstehen oder wiederkehren müssen. Dessen ungeachtet bin ich weit entfernt, die Meinung dieser Schriftsteller in der Hauptsache zu teilen, und es scheint mir, das kleine, unfruchtbare Europa sei von der Natur bestimmt, auf dem Standpunkte der Humanität immerdar den jetzt einmal errungenen ersten Rang zu behaupten, so zwar, dass das wahre Interesse der europäischen Menschheit fortdauernd dem Interesse der ganzen Welt näher verwandt sei.

Die Produktionskraft des europäischen Bodens, und der Stand der helfenden Tiere, die der Europäer in größerer Menge als gezähmte Hauschiere nutzt, sind so beschaffen, dass sie im Durchschnitt den besonnenen Fleiß des Arbeiters lohnen, während der Müßiggänger und der Unbesonnene hier in Elend und Armut sinken muss. Der Fleiß hat also hier Ermunterungen, wie er sie in ungeheueren Strecken von Asien und Afrika nicht hat, und der Trägheit, in deren Gefolge Dummheit und Laster gehen, besteht ein mächtiges Gegengewicht. Man versetze sich nur einmal in das ehemalige und selbst noch in das heutige Holland und nach Britannien, also in diejenigen Länder des nordwestlichen Europa, welche ohne sehr künstliche Kultur nur wenige Menschen ärmlich zu nähren vermöchten, und man lerne an den Millionen, die hier im Überfluss und in trefflich geordnetem Hauswesen leben, wie eine gewisse Kargheit der Natur den Menschen erhebt; den sie anfänglich zu drücken scheint.

Wo Asien sehr fruchtbar ist, da lebten die Völker fast von jeher in tiefer Sklaverei. In Afrika deutet die meistens so äußerst rasche Entwickelung, untrennbar eine größere Heftigkeit zerstörerischer Leidenschaften, auf schnellen Verfall. Amerika ist bei seiner sehr großen Ausdehnung doch auch beschränkter durch den Umstand, dass die Kälte des Nordpols, und noch mehr die des Südpols, sich dem Äquator viel mehr nähert, als dies auf der andern Hemisphäre der Fall ist. Kanada hat unter den Breitengraden Frankreichs eine fast sibirische Kälte, und bereits unter dem 40sten Grade südlicher Breite, wo bei uns Neapel und Lissabon liegen, bietet das südliche Amerika den erstarrenden Anblick Lapplands dar. Aber nicht genug, dass das durch die Ausdehnung wirtbarer Erdstriche in Amerika bedeutend eingeengt wird, es nimmt auch die Entwickelung innerhalb der engeren Grenzen durchaus nicht den stätigen Gang, es fehlen jene sanften Übergänge, die in Europa unberechenbare Vorteile gewähren. In dem sonst freilich höchst gesegneten südlichen Amerika insbesondere findet sich eine solche Begünstigung des vegetabilischen Lebens, dass das animalische darunter zu leiden nicht umhin kann. Erdbeben, Stürme und Ströme haben hier eine Ausdehnung und einen Ungestüm, welcher dem Herrscherberufe des Menschen über die Natur gewiss viele schlechthin unbesiegbare Hindernisse in den Weg legt, die oft so groß sind, dass man Mühe hat, sich in Europa einen ganz deutlichen Begriff davon zu machen. Die Wilden in Amerika sind die wildesten und rohesten Menschen der Erde. Wer hörte nicht von der Wut der Kannibalen, und von jenen Karaiben, unter welchen man neuerlich Stämme fand, die sogar Erde unter ihre Nahrungsmittel aufgenommen haben. Meine Hoffnungen auf Australien werden sehr beschränkt dadurch, dass die Tiere, die man hier einheimisch fand, etwas höchst Bizarres an sich haben, und dass die Hauptlandtiere zu dem unvollkommenen Geschlechts der Didelphen gehören, die, auf den Hintertatzen hüpfend, so sehr zurückgesetzt sind in der freien Bewegung, also in dem, was das Tier gegen die Pflanzen charakterisiert. Die Eingebornen von Neu-Holland, besonders die gegen Van-Diemens-Land hin, sind wohl die hässlichste Menschenrasse der wirtbaren Erde. Ich gebe zu, dass Einwanderung und Kultur vieles ändern können, doch bin ich der Meinung, dass der Stempel, den man an den Ureinwohnern und an den Tieren findet, die dem Lande eigentümlich sind, nie ganz verwischt werde, oder dass er doch gewisse Rechte unter nur äußerlich veränderbarer Gestalt behalte.

Abgesehen von dem, was die allen Menschen gemeinsame Vernunftanlage des überall Gleichen setzt, dünkt mir, der Vorzug des Europäers vor den Bewohnern anderer Weltteile sei analog dem Vorzug, den der Mensch vor den Tieren behauptet. Nicht der Körper, sondern der aufgewecktere Geist, die dadurch erschaffene höhere Kultur, macht den Menschen zum Herrscher; nicht die einzelnen Eigenschaften des Europäers, deren jede in gleicher, oft in noch größerer Vollkommenheit bei andern Völkern gefunden wird, sondern die nirgends so große Harmonie der einzelnen Eigenschaften zeichnet ihn aus und erhebt ihn.

Unter den Alten machten besonders schon Aristoteles und Hippokrates auf die Freiheitsliebe der Europäer, und auf die in Europa so große Verschiedenheit des Klimas aufmerksam. Mir scheint, dass die letztere eine Hauptrolle unter den Ursachen spiele, welche die Europäer in den alten Ruf der so großen Freiheitsliebe brachten, worunter hier zunächst die Liebe zu gegenseitiger Unabhängigkeit verstanden werden muss.

Gewiss trägt die große Mannigfaltigkeit des europäischen Klimas sehr viel dazu bei, dass sich hier, auf verhältnismäßig so kleiner Strecke, eine solche Mannigfaltigkeit tief ausgeprägter Nationalität findet, die sich, trotz des lebhaften Verkehrs unter den Europäern, in Sitten, Lebensweisen und vollkommen ausgebildeten Sprachen unverkennbar darstellt. Reisende in Asien versichern, dass sich Sitten, Sprache und Gesichtszüge der Völker dieses Weltteils meistens auf sehr großen Strecken gleich bleiben, oder doch besonders viel Ähnlichkeit mit einander haben. Wie scharf sind dagegen die Züge, welche die einzelnen europäischen Völker von einander unterscheiden? Gleich auf den ersten Blick erkennt man unter allen den leichten Franzosen. Der trotzige Spanier, der kalte Brite, der zurückhaltende Italiener, der nur bei besonderen Anlässen nicht langsame Deutsche, der gerade und derbe Niederländer, samt seinem Bruder, dem Holländer: welch eine Menge von tief ausgeprägten Nationalcharakteren auf einem Raume, der zusammengenommen nicht halb so groß ist, als Brasilien, und der in manchem asiatischen Reiche nur eine Provinz ausmachen würde!

Für die Politik lassen sich aus dem Gesagten mehrere bedeutende Folgen ziehen, von denen ich folgende wenige auszeichne:

a) Da Europas Übergewicht auf seiner höheren Kultur beruht, so harmoniert mit der europäischen Politik nur das, was die Kultur fördert.

b) Da Europa der herrschende Weltteil ist und sein soll, so haben die Fehler und Missgriffe in der europäischen Politik die nachteiligsten Folgen für die ganze Menschheit. Umgekehrt haben politisch gute und preiswürdige Maßregeln hier einen weit über die unmittelbaren Grenzen Europas hinausreichenden Spielraum.

c) Da die Individualität der europäischen Völker so mannigfaltig und tief ausgesprochen ist, und auf einem so festen Grunde beruht, wie derbes Klimas, so kann die Politik keines einzigen europäischen Staats mit Erfolg darauf ausgehen, unseren Weltteil in etwa zwei oder drei, wohl gar in Eine Staatsmasse gewaltsam zusammen zu zwängen. Staaten von dem Umfange des Chinesischen, der sich freilich schon lange behauptete, können hier nur solchen Eroberern ein verführerisches Beispiel sein, die selbst von asiatischem Despotensinn beherrscht, das Gebiet und die Völker nicht kennen, die sie vor sich haben.

Aachen, Stadtansicht

Aachen, Stadtansicht

Altenburg, Blick auf das Schloss

Altenburg, Blick auf das Schloss

Hauptbahnhof in Altona

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Bremen, Alt-Bremer Haus

Bremen, Alt-Bremer Haus

Brunshaupten (Kühlungsborn), Kurhaus

Brunshaupten (Kühlungsborn), Kurhaus

Darmstadt, Ludwigs-Platz und Bismarckdenkmal

Darmstadt, Ludwigs-Platz und Bismarckdenkmal

Der Dom in Schwerin

Der Dom in Schwerin

Eisenach, Die Wartburg

Eisenach, Die Wartburg

Elsass, Starßbourg, Bauernhaus in der Orangerie

Elsass, Starßbourg, Bauernhaus in der Orangerie

Gutenbergdenkmal in Straßbourg

Gutenbergdenkmal in Straßbourg

Erfurt, Dämmchen

Erfurt, Dämmchen

Heidelberg, Alte Brücke und Schloss

Heidelberg, Alte Brücke und Schloss

Königswinter, Drachenfels Ruine

Königswinter, Drachenfels Ruine

Malchin, Postamt, Tor und Kirche

Malchin, Postamt, Tor und Kirche

Münster (Westf.) Liebfrauenkirche

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Nürnberg, Albrecht Dürer Haus

Nürnberg, Albrecht Dürer Haus

Das Schloss Funtainbleau

Das Schloss Funtainbleau

Paris Kähne auf dem Kanal Saint-Martin

Paris Kähne auf dem Kanal Saint-Martin

Paris Notre-Dame 2

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Potsdam, Garnisionskirche

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Potsdam, Schloss Sanssouci mit Reiterstandbild Friedrichs des Großen

Potsdam, Schloss Sanssouci mit Reiterstandbild Friedrichs des Großen

Scheveningen um 1900

Scheveningen um 1900

SH Marne, Marktplatz

SH Marne, Marktplatz

Stadttheater in Hamburg-Altona

Stadttheater in Hamburg-Altona

Wien, Stadtansicht 1859

Wien, Stadtansicht 1859