Alfred Lichtwarks Erbe

Autor: Wallsee H. E. (?), Erscheinungsjahr: 1914
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Alfred Lichtwark, Hamburger Kunsthalle, Erbe
Hamburg ist die Stadt der Potenzen. Vielleicht nirgends so wie hier besteht das Bedürfnis nach führenden Persönlichkeiten. In der Kunst sowohl wie auf allen anderen Gebieten des öffentlichen Lebens. Weil die Ansprüche zu groß sind, als dass jeder in allen Stücken eine gleiche Beschlagenheit zu erreichen vermöchte, hat sich unausgesprochen ein lebhaftes Bedürfnis eingebürgert nach Führern, auf die in allen, ihr Spezialgebiet berührenden Fragen ein unbedingtes Verlassen ist. Und da die Fähigkeit zum Mitsprechen in Kunstfragen nun einmal zu den Erfordernissen gehört, deren Erfüllung heute von den Kulturmenschen verlangt wird, ist ein Mann, der an sich glauben zu machen vermag, gerade an dieser Stelle ganz unentbehrlich.

Aus: Die Kunst. Monatshefte für freie und angewandte Kunst. 29 Band. XXIX Jahrgang. 1914

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Lichtwark hat das erkannt und er hat darnach von vornherein sein Verhalten eingerichtet. Er begann damit, der bis dahin in nur schwachen Umrissen bestandenen Vorstellung von dem Vorhandensein einer hochentwickelten althamburgischen Lokalkunst an Hand der Werke von Franke, Bertram, Mathias Scheits, Runge u. a. die er mit einem beispiellosen Sammlerfleiße zusammentrug, eine sichere Unterlage zu gewinnen. Mit starker Hand führte er den nunmehr in eine bestimmte Richtlinie eingeordneten Bau durch Anlage einer Galerie Hamburger Bildnisse und Hamburger Landschaftsbilder weiter. Ein folgender Schritt führte zur Sicherung der Führerschaft der Kunsthalle auf dem bisher brach gelegenen Gebiet der künstlerischen Medaille und Plakette, wozu sich endlich und schließlich gesellte, dass Lichtwark, was er als Sammler begonnen, in einer erstaunlich großen Anzahl Inhalt- und gedankenreicher Gelegenheitsschriften und Buchveröffentlichungen in populärer Weise auch den breiten Leserkreisen nahe zu bringen verstanden hat. Das waren Taten von unanfechtbarem Wert, und damit waren die Bedingungen gegeben, zur Erlangung eines stärksten Einflusses, der in der Vaterstadt Lichtwarks im Laufe der Zeit solche Formen annahm, dass selbst private Sammler, die früher nur gekauft, was ihnen gefallen, und Kunstfreunde, die sich nur von solchen Künstlern hatten porträtieren lassen, die ihren Beifall gehabt, dieses Zutrauen zu ihrer eigenen Urteilsfähigkeit völlig einbüßten und nur mehr kauften, was Lichtwark zu kaufen anriet, auch wenn es ihnen nicht gefiel, beziehungsweise die sich nur von solchen Künstlern malen ließen, die Lichtwark empfohlen hatte, auch wenn sie selbst zu deren Art keinerlei Vertrauen hatten.

Lichtwark hätte nicht der scharfblickende Beobachter und Erzieher sein müssen, der er in hohem Maße war, um diesen Zustand nicht als Einbuße zu empfinden. Und so kehrten, namentlich in der Anfangszeit seiner Amtsführung, Worte der Sehnsucht nach einer an seinem Werke fruchtbar mitarbeitenden Kritik in seinen Vorträgen zu öfteren Malen wieder, ebenso wie Mahnungen an Sammler und Künstler, in ihren Werken vor allem auf die Betonung ihrer Eigenart bedacht zu sein. Doch wie das bei Zuständen nicht selten ist, die aus dem Verhältnis des bloß Ausnahmsweisen allmählich in das der Gewohnheit übergehen, nämlich dass sie den Anschein von Gesetzmäßigkeit erlangen, So war es auch hier. Alfred Lichtwark hatte sich schließlich in die ihm allseitig bereitwillig zugestandene Führerrolle solcherart hineingelebt, dass er überrascht aufblickte, wenn ein bis dahin in seinem Geltungskreise gestandener Sammler oder Künstler Miene machte, seinen Rat zu befolgen und zur Betonung eben seiner Eigenpersönlichkeit Neigung zeigte, wirklich einmal eigene Wege zu gehen. Dass sich aus diesen und ähnlichen Gegensätzen Reibungsflächen ergaben, die mancherlei Empfindlichkeiten und gelegentlich selbst ernstere Weiterungen zur Folge gehabt haben mögen, ist zu verstehen, und in diesem Sinne will wohl auch die bei der Gedächtnisfeier der „Gesellschaft Hamburger Kunstfreunde“, einer Gründung Lichtwarks, gefallene Redewendung vom Wachstum der Kunsthalle, das sich vor den Augen der Mitglieder dieser Gesellschaft „wie ein bewegtes Drama“ abgespielt, gedeutet sein.

Doch das sind Späne, wie sie bei jeglichem Bauen absplittern, ohne dass das Werk selbst Schaden erlitte, ja, die das Interesse der einheitlichen Ausgestaltung dieses Werkes sogar erfordert. Und dieses Werk stand festgefügt in der Vorstellung seines Schöpfers. Es sollte ein Vorbild abgeben eines neuzeitlichen Muster-Museums, das durch sein einfaches Vorhandensein in die, nach Lichtwarks Meinung, immer noch stark fließenden Begriffe von den Aufgaben eines modernen Kunstmuseums Stabilität hätte hineinbringen sollen. Nur ein paar Jahre noch und die Welt hätte erfahren, wie er das alles so fein durchdacht. Und nun ist er hinweggestorben, knapp bevor die Bauleute das neue Haus unter Dach gebracht haben, zugleich aber auch ohne Hinterlassung der leisesten Andeutung, die seinem Nachfolger die Schwere der seiner harrenden Aufgabe, den Ideengang seines Vorgängers so in sich aufzunehmen und zu verarbeiten, dass er restlos, wie erwartet, zur Erscheinung gebracht zu werden vermag, erleichtert hätte. Zwar hat sich dieser Nachfolger, Dr. Pauli, der bisherige Leiter der Bremer „Kunsthalle“, sowohl in seiner bisherigen Art des Sammelns, wie in seinen kunstliterarischen Veröffentlichungen, unumwunden zu den Anschauungen Lichtwarks bekannt, und die ihm auferlegte Verpflichtung, die Hamburger Kunsthalle im Sinne der von Lichtwark vorgezeichneten Richtlinie zunächst als Hamburger Kunstinstitut weiter auszugestalten, dürfte ihm keine Schwierigkeiten bereiten. Doch schon bei den ersten Versuchen des Hinausgehens über diese Grenzlinie wird er vorbereitet sein müssen, dem Schatten seines Vorgängers zu begegnen — was ihn freilich von diesem Weiterhinausgehen nicht wird abhalten dürfen. Denn davon abgesehen, dass jenseits dieser Grenzlinie das Werk Lichtwarks solche Lücken aufweist, dass er selbst sich ihnen in dem neuen Hause unmöglich auf die Dauer hätte verschließen können, ist gerade hier dem Nachfolger der eigentliche Spielraum zur Eigenbetätigung geboten.