VI. - Die Entdeckung des -Schweinfurth-Tempels- am Möris-See

In jenem Winter, mit dem das vorige Jahrhundert anhob, hatte Martin, ein französischer Ingenieur, der dem Vermessungskorps der französischen Armee unter Bonaparte beigegeben war, eine Rekognoszierung im Umkreise des Birket-el-Kerun, des bekannten Überbleibsels vom alten sagenhaften Mörissee, unternommen, um die von ihm ausgearbeitete Karte der Provinz Fajum zu vervollständigen und namentlich nach der Seite der Terra incognita von Lybien hin die Gestade des Sees besser feststellen zu können. Obgleich der auf diesem kurzen Streifzuge berührte Wüstenteil, abgesehen vom Mangel an Futter für die Kamele, die man indes für die wenigen Tage leicht mitzuführen vermag, keinerlei Schwierigkeiten darbietet, ist die Martinsche Tour merkwürdigerweise bisher nur einmal wiederholt worden, nämlich im April 1884, als ich hauptsächlich zu geologischen Zwecken dahin meine Schritte lenkte.

Wenn man vom Fajumer Kulturlande aus seine Blicke dem nördlichen Wüstenrande zukehrt, so erblickt man den großen Oasenkessel in dieser Richtung von zwei hohen Abfallstufen begrenzt, die sich mit vielen Staffellinien in Abständen von acht und von zwanzig Kilometern jenseits des tief unter dem Meeresspiegel gelegenen Sees hinziehen. Dieser vielgegliederte geologische Horizont erregte meine Aufmerksamkeit und Neugierde im höchsten Grade, und ich wandte mich damals von der Nordostecke des Fajums aus zunächst dahin, fand denn auch in der Tat fossilreiche Schichten sehr interessanter Art und machte reiche Ausbeute; aber eine Überraschung war mir daselbst vorbehalten, um die mich mancher Ägyptologe beneiden mag, nämlich die Auffindung eines bisher gänzlich übersehenen Tempels aus altägyptischer Zeit. Robert Brown hat später in seinem Buch über den Mörissee dieses von Arabern »Ssaga« genannte Bauwerk als den »Schweinfurth-Tempel« bezeichnet.


Innerhalb der historischen Welt noch irgendwo alte Tempel ausfindig zu machen, die dem Spürsinn der Forscher entgangen wären, dürfte heutzutage wohl keine leichte Aufgabe sein, wenigstens würde das für die im Oberbau erhalten gebliebenen Tempel Geltung haben. Einen letzten Fund dieser Art zu machen, war Cailliaud vergönnt, als er im Jahre 1820 an die Mauern des unter Darius renovierten Ammonstempels von el-Schargeh in der Großen Oase die stolzen Worte schreiben konnte: »Cailliaud fût le premier Européen qui prît connoissance de ce temple«. Das war allerdings ein großer reichverzierter Tempelbau, während der meinige nur bescheidene Dimensionen aufzuweisen hat. Vielleicht ist es diesem Umstande zuzuschreiben, daß der letztere so lange unbeachtet geblieben ist. Von der südlichen Seite des Sees gesehen, auf einer Entfernung von zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometern, erscheint er nur als Punkt. Ein Umstand, der auch dazu beigetragen haben kann, die Aufmerksamkeit von meinem Tempel abzulenken, mag in dem Vorhandensein einer in geringerem Abstande (drei statt acht Kilometer) vom heutigen Ufer des Sees befindlichen alten Stadtstelle zu erblicken sein, die jetzt noch unter der altägyptischen Bezeichnung »Dimeh«, das heißt Stadt, schlechtweg bekannt ist und von Reisenden, die den See befuhren, wiederholt aufgesucht worden ist. War dann von anderen alten Baulichkeiten die Rede, so verwechselte man sie mit denen von Dimeh. Zu erwähnen ist übrigens, daß auch die Reisenden der älteren Zeit, die wie Vansleb, Pococke und Paul Lucas noch viele Baudenkmäler Ägyptens in vollkommenerer Erhaltung als der heutigen gesehen haben, von meinem Tempel nichts erfuhren; ebensowenig findet sich in den Angaben der arabischen Schriftsteller des Mittelalters irgendwo etwas, was auf ihn Bezug haben könnte. Dasselbe gilt von den Schriftstellern des klassischen Altertums. Hoffentlich gelingt es einmal, aus anderweitig vorhandenen Tempelinschriften oder ähnlichen Urkunden Aufklärungen über die Erbauungszeit und den Zweck des verschollenen Heiligtums zu erlangen, die dieses leider selbst nirgends zu erkennen gibt. Seine Errichtung an den ehemaligen Gestaden des Mörissees und an dessen äußerstem Ende inmitten einer trostlosen Einöde umgibt den kleinen Tempelbau mit dem Reiz des Geheimnisvollen und erweckt unwillkürlich die Vorstellung, daß sich an die Enthüllung seines Rätsels überraschende Dinge knüpfen mögen. Andererseits ist sein Vorhandensein an dieser Stelle ein greifbarer Beweis für die Ausdehnung des alten Mörissees im Sinne Herodots, und die in seiner unmittelbaren Nähe befindlichen unverkennbaren Uferspuren reden, allen Mißdeutungen das Wort abschneidend, die vernehmliche Sprache der Tatsachen.

Als ich am 29. April zehn Kilometer vom Nordufer des Sees Birket-el-Kerun die Höhe einer nach Südost Front machenden Ecke der ersten Abfallslinie erstiegen hatte, einen Punkt, der durch seine seltsame bastionartige Gestaltung lange Zeit dem Marsche meiner Karawane als weithin sichtbare Landmarke gedient hatte, eröffnete sich südwärts vor meinen Blicken eine die gesamte Niederung des Fajumer Beckens auf über fünfzig Kilometer hinaus umfassende Fernsicht. Der Birket-el-Kerun, an Flächenausdehnung ungefähr dem Bodensee gleichkommend, erschien in der Vogelschau projiziert mit seinen in schärfster Zeichnung tief schwarzblau auf gelbem Wüstengrunde sich abhebenden Buchten, Vorsprüngen und Inseln. Das nächstgelegene Ufer bot linker Hand die Insel el-Kenissa dar, rechts tiefer aus dem See hervor leuchtete der helle Hügel der westlichen Insel, Gesiret-el-Korn genannt, in der Mitte, gerade nach Süden zu, erstreckte sich die senkrecht vom Nordgestade vorspringende schmale Halbinsel des »Horns«, el-Korn, die dem See den Namen gibt, davor auf einer von schwarzen Tonmauern umgebenen Terrainanschwellung die Trümmer der alten »Stadt« Dimeh.

Am Ufer des Sees wachsen, zum Teil im Wasser selbst, Tamarisken, und stellenweise sind Schilfdickichte vorhanden. Die Tamarisken deuten am tieferen Ufer als lange Streifen eine in Bildung begriffene neue Strandlinie an, anderwärts wiederum erfüllen sie die seichten Erweiterungsstellen, die einen Tummelplatz für Wasservögel aller Art abgeben. Das schwarze Bleßhuhn scheint sich hier besonders wohl zu fühlen, und man sieht diese Vögel in großen Scharen zwischen den grünen Tamariskengruppen umherschwimmen. Die an der Nordostecke des Sees befindliche weit ausgedehnte Niederung, die beim periodischen Steigen und Fallen des Sees um einen Meter abwechselnd trocken gelegt wird, ist gleichfalls mit Tamarisken bewachsen. Diese Strauchart hat im Verein mit dem Schilfrohr für den im Laufe seiner fortschreitenden Austrocknung schrittweise zurückweichenden See überall Zeugen hinterlassen, und dazu durch Hinterlassung von altem Holz Markpfähle geliefert, die den jeweilig eingenommenen Wasserstand bezeichnen und die an die tausend Jahre alt sein können, denn sie finden sich gruppenweise im Sande steckend, desgleichen die fast unverweslichen Schilfschäfte, weitab vom heutigen See bis zu nachweisbar 30 Metern über seinem heutigen Spiegel, wahrscheinlich aber auch in noch höheren Lagen. Der See steht heute bei – 43,3 Meter unter dem Meere. Der wahrscheinlich nicht aus älterer als der römischen Kaiserzeit stammende Kasr-el-Kerun genannte große Tempelbau an der Südwestecke ist an einer vier Meter über dem Meere gelegenen Stelle, ungefähr vier Kilometer vom heutigen Ufer errichtet, der See ist demnach während der letzten siebzehn bis neunzehn Jahrhunderte um nicht weniger als 47 Meter gefallen. Man kann sich also vorstellen, wie lange es her sein mag, daß der See um 30 Meter höher stand als heute und an seinen Gestaden jene Schilfreste hinterließ. Die im Fajum angesiedelten Beduinen nennen solche Stellen mit Resten von Tamariskenvegetation »alte Gärten« und bezeichnen das Holz geradezu als Reben oder alte Weinstöcke. Als ich dies aus ihrem Munde vernahm, Äußerungen, die keineswegs durch Fragen meinerseits veranlaßt waren, da wurde es mir klar, wie Pococke, als er 1738 den Tempel Kasr-el-Kerun entdeckte und in ihm das Labyrinth zu erkennen glaubte, dazu gekommen war, von alten Weingärten zu sprechen, die er in jener Gegend, fernab vom See, wahrgenommen haben wollte, eine Vorstellung, die dann auch auf moderne Reisende, denen von Eingeborenen ähnliche Dinge vorgeredet sein werden, übergegangen ist, wie aus verschiedenen Berichten hervorgeht.

Hinsichtlich des Sees sei noch erwähnt, daß der Salzgehalt seines Wassers, trotz der scheinbar vollkommenen Abflußlosigkeit, ein nur sehr geringer ist und beim niedrigsten Stande kaum viel über ein Prozent steigt. Man kann es zur Not sehr wohl trinken, und es hat sonst keinerlei unangenehmen Beigeschmack. Hieran knüpft sich ein noch ungelöstes Rätsel. Wenn man nämlich den Kochsalzgehalt des dem See zuströmenden Nilwassers, dann die Oberfläche und das Volumen des Sees zur alten Zeit in Betracht zieht und die Masse des alljährlich während der langen Periode seiner Reduktion verdunsteten Wassers auch nur für tausend Jahre berechnet, so ergibt sich für den See in seiner heutigen Gestalt ein so hoher Prozentsatz, daß der Birket-el-Kerun die salzigsten Meere noch übertreffen müßte. Wo sind also die Wassermengen hingeraten, die durch ihren Abfluß eine beständige Erneuerung des süßen Wassers ermöglicht haben müssen? Es bleibt nur die Annahme übrig, daß sich im Grunde des gegenwärtig nirgends über zehn Meter tiefen Sees Felsspalten befinden müssen, die diesen Abfluß bedingen. Auch die sehr durchlässigen Mergelschichten können dabei mitgeholfen haben. Die Frage aber, wohin sich dieser Abfluß richte, wo diese Wasser zutage treten können, ist weit schwerer zu beantworten. Die Quellen der Oasen in der Libyschen Wüste sind Süßwasserthermen, jedenfalls salzfreier als das Wasser im Birket-el-Kerun, und man leitet ihren Ursprung wohl mit Recht vom Nil oberhalb der ersten Katarakte ab. Auch das Wasser der benachbarten Natronseen stammt erwiesenermaßen aus dem Nil. Der unterirdische Abfluß des Fajumer Sees kann, falls er nicht zu bedeutenden Erdtiefen hinabsteigt, um in Gestalt von Thermen anderwärts zutage zu treten, nach den gewöhnlichen Gesetzen der Hydraulik nur im Meere seinen Endpunkt finden, und zwar auf dessen Grunde bei mehr als fünfzig Metern Tiefe.

Nach dieser Abschweifung, die der Umstand entschuldigt, daß alles, was auf den See Bezug hat, auch für den uns hier zunächst beschäftigenden Gegenstand, für den alten Tempel, der an dessen ehemaligen Ufern erbaut war, von Wichtigkeit erscheint, kehre ich zu dem vorhin erwähnten Standorte zurück, der die weite Fernsicht gestattete, und betrachte nun die zunächst gelegene Landschaft. Eine in ödes Grau gekleidete Fläche mit einigen langgezogenen Wellenlinien und jeder Spur von Vegetation entbehrend, erstreckt sich zehn Kilometer breit vom Seeufer bis zum ungefähr hundert Meter hohen Abfall der ersten Stufe, die ihrerseits zweigegliedert, in zwei Absätzen und aus abwechselnden Lagen von Nummulitenkalk und gelben oder grauen Tonmergeln besteht. Der Abfall selbst, der hier nach Nordost umbiegt, bietet eine Reihe von vorspringenden Ecken dar, zwischen denen tiefe Ausbuchtungen das zerrissene Gestade eines der tiefen Golfe veranschaulichen, mit denen das Meer, etwa um die Diluvialepoche herum, sich über weite Strecken von Ägypten und Nubien ausbreitete. Einst von der brandenden Meeresflut bespült und ausgewaschen, sind diese Buchten und Kessel heute nur noch ein Spiel der Wüstendenudation; der zerstörende Zahn der Zeit arbeitet nun statt mit Wasserkraft, mit dem rastlos schaffenden Luftgebläse. Ein solcher ausgeblasener Wüstenkessel, ein wahres Amphitheater, dessen regelmäßig konzentrische Bänke und Stufen aus unzähligen Schichtenköpfen bestehen, die vermittels ihrer härteren Lagen der ausgleichenden Verschüttung durch den weichen Mergelschutt widerstreben, ein solcher Felsenzirkus lag zu meinen Füßen. Rechts und links, im Abstande von gegen drei Kilometer, flankierten ihn wie ein künstlicher Aufbau aus schwarzen Luftziegeln jäh aufstrebende Mergelburgen. Scharf gliederte sich weiter unten die letzte Stufe des gelblichen Berglandes von dem einförmigen Grau des ehemaligen Mörisgrundes ab. Verwirrt durch den Anblick der im endlosen Einerlei vor mir lagernden leeren Bänke, auf denen die Geister der Wüste ihren noch ungestörten Sitz zu behaupten schienen (nach ägyptischer Auffassung ist die Wüste ein Tummelplatz der Geister), suchten die Blicke auf dieser Grenzscheide nach einem Ruhepunkte, und siehe da, es fand sich einer alsbald. Ein regelmäßig geformter Mauerbau, aus großen Quadern errichtet und mit einer Türöffnung versehen, stach dort unerwartet in die Augen.

Ein Haus in dieser Einsamkeit? Wie kam der alte Quaderbau in diese entlegene Wüste?

Meine Begleiter schienen ebenso überrascht wie ich und hatten von diesem Bauwerk nie etwas gehört, weder die von den Pyramiden, noch die Fajumer Beduinen. Voller Erwartung eilte ich hinab.

Es ergab sich auf den ersten Blick, daß der Bau einer sehr frühen Epoche des ägyptischen Altertums angehören müsse. Das bewies zunächst der verwitterte Zustand der großen Sandsteinblöcke, die ihn in ziemlicher Vollständigkeit noch zusammensetzten, wurde auch durch den Zustand der infolge des allmählich gewichenen Grundes tiefklaffenden Fugen erwiesen. Leider waren weder hieroglyphische Inschriften, noch irgendwelcher Bilderschmuck ausfindig zu machen.

In nachfolgendem gebe ich die Größenverhältnisse des Bauwerkes und die Anordnung seiner Teile und verweise auch auf die Abbildungen hinten. Der Bau stellt im Grundriß ein von West zu Süd nach Nord zu Ost gerichtetes längliches Viereck dar, 21,5 Meter lang und 8,5 Meter breit. Der innere Raum wird hauptsächlich von einer Flucht von sieben Nischenkammern eingenommen, deren Tiefe die nördliche Hälfte dieses Raumes in Anspruch nimmt; auf der Ostseite ist dann noch eine die ganze Breite des Baues einnehmende, 2,25 Meter breite und 5,42 Meter lange Kammer durch eine Quermauer abgesondert, während am anderen Ende des Baues eine gleich breite Kammer nur 3,4 Meter Länge erreicht. Es bleibt nämlich dort an der Nordwestecke noch eine von allen Seiten durch geschlossene Mauern abgegrenzte Kammer übrig, deren Erklärung große Schwierigkeiten zu machen scheint. Vielleicht hatte diese Kammer einen Zugang bloß von der jetzt fehlenden Dachterrasse her. Beide Seitenkammern stehen mit dem großen Binnenraum durch kleine Türöffnungen in Verbindung.

Der Haupteingang ist auf der Südseite angebracht, mit dem Ausblick auf den alten See. Eine kleinere Tür, an der Nordostecke des Baues befindlich, dient als Zugang zu der langen Seitenkammer. Die ursprüngliche Höhe dieses kleinen Heiligtumes hat etwas über sechs Meter betragen. Die Mauern sind senkrecht und bestehen mit Ausnahme des auf der Südostseite rechts vom Haupteingange gelegenen hohlen Teiles aus einfachen Lagen von großen, 1,2 Meter dicken Blöcken. Von diesen besitzen die meisten quadratische Außenflächen, mehrere messen 2,5 Meter im Geviert. Auf der Südseite, an der Hauptfront sind die größten Blöcke angebracht. Daselbst ist die Mauer 1,84 Meter dick, gegen 1,2 Meter an den drei anderen Seiten. In dem Teil der Südfront ist ein Gang von 0,5 Meter Breite befindlich, den man durch eine gleich schmale, niedere und unmittelbar an die Südostecke stoßende Türöffnung betritt. Dieser Gang, der die Länge der halben Südfront einnimmt, ist 8,25 Meter lang und kann, nach Analogie der in den Pylonen der ägyptischen Tempel angebrachten Treppen, nur dazu gedient haben, das Dach zu besteigen. Stufen sind nicht sichtbar, und der den Gang erfüllende Schutt ließ ebensowenig das Vorhandensein einer geneigten Rampe erkennen. Durch eine kleine, faustgroße, in der Mauer innerhalb der Türöffnung angebrachte Öffnung erhielt der Gang Licht. Die Art und Weise, in welcher die Blöcke ineinander gefügt sind, die Verwendung von genau ausgehauenen und abgepaßten einspringenden Winkeln, die dem Ganzen größere Festigkeit und Zusammenhalt geben sollten, liefern auch einen Hinweis auf die verhältnismäßig sehr alte Epoche, aus der dieses Heiligtum stammt. Eine vorspringende Reihe von Blöcken bildet am Grunde der Mauern eine Art Schwelle, während die oberste Steinlage derselben von einem Gesims gekrönt wurde, das aus einer Reihe von überhängenden, mit einfach geschweifter Hohlkehle versehenen Blöcken bestand. Von den letzteren sind indes nur wenige übriggeblieben.

Dem 1,2 Meter breiten Haupteingang gegenüber öffnet sich die mittelste der sieben Nischen, die 1,82 Meter breit ist, während die übrigen nur 1,35 Meter haben. Diese vorn ganz offenen Nischen oder Kapellen besitzen einen über dem Grunde der Innenflur erhöhten und etwas über die Nischenöffnung vorragenden Fußboden, dessen Meereshöhe durch ein von Major H. Brown später veranstaltetes sehr genaues Nivellement auf 35,5 Meter ermittelt wurde. Obgleich hier alle Linien die größte Einfachheit der Architektur verraten, überrascht nichtsdestoweniger die Art ihrer Ausführung durch tadellose Vollendung und Korrektheit. Ein breites, aus je einem Block bestehendes Gesims, mit stumpfer Hohlkehle versehen und nach unten zu mit einem einfachen Rundstab abgeschlossen, überragt eine jede der Nischenöffnungen, welche von gleichgestalteten Rundstäben auch an den Seiten eingefaßt sind, sodaß sie mit solchen schmalen Leisten wie eingerahmt erscheinen. An der Decke der Nischen gewahrt man runde Löcher in das Gestein eingemeißelt, zwei in der mittelsten, je eins in den seitlichen. Diese Löcher haben zur Aufnahme von Türzapfen gedient. Die Nischen waren nämlich ursprunglich durch Läden zu verschließen, und zwar hatte die Mittelnische eine zweiflügelige, während die übrigen einfache Türladen besaßen. Wir haben hier demnach ein siebenteiliges Sanktuarium vor uns, eine Anordnung, von der meines Wissens aus dem ägyptischen Altertum nur wenige Beispiele vorliegen. Die Analogie dieser Bauart meines Tempels mit einer ähnlichen, die sich in einem der berühmten Heiligtümer des alten Ägyptens dargeboten findet, liegt auf der Hand. Ich meine die sieben Kapellen oder Seitenkammern, die den hintersten von den hypostylen Sälen im Memnanium Setis I. zu Abydos abschließen. Diese Kapellen haben aber Größenverhältnisse, die den vorliegenden um das Vier- bis Fünffache überlegen sind. Sie unterscheiden sich außerdem von den Nischen meines Tempels durch ihre Abgeschlossenheit vermittels enger Türeingänge, sowie durch die in Gewölbeform rund ausgehauenen Deckensteine, welche letztere hier flach aufliegen.

Der große Tempel Setis I. zu Abydos war ausschließlich dem Totenkult seines Stifters gewidmet. In seinen sieben Kammern standen erwiesenermaßen einstmals Götterbilder aufrecht, in deren Anblick die Mumien der Familie vor ihrer Beisetzung geweiht und eingesegnet wurden. Es entsteht nun die Frage, ob das kleine Heiligtum am Mörissee etwa auch funerären Zwecken zu dienen hatte. Wo mag aber in diesem Falle die zugehörige Grabanlage befindlich gewesen sein? Die entlegene Stelle, fernab von den bewohnten Gegenden und jenseits des großen Wassers im Reiche des Todes auf der libyschen Westseite, spricht allerdings nicht gegen eine solche Annahme. Die alte Scherbenstelle in der Nähe, von der später die Rede sein soll, verrät eine nur kleine Anlage, und die hiesige Niederlassung beherbergte vielleicht nur das Wächterpersonal und die Priester.

Nach der Analogie von Abydos beansprucht die Annahme einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, daß auch hier in den Nischen Götterbilder aufgestellt gewesen sind. Die Nischen sind gegenwärtig zum großen Teil mit Schutt angefüllt, und die Wegräumung desselben würde gewiß mancherlei Dinge ans Licht treten lassen, die über die ursprüngliche Bestimmung des Heiligtums am Mörissee Aufschluß erteilen könnten. Nachgrabungen dürften bei dieser Lokalität noch nicht stattgefunden haben, wenn man von einer kleinen Schuttanhäufung vor dem Haupteingang absieht, die einige Versuche dieser Art zu verraten scheinen. Viele noch ungelöste Fragen knüpfen sich aber allein schon an dasjenige, was hier offen zutage liegt. Unter anderem harrt eine auf der Rückseite des Baues am Grunde der Mauer und an der der mittelsten Nische entsprechenden Stelle angebrachte Öffnung noch der Erklärung. Nach dem Urteil einiger Ägyptologen, die ich wegen der Altersfrage dieses Bauwerkes zu Rate zog, dürfte die völlige Ornament- und Inschriftlosigkeit desselben in Verbindung mit der Art und Weise, in welcher die Blöcke ineinander gefügt sind, zu den Merkmalen zu rechnen sein, die den Bauten der XIII. Dynastie eigen sind. Die Quaderfügung mit einspringenden Winkeln ist übrigens auch an Tempelbauten weit späterer Epochen wahrzunehmen. Das Material der Quaderblöcke ist ein hellbrauner oder grauer Sandstein, den ich bei meinem zweiten Besuche des Ortes im März 1886 als einer Art mit dem harten, feinkörnigen und kieselhaltigen Kalksandstein zu betrachten geneigt war, der sich als oberste Schicht am Steilabfall hinter dem Tempel und in einer Höhe von achtzig Metern über demselben vorfindet, wo derselbe einer fast zwanzig Meter mächtigen Schicht homogener aschgrauer Tonmergel als Schutzdecke dient. Leider hatte ich vergessen, Proben des Bausteines mitzunehmen, und so konnte die Identifizierung nicht mit völliger Sicherheit geschehen.

Die nächsten Umgebungen des kleinen Tempelbaues bieten verschiedene örtlichkeiten mit interessanten Überbleibseln aus den alten Epochen dar. Zunächst sieht man im Umkreise eine Menge größerer Blöcke gelagert, die ein äußerst verwittertes Aussehen haben und oft schwammartig durchlöchert erscheinen. Sie gehörten vielleicht einem später zerstörten Vorbau an. Auch finden sich daselbst mehrere Bruchstücke von Säulen, die ursprünglich 0,85 Meter im Durchschnitt hatten; nur wenige derselben aber geben noch die volle Rundung zu erkennen. Inmitten der über den Boden zerstreuten, oft gruppenweise gehäuften Steinblöcke überrascht die große Anzahl kleiner Trümmerstücke von jener schwarzen kristallinischen Gesteinart, deren Verwendung zu Bilddenkmälern verschiedener Art den Steinbrüchen im Uadi Hamamat, auf der Straße von Keneh nach Kosser, eine so große Berühmtheit in der altägyptischen Geschichte verliehen hat. Es ist dasselbe Gestein, das in den Sammlungen ägyptischer Altertümer gewöhnlich als Basalt aufgeführt wird, in Wirklichkeit aber meistens für eine Art feinkörnigen Diorits gelten kann. Solcher schwarzer und feinkörniger Gesteine beherbergen die ägyptischen Wüstentäler der östlichen Thebaide eine große Anzahl, und sie können sehr verschiedenen Mineralspezies angehören. Mit diesen schwarzen Sprengstücken beim Tempel am Mörisufer scheint es eine ganz besondere Bewandtnis zu haben. Ihr Vorhandensein läßt sich nicht etwa durch die Annahme einer Werkstätte erklären, wo die auf dem Wasserwege herbeigeschafften rohen Blöcke erst zugehauen wurden, beziehungsweise bereits vorhandene Bildwerke umgemodelt worden sind. Diese Trümmer bestehen nämlich nicht aus flachen, durch Meißel und Hammerschlag abgesprengten Scherben, wie sie als das Ergebnis von Bildhauerarbeit doch hätten geformt sein müssen, es sind vielmehr dicke kleine Stücke von ungefähr kubischer Gestalt und von ziemlich gleichartiger Größe. In bezug hierauf vermag ich nur eine Vermutung zu äußern, die zwar sehr gewagt erscheinen mag, die sich mir aber auch an anderen Trümmerstätten des alten Ägyptens, wo sich die gleiche Erscheinung wiederholte, immer wieder von neuem aufgedrängt hat. Ich stelle mir nämlich vor, daß diese so gleichmäßige Zerstückelung des harten Statuenmaterials einer der früheren Epochen des Christentums zuzuschreiben sei, jener Zeit, da man durch methodische Zerstörung von Götzenbildern ein Gott wohlgefälliges Werk zu verrichten glaubte. Sollten etwa jene Anachoreten, die hier in späterer Zeit gehaust, ihre Wüstenmuße in dieser Weise ausgenützt und sich die Zeit mit sorgfältiger Zerstückelung der Götzen vertrieben haben?

Wenn ich das Wort Anachoreten ausspreche, so möchte ich dasselbe im vorliegenden Falle nicht im rein kirchengeschichtlichen Sinne gebraucht haben, sondern verstehe darunter Wüstenbewohner von fraglicher Herkunft, zweifelhafter Aufenthaltsdauer und unerklärtem Daseinszweck; Anachoreten in des Wortes eigenster Bedeutung, ausrangierte Menschen. Beim Ersteigen des auf der Westseite gelegenen Bergvorsprungs nämlich, des südlichen von den zwei das weitgeöffnete Amphitheater flankierenden Burggebilden, stieß ich auf eine Menge von Tonscherben aller Art, von Amphoren, Krügen und Schalen, desgleichen auch auf Fayencescherben jener himmelblau glasierten Art, welche letztere in Ägypten für die Epoche der römischen Kaiserzeit so charakteristisch erscheint. Überhaupt gehörten alle hier angetroffenen Stücke offenbar einer weit späteren Zeit an als die an den Scherbenstellen unten beim Tempel aufgefundenen. Diese Scherben bedeckten den Abfall einer Schutthalde, die sich vom Fuße der burgartigen Mergelwand in die Tiefe zog in einer Höhe von ungefähr fünfzig Metern über dem Tempel. Es scheinen hier Höhlen vorhanden gewesen zu sein, die inzwischen verschwanden, seiner Zeit von den Leuten, die die Scherben hinterließen, bewohnt worden sind. Auch Überbleibsel von Schilfrohr fanden sich an der Stelle vor, von ehemaligen Hütten herrührend, vielleicht auch vom Feuerungsmaterial, das diesen Einsiedlern vom See her zugeführt worden war.

Eine größere Bedeutung für die Altertumskunde beanspruchen die zerstreuten Scherbenstellen, die sich im Umkreise des Tempels von der Südost- bis zur Südwestseite und im Abstande von ungefähr dreihundert Metern von demselben vorfinden. Es würde sich der Mühe verlohnen, diese Plätze einmal genauer abzusuchen. Bei meinen Besuchen war ich leider allzusehr von den geologischen Nachforschungen in Anspruch genommen, um den Altertümern hinreichende Zeit und Aufmerksamkeit widmen zu können. Die Scherben liegen, wie es den Anschein hat, nur oberflächlich, wie über den Erdboden ausgestreut. Das von Regengüssen in großen Zeitabständen hin und wieder durchfurchte Gelände weist in seinen Mergel-Anhäufungen keine Einlagerung von Scherben auf. Ich vermute, daß diese Reste als Inhalt älterer Schichten und Anhäufungen, die zerstört und weggeweht wurden, übriggeblieben sind. Ihr hohes Alter geht aus der Beschaffenheit der Bruchstücke zur Genüge hervor. Sie legen den höchsten Grad der Verwitterung durch Abrundung der Bruchflächen an den Tag, deren Gebilde von gebranntem Ton überhaupt fähig erscheinen. Ich fand hier Amphorenzapfen (die spitzen massiven Enden, mit denen man diese Gefäße aufrecht auf den Boden zu stecken vermochte) von zylindrischer Gestalt und Halsstücke, die, der Ringelung entbehrend, nicht als ein Erzeugnis der Drehscheibe zu betrachten waren, sondern offenbar aus freier Hand geformten Gefäßen angehört hatten. Andere kleine Krüge und Schalen zeigten dagegen regelmäßigere Drehformen. Die meisten Topf Scherben waren von roten Färbung, wenige hellere und gelbliche lagen dazwischen. Ich fand auch einige rote Glasperlen, ein alabasternes Antimonnäpfchen von sehr alter Form, eine Bronzenadel u. dgl. Flache gebrannte Ziegelplatten von unerklärter Verwendung, 33 Zentimeter lang und 4 Zentimeter dick, in Gestalt eines länglichen Vierecks, fanden sich an einer Stelle vor. Überall lagen zwischen den Scherben zerstreut Kieselsplitter, die von den hier an Ort und Stelle geformten Artefakten herrühren mußten, wie die Auffindung einiger großer Exemplare von Sägen bezw. Kratzern bewies.

Die Scherbenstellen befinden sich auf der letzten Schwelle der Geländesenkung, die mit allen Anzeichen einer alten Uferböschung plötzlich 10 Meter tief abfällt. Nach Major Brown beträgt die Seehöhe des »Scherbenhügels«, den er als die Reste einer alten Niederlassung bezeichnet, bei 24,5 Meter. Unterhalb der Böschungslinie fanden sich nirgends mehr Tonscherben vor. Der kleine Tempel selbst nimmt eine vorletzte Geländestufe des alten Ufers ein, die nach der Brownschen Angabe von 35,5 Metern für den Boden der Nischen im Tempel, bei 30 Meter zu liegen kommt. Die zwei langgezogenen Geländewellen und drei Senkungen, die zwischen dem alten Ufer und der Landanschwellung von Dimeh befindlich sind, waren vom Wasser des Sees bedeckt. Dimeh war auf einer in den damaligen See vorspringenden schmalen Halbinsel erbaut, in einer Meereshöhe von durchschnittlich 25 Metern.

Ich habe noch zweier Baureste in der Umgebung des Tempels zu erwähnen, die etwa als Zeugen für das alte Seeufer angerufen werden können. Wenn man in südlicher Richtung vom Tempel zur untersten Geländestufe hinabschreitet, so gelangt man in kurzer Zeit zu einem nach Süd gerichteten fünfundvierzig Schritte langen Mauerbau aus Bruchsteinen, die zum Teil hinuntergeglitten sind, da sich hier durch nachträgliche Erosion ein zehn Meter tiefer Riß in der Böschung gebildet hat. Diese Steinlagen sind auf der anderen westlichen und besser erhaltenen Seite von einer Bodenschwellung begleitet, die an einen Damm erinnert, dessen fester Bestandteil der Mauerbau dargestellt zu haben scheint. Ungefähr vierhundert Schritt in Südwest vom Tempel entfernt stößt man in gleichem Abstande wie der eben erwähnte auf einen zweiten Mauerbau, dessen Steinlagen, gleichfalls von einer dammartigen Schwellung umgeben, sich in der Richtung zum See geradlinig erstrecken. Die Steine liegen hier alle umgestürzt und in die Tiefe gerutscht infolge des Weichens der mergeligen Unterlage. Waren diese Mauern etwa Teile der Tempelumfassung oder dienten sie als Uferkais? Da wir im benachbarten Dimeh, das wahrscheinlich mit dem von Ptolemäus zitierten Bacchis identisch ist, einen ganz analogen Fall haben, wo ein Landungskai durch die Art des Mauerwerks nachzuweisen ist, so scheint mir die letzte von den beiden Vermutungen viel Wahrscheinlichkeit für sich zu haben. Der Kai von Dimeh hat an dem noch vollkommen erhaltenen oberen Ende seines Pflasterwegs eine Meereshöhe von 25,5 Metern und entspricht in der Weise vollkommen der untersten Stufe des Geländes bei meinem Tempel. Wer an Ort und Stelle gewesen ist, kann sich unmöglich der Erkenntnis verschließen, daß hier ein altes Ufer war. In den unter der Niveaulinie von 20 Metern gelegenen Niederungen finden sich die unwiderlegbarsten Beweise von dem Vorhandensein des Sees in Gestalt von Fischknochen und anderen Resten der heutigen Süßwassertiere, die nicht mit den Fossilen zu verwechseln sind, die den Mergelschichten aus geologischen Zeiten angehören, die allerdings an einigen Stellen im Bereiche des alten Seegrundes mit den rezenten Ablagerungen koinzidieren. Man wird nun einwenden können, daß das Vorhandensein eines Süßwassersees in neuerer, nichtgeologischer Zeit noch keinen Beweis für seine Identität mit einem See der historischen Epochen liefert; in diesem Falle aber haben wir die alten Bauten, und in Ermangelung der Inschriften reden die Steine. Seitdem man die genauen Niveauverhältnisse dieser Bauten kennt, läßt sich der Mörissee im Sinne Herodots nicht mehr hinwegleugnen, wie noch immer einige Ägyptologen gewillt zu sein scheinen, die es unterlassen haben, jene Örtlichkeiten aufzusuchen, und die geringe Mühe scheuten, sich durch die bekannt gewordenen Tatsachen belehren zu lassen.

Ich habe bisher nur zweier Örtlichkeiten Erwähnung getan, deren Niveaulage als Stützpunkt der alten Ausdehnung des Mörissees unabweislich erscheint. Eine dritte, für die Beweisführung nicht minder wichtige, ist in dem Kolosse des Amenemha II. geboten, dessen Überbleibsel bei Biahmu, sieben Kilometer in Nord von Medinet-el-Fajum, vorhanden sind, und die vor Jahren durch Professor Flinders Petrie, durch die Auffindung einiger Fragmente des Bildwerks, sowie durch genaue Lokalstudien in endgültiger Weise aufgeklärt worden sind, obgleich sich an ihnen keine Inschriften nachweisen ließen. Abgesehen von einigen Entstellungen, die der ehrwürdige Text des alten Vaters der Geschichte im Laufe der Jahrhunderte erfahren und die ihm selbst wohl schwerlich zur Last fallen mögen, haben hier die Herodotschen Angaben abermals eine überraschende Erklärung gefunden.

Die früheren Besucher der Stelle haben hier noch vor zwei Jahrhunderten deutliche Reste des Kolosses angetroffen, so z. B. der Erfurter Vansleb, der auf seiner zweiten Reise im Jahre 1672 den kopf- und armlosen Torso einer sitzenden Figur erblickte, die auf einem Piedestal von zehn Lagen großer Blöcke thronte und von den Eingeborenen »Statue des Pharao« genannt wurde. Die noch vorhandenen Überbleibsel des Piedestals sind heutigestags im Volksmunde als Kursi-el-faraòn, d. h. Thron des Pharao, bekannt, eine andere Bezeichnung, die hier gebräuchlich ist, lautet: es-sennem, d. h. die Statue. Die angeführten Namen, die bei dem ungelehrigen, jeder Beeinflussung durch literarische Tradition unzugänglichen Fellachenvolke Geltung haben, sind von mir lange vor Professor Flinders Petries erstem Besuch in Ägypten festgestellt worden, haben also nichts mit dem Ergebnis der neuen Forschung gemein. Den Ägyptologen mag das als ein Wink dienen, dem Werte der Volkstradition mehr Rechnung zu tragen in einem Lande wie Ägypten, dessen Überlieferungen eine ebenso bewunderungswürdige Beständigkeit an den Tag zu legen scheinen wie seine Bildwerke aus Granit und Sandstein.

Major Brown hat es sehr wahrscheinlich gemacht, daß das mittlere Niveau des Möris, wenn der See zwischen den Niveaulinien von 19,5 und 22,5 Metern erhalten wurde, sehr wohl allen denjenigen Anforderungen entsprechen konnte, die von den alten Ägyptern, wenn man das Zeugnis Herodots zu Recht bestehen läßt, an denselben zu Bewässerungszwecken gestellt worden sind. Sein mittlerer Wasserstand muß ungefähr bei 21 Meter gewesen sein, bestätigt durch die Lage von Dimeh, vom kleinen Tempel und von der des Amenemha-Kolosses. In dieser Wasserhöhe hatte er einem Umfang von 220 Kilometern und nahm einen Flächenraum von nahezu 2000 Quadratkilometern ein, während seine tiefsten Stellen 70 bis 75 Meter maßen. Der alte See umfaßte den weitaus größten Teil des Fajumer Beckens und ließ in der ältesten Zeit als bebautes Land nur einen kleinen Strich, den nachträglichen Arsinoitischen Gau, übrig, der durch Dämme gegen den höchsten Wasserstand, sobald dieser die Linie von 21 Metern überstieg, gesichert war. In der frühesten Epoche, die derjenigen der Bebauung und Urbarmachung des Seenlandes vorherging, muß der See jedes Jahr nach dem Zurücktreten der Nilschwelle in seinen flachen Teilen ausgedehnte Sümpfe dargestellt haben. Diese waren unweit der Eintrittstelle des Nilzuflusses, gleichsam an der Spitze einer Deltabildung gelegen und bezeichnen noch heute die Linie der bedeutendsten Landanschwellung im Umkreise von Medinet-el-Fajum ( 23 Meter). Dort setzten die ersten Urbarmacher des Landes, als welche die Hieroglyphentexte die Könige verschiedener Dynastien, von der VI. bis zur XII. reichend, bezeichnen, den Hebel ihrer Anstrengungen an und gewannen im Laufe der Zeit, durch eine poldermäßige Sicherstellung der dem Anbau neu erschlossenen Striche, ein Stück nach dem anderen, bis ein ganzer Nomos hergestellt war.

H. Brugsch und andere Ägyptologen haben den Nachweis erbracht, daß bereits in weit früheren Epochen der ägyptischen Geschichte als derjenigen der XII. Dynastie die Gegend des alten Krokodilopolis oder Schedd, wie die Gegend bei den Ägyptern hieß, bewohntes Land darstellte und Heiligtümer besaß. Vielleicht reicht die Entstehungszeit des so eigenartig geformten kleinen Tempels mit dem siebenteiligen Sanktuarium, dessen Beschreibung die vorliegenden Blätter gewidmet waren, bis in jene entfernten Epochen der ersten Dynastien.

Die früheren Hypothesen, die hinsichtlich der Ausdehnung des alten Möris, sowie mit Rücksicht auf den größeren oder geringeren Grad von Wahrscheinlichkeit, den die Angaben Herodots für sich haben, aufgestellt wurden, sind hinfällig geworden, seit wir, dank der englischen Wasserverwaltung in Ägypten, Einsicht in die genauen Niveaulinien erhielten, die alle in Betracht kommenden Punkte umfassen.

Gegen die Annahme eines fast das ganze Fajum umfassenden Möris hatte Linant hauptsächlich das Argument der alten Städte vorgebracht, die in tiefer Lage alsdann nicht hätten vorhanden gewesen sein können. Das hohe Altertum dieser zwischen 0 und 10 Meter Meereshöhe befindlichen Örtlichkeiten ist aber durch nichts verbürgt. Der unweit der Westecke des heutigen Sees gelegene, aus der römischen Epoche stammende Tempel Kasr-el-Kerun bei 4 Meter, die Scherbenstätte von Kasr-el-benat, die unerklärlich grabähnlichen Tumulusbauten von Medinet-Mahdi, dann die wegen ihres altägyptischen Namens, aber keineswegs durch nachgewiesene Altertümer in Betracht kommenden Dörfer Senhur, Senures etc. sind durchaus nicht so alten Ursprungs, daß sie als mit derjenigen Epoche zusammenfallend bezeichnet werden könnten, in welcher der Möris noch in dem von Herodot bezeichneten Sinne funktionierte. In späterer römischer Zeit hatte der See gewiß längst aufgehört, den letzterwähnten Bedingungen zu entsprechen; es ist sogar wahrscheinlich, daß schon zur Zeit des Claudius Ptolemäus nur noch der zum Birket-el-Kerun reduzierte abflußlose Möris, wenn auch in größerer Ausdehnung als heute, vorhanden war. Von dem Momente an, wo er abflußlos geworden, konnte in erster Linie nur noch das Bestreben in Betracht kommen, den Zufluß vom Nil her in der Gewalt zu haben und durch Austrocknenlassen des Sees möglichst viel neues Kulturland zu gewinnen. Wenn man den in Ägypten Geltung habenden Koeffizienten der Wasserverdunstung für das Jahr auf zwei Meter annimmt, so konnte der Spiegel des Sees schon innerhalb zwanzig Jahren von 21 Metern bis zum Niveau des Meeres herabsinken, und man braucht dabei noch gar nicht einmal das Phänomen des unterirdischen Wasserverlustes, dessen ich bei dem Salzgehalte des heutigen Wassers Erwähnung tat, in Betracht zu ziehen. Auch ergibt sich aus den ältesten Darstellungen der ptolemäischen Kartentradition für den Möris des zweiten Jahrhunderts nach Christo ein Bild, das eher an die vergrößerte Birka von heute als an den mit dem Nil kommunizierenden Bewässerungssee erinnert. Bacchis war gewiß die heute Dimeh genannte Stadtruine, und zu Dionisias gehörte wahrscheinlich der Tempel Kasr-el-Kerun. Das Argument der alten Städte, an dem noch neuerdings Maspero festhalten zu wollen scheint, spricht gerade in überzeugender Weise zugunsten eines großen Möris. Die ältesten Zeugen, wenn man von dem Obelisken des Usurtasen I. absehen will, der bei Ebgig in einer Höhe von angeblich (aber noch nicht durch Nivellement konstatierten) 18 Metern liegt und mit dessen Vorhandensein daselbst es noch eine eigene Bewandtnis haben muß, liegen alle innerhalb derjenigen Niveaulinien, welche man als alte Ufer eines zwischen 19,5 und 22,5 Metern gelegenen Wasserspiegels festhalten muß.

Es verlohnt nicht der Mühe, heute noch auf alle Mißverständnisse eingeben zu wollen, die seinerzeit infolge von irrigen Zifferangaben auf diesem Gebiete der alten Geographie vorgekommen sind. Etwas anderes aber ist es, wenn hervorragende Gelehrte, denen alle Mittel der Erkenntnis zu Gebote stehen, sich der vernünftigen Einsicht verschließen, wie es auch Maspero gelegentlich einer Besprechung des Brownschen Werkes getan, dem er indes großes Lob zollt. Professor Maspero, den die alten Uferzeugen wenig bekümmern, will nicht von der fixen Idee lassen, daß Herodot bei seinem Besuche des Gaues von Krokodilopolis ein Opfer Fremde führender und anführender Dragomane geworden sei. Herodot, so behauptet Maspero, hätte das Fajum im Zustande der »Überschwemmung« gesehen und für einen künstlichen See, der bei der Nilschwelle aushelfen sollte, dasjenige gehalten, was in Wirklichkeit nur die Wasserfläche eines der von Dämmen zurückgehaltenen Fajumer Bassins gewesen war. »Man darf nicht vergessen,« sagt Maspero an dieser Stelle, »daß Herodot vor allem bei den Dragomanen (sic) oder Sakristanen seine Erkundigungen einzog, und man kennt die hübschen Geschichten, die Dragomane und Sakristane ihm von den Denkmälern Memphis' und von den Königen, die sie erbauten, erzählt haben.« Die Vorstellung einer Fajumer Überschwemniungsperiode ist aber hier an dieser Stelle ein verräterisches Ding. Statt zu beweisen, daß Herodot sich hat anführen lassen, legt er nur Zeugnis ab von der gänzlichen Verkennung der Fajumer Verhältnisse. Im Fajum gibt es keine Überschwemmung, das Land bedarf gar keiner, da es dank seiner tiefen Lage das ganze Jahr hindurch durch den Josephs-Kanal Wasser aus dem Nil erhält und eine dauernde Kultur besitzt, die durch dreizehn Hauptkanäle und zahlreiche Nebengräben instand gehalten wird. Wie soll man sich auch in einer Provinz, deren Gefälle auf 18 Kilometer, vom Ende des Josephs-Kanals bis zum heutigen See, 67 Meter beträgt, eine zeitweilige Überschwemmung nach Art der im Niltal gebräuchlichen vermittels von Dämmen umgebener Bassins vorstellen? Zur Zeit, als man noch nicht in dem Grade der Schleusen Herr war wie heutigestags unter der englischen Verwaltung, war das Bedürfnis nach Sammelbecken, die unter allen Umständen Gewähr für einen regelmäßigen Wasserbezug leisten konnten, ein sehr fühlbares, aber nur wenige Distrikte eigneten sich zu einer solchen Anlage, die nur in bescheidenen Größenverhältnissen anzulegen gestattet war. Das größte Sammelbecken dieser Art, dasjenige von Mater Tari, war kaum zwei Quadratkilometer groß und wurde vor über 40 Jahren abgeschafft. Das einzige noch übrig bleibende Sammelbecken der Provinz ist das von Tamieh. Bassins von annähernder Größe der im Oberägyptischen vorhandenen, die auf einen Altmeister der Geschichte, wenn ihn die Dragomane und Sakristane der Perserzeit ins Gebet nahmen, allenfalls den Eindruck eines Mörissees hervorzurufen vermocht hätten, sind im Bereiche des heutigen Kulturlandes im Fajum einfach ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Afrikanisches Skizzenbuch