Proklamation Alexanders an die russische Nation nach Beendigung des Feldzuges 1812

Gott und der gesamten Mitwelt ist es bekannt, mit welchen Absichten und mit welcher Macht der Feind in Unsre Staaten gedrungen ist. Nichts hat die hartnäckige Ausführung seiner treulosen Entwürfe abwenden können. In vollem Vertrauen auf die Streitkräfte seines Reichs und last aller europäischen Mächte, die er mit den seinigen zu diesem Kampf gegen Uns verbunden hatte; getrieben von unersättlicher Eroberungsgier, dürstend nach Blut, hat er es gewagt, bis ins Herz Unsers ausgedehnten Reichs zu dringen, um daselbst, alles Unglück und alle Schrecknisse, nicht eines zufälligen Kriegs, sondern eines Vernichtungskampfs zu verbreiten, zu welchem er sich seit langer Zeit gerüstet hatte.

Wir kannten aus vielen Beispielen seinen unbegrenzten Hang, Alles zu unterjochen, und den Ungestüm seiner Unternehmungen. Wir beurteilten darnach das Maß des Übel, welche er Uns bereitete, und als wir die unversöhnliche Wut wahrnahmen, mit welcher er bereits in Unsre Grenzen eingedrungen war, so wurden Wir mit bekümmertem Herzen in die Notwendigkeit gesetzt, zum Schwerte zu greifen. Wir erflehten den Beistand des Allmächtigen, und versprachen Unserm Reiche, das Schwert nicht niederzulegen, so lange noch ein bewaffneter Feind in Unserm Gebiete sich befinden würde. Dieses in Unserm Herzen fest bestimmte Versprechen war auf die Tatkraft der Völker gegründet, welche die Vorsehung Unsrer Sorge anvertraut hat, und diese Erwartung ist nicht getäuscht worden. Gibt es ein Beispiel von Kühnheit, Heldenmut, Geduld, Ergebung, Ausdauer und Ehrgefühl, welches Russland nicht aufgestellt hätte? Hat der Feind durch alle seine die Menschheit empörende Handlungen, oder durch die Wut seines Betragens dem Russen eine einzige Klage über die blutenden Wunden, die er ihm schlug, abnötigen können? Schien es nicht, als wenn den Russen der Verlust seines Bluts in Mut und Ausdauer stärkte, die Vaterlandsliebe verdoppelt beim Brande der Städte aufloderte; die Entheiligung der Tempel seinen Glauben erhöhte, und ihn zur unversöhnlichen Rache entflammte?


Das Kriegsheer, die Großen des Landes, der Adel, die Geistlichkeit, die Bürger, das Volk: mit einem Worte, alle Stände des Reichs haben den Verlust ihres Vermögens und die Aufopferung ihres Lebens für nichts geachtet. Sie sind eins gewesen im Gefühle ihrer Kraft und ihres Vertrauens auf Gott, in ihrer Liebe für die Altäre und das Vaterland. Diese vollkommene Übereinstimmung und dieser allgemeine Eifer halten schnell unerhörte, kaum wahrscheinliche Resultate hervorgebracht. Der wütende Feind, von zügelloser Herrschsucht geführt, stolz auf seine erfochtenen Siege, rückte in Unsere Grenzen mit der unzählbaren Macht von 20 Reichen und 20 Völkern, die unter seinen Fahnen vereinigt waren. Sie belief sich auf 500.000 Krieger zu Fuß und zu Pferde, und schleppte 1.500 Feuerschlünde mit sich. Mit diesem furchtbaren Heere drang er bis in den Mittelpunkt des Reichs, und verbreitete weit um sich Tod und Verwüstung. Kaum aber sind sechs Monate seit seinem Einbruche verflossen, und wo ist er? Hier treten uns die Worte des Psalms ins Gedächtnis:

„Ich sah den Ungerechten am Morgen sich erheben, wie die Zeder am Libanon; ich ging den Abend vorüber, und er war nicht!“

Dieser große Ausspruch hat sich im ganzen Umfange seines hohen Sinns an dem stolzen, ruchlosen Feinde bewährt. Wo sind seine Heere? Sie gleichen einer schwarzen Wolke, die der Sturm zerstreut hat. Sie haben sich aufgelöst wie Wassertropfen. Ein Teil hat die Erde mit seinem Blute getränkt und liegt zerstreut in den Feldern von Moskau, Kaluga, Smolensk, Weißrussland und Litauen. Ein andrer Teil ist mit einer Menge seiner Anführer in Schlachten gefangen, nachdem ganze Regimenter, den Edelmut der Sieger anflehend, die Waffen vor ihnen gestreckt haben. Der dritte Teil endlich, eben so zahlreich als die andern, ist auf seiner übereilten Flucht von unsern siegreichen Armeen verfolgt, dem Hunger und der Kälte erlegen, und hat von Moskau bis an die Grenzen Russlands die Landstraße mit seinen Kanonen, seinen Fahrzeugen, seinen Pulverkästen und seinen Leichnamen bedeckt, so dass nur wenige Trümmer dieser unzählbaren Heere, einige Soldaten ohne Waffen, erschöpft und halb tot ihr Vaterland erreichen werden, um dort zum ewigen Schrecken ihrer Landsleute zu verkündigen, welche Strafe den ereilt, der es wagt, mit feindseligen Absichten in das mächtige Russland zu dringen. —

Dankerfüllt gegen den Allmächtigen, und mit aufrichtiger Freude erklären Wir Unsern geliebten Untertanen, dass die Ereignisse Unsere Hoffnungen übertroffen haben, und dass die Verheißungen, welche Wir beim Anfange dieses Kriegs getan haben, mehr als erfüllt sind. Schon befindet sich kein einziger Feind mehr auf Unserm Gebiete, oder vielmehr — sie sind alle daselbst, aber tot, verwundet und gefangen! ihr stolzes Oberhaupt hat nur mit Mühe sich und einige seiner vornehmsten Generale gerettet, nachdem er seine Armee verloren und Uns über 1.000 Kanonen zurückgelassen hatte, die übrigen sind vergraben und versenkt worden.

Das Bild der Zerstörung, welches die französische Armee darstellt, ist kaum zu fassen, und kaum traut man den eigenen Augen dabei. Wer hat diese Ereignisse herbeiführen können? Ohne den Ruhm des Befehlshabers der Armeen schmälern zu wollen, der sich durch unendliche, dem Vaterland geleistete Dienste verherrlicht hat; ohne das Verdienst der anderen Heerführer zu verringern, welche alle in Heldenmut und Ergebenheit gewetteifert haben; ohne im Ganzen den Mut Unserer Truppen zu verkennen, müssen Wir doch gestehen, dass eine höhere Macht, als die der Menschen, sich mit ihren Anstrengungen verbunden hat, und Wir verehren in diesem großen Werke die Vorsehung Gottes. Niedergebeugt vor dem Throne des Allmächtigen sehen Wir seine Hand den Stolz und die Frevel bestrafen.

Wir wollen also in Unsern Siegen nicht einen eitlen Ruhm suchen, sondern dieses große und seltene Beispiel soll Uns zur Frömmigkeit und Mäßigkeit, zur treuen Beobachtung der Gesetze Gottes und seines erhabenen Willens leiten. Dadurch wollen Wir Uns von den verbrecherischen Tempelschändern unterscheiden, deren Leichname jetzt den Hunden und den Vögeln des Himmels zur Speise dienen. Gott ist groß in seiner Barmherzigkeit, wie in seinem Zorn. Mit dem Bewusstsein reinen Willens und unsträflicher Handlungen, lasset Uns den einzigen Weg wandeln, der zu seiner Gnade führt! In seinen Tempel wollen Wir treten und nur von seiner Hand verherrlicht, Ihm für die Wohltaten danken, welche Er unter Uns ergossen hat!

Niedergebeugt vor dem Allerhöchsten, wollen Wir Ihm Unsere heißen Bitten darbringen, dass er sich in Gnaden an Uns wende, dem Kampfe ein Ziel setze und Uns den Frieden gewähre, welcher der Sieg der Siege ist.

Gegeben in Wilna den 25sten Dezember im Jahre Unsers Herrn 1812, und Unserer Regierung im zwölften. Alexander.