JACOPO TINTORETTO, Bildnis eines Edelmannes

JACOPO TINTORETTO
(1519 — 1594)
Bildnis eines Edelmannes
Leinwand: h. 0,99, br. 0,77 m

Die venezianische Malerei der großen Zeit schließt ab mit dem farbenfreudigen Paolo Veronese und dem ungebärdigen Virtuosen Tintoretto, von dessen kraftstrotzenden Figuren sich der Geschmack unserer Tage wieder besonders angezogen fühlt, während man früher meinte, dass bei dem freundlichen Paolo mehr echte Kunst zu finden sei. Dieser Gegensatz zwischen beiden betrifft jedoch ihre Historienmalerei. Im Bildnis, mit dem wir es hier zu tun haben, kann Tintoretto zwar auch oftmals sehr roh sein, und das ist der Grund, weswegen man auf den zahlreichen handwerksmäßig hingestrichenen Porträts von Prokuratoren und Senatoren seine Hand so ohne weiteres erkennt; es ist beinahe als hätten diese Leute gar kein individuelles Gesicht mehr, sondern nur noch eins, wie es gerade Tintoretto ihnen zu malen beliebte. Aber es gibt auch Bildnisse, in denen er der echte Venezianer ist. Dann tritt er in dieser in Venedig auf die höchste Stufe gebrachten Kunstgattung in die Nähe Tizians (dem er nach der neueren Meinung sogar einzelne Bilder streitig zu machen angefangen hat) oder Lorenzo Lottos. — Unser Edelmann aus der Kasseler Galerie gehört zu diesen Werken besserer Art. Er steht da in seinem Zimmer, ganz in schwarzen Atlas gekleidet; aus der breiten Krause sieht ein Kopf hervor, der Eindruck macht. Vor dem möchte man sich in Acht nehmen, nicht wahr? So wollten diese Menschen ja aber auch erscheinen, und nichts lag ihnen ferner als ein leutseliges Photographiergesicht aufzustecken. Auch dass die braunen Lederhandschuhe auf beiden Händen sitzen, gehört mit zu diesem Eindruck des Zusammengenommenen, den ein angezogener Mann auf andere machen will. Die Jahrzahl 1555 auf dem Papiere, das auf dem Tischteppich liegt, sagt uns, dass wir hier ein spätes Werk vor uns haben, nicht nur für Tintoretto, sondern auch für das Zeitalter. Tizian war schon vor neun Jahren gestorben, beinahe hundertjährig, und von allen den bedeutenderen Venezianern und oberitalienischen Malern, die mit Venedig zusammenhängen, lebte außer Paolo Veronese jetzt auch nicht einer mehr. Aber die Bildniskunst kann sich lange halten, und namentlich die der Venezianer hat es getan. Dass die Farbe stark nachgedunkelt hat, braucht kaum bemerkt zu werden. A. P.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Album der Kasseler Galerie