Aissauas vor einem marokkanischen Großen

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1913
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Marokko, Sekten, Gaukler, Koran, Religion, Extase, Kunststücke, Zauber, Wunder
Es gibt eine merkwürdige Verbindung mohammedanischer Fanatiker, eine Art religiöser Sekte, die vor allem in Marokko häufig ist, deren Anhänger aber auch in anderen Teilen der mohammedanischen Welt angetroffen werden. Es sind die Aissauas oder Aissin, die sich nach dem „Propheten“ Jesus (Aissa = Jesus) nennen. In ihm erblicken sie ihr unsichtbares geistiges Oberhaupt, von ihm behaupten sie die ihnen angeblich innewohnende Wunderkraft ererbt zu haben. Sie stützen sich dabei auf die Worte Mohammeds im Koran, „dass ihm (d. h. Mohammed) die Gabe, Wunder zu tun, nicht verliehen sei, dass aber Jesus sie gehabt habe“.

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In Wirklichkeit sind die Aissauas kaum etwas anderes als Gaukler, die die Leichtgläubigkeit ihrer Mitmenschen nach Kräften zu ihrem Nutzen auszubeuten suchen. Von allen anderen Sekten, religiösen Orden und dergleichen unterscheidet sie hauptsächlich der Umstand, dass sie kein lebendes Oberhaupt haben, keine bestimmten Ordensregeln, kein religiöses Zentrum, in Marokko Sauya genannt, was so viel bedeutet wie Kloster, Wallfahrtsort, Schule, Asyl zusammengenommen. Um ihre wundertätige Heiligkeit darzutun, versetzen sie sich, wie es unser interessantes Bild auf Seite 141, wo sie sich vor einem marokkanischen Großen produzieren, in packender Weise schildert, durch Tanzen und Schreien und wildes Gebaren künstlich in einen Zustand der Raserei, die für religiöse Ekstase gilt. Zum Beweise dafür, dass sie in solcher Ekstase giftfest und unverwundbar seien, vollführen sie die tollsten Dinge. Gerhard Rohlfs, der bekannte Afrikaforscher, der die Aissauas oft zu beobachten Gelegenheit hatte, sagt, dass ihre Kunststücke sehr verschiedener Art seien. So nehmen sie z. B. einen Skorpion in die Hand oder lassen giftige Schlangen auf dem Körper Herumkriechen. Manchmal errege es geradezu Entsetzen, wenn man sehe, wie die Leute Schlangenlebendig verzehren, zerhackte Nägel, gestoßenes Glas, scharfkantige Steine und glühende Kohlen hinunterschlucken, wie sie unter dem Ausruf „Allah und Aissa“ ihren Körper schlagen, dass er blutrünstig wird. Je toller die Fanatiker es treiben, desto mehr finden sie ein gläubiges Publikum, das von ihrer Wundertätigkeit fest überzeugt ist, und zwar nicht nur unter dem niederen Volk, sondern auch unter den Vornehmen und Gebildeten. Dabei ist es gar nicht einmal ungefährlich, ihren Rasereien beizuwohnen, denn sie stürzen sich urplötzlich auf die Umstehenden und verüben die schlimmsten Gewalttätigkeiten, für die sie übrigens niemals bestraft
werden.

Aissauas vor einem marokkanischen Großen

Aissauas vor einem marokkanischen Großen