Afghanistan und sein Herrscher 1879

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 7. 1879
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Afghanistan, England, Kolonialmacht, Kolonialkrieg, Russland, Kabul, Eroberungspolitik,
Großbritannien und Russland stehen sich schon seit geraumer Zeit als eifersüchtige Nebenbuhler um die Oberherrschaft in Asien gegenüber. Das britische Reich in Indien, seit 150 Jahren auf Eroberung und Beseitigung der eingeborenen Dynastien gerichtet, breitet seine Grenzen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer weiter nach Norden und Osten aus. Russland hat den Schwerpunkt seiner Eroberungspolitik ebenfalls nach Osten und nach Hochasien verlegt, wo dermalen nur noch ein verhältnismäßig schmaler Landstrich das britische Indien und das russische Asien scheidet. Die Hauptgrenze bildet der Hindu-Kusch, ein mächtiges Alpenland mit ausgedehnten Ausläufern, zwischen und in welchen das gebirgige Afghanistan südwärts und die Khanate Bukhara, Hissar, Kholab u. s. w. nordwärts von dem Fluss Amu-Darya oder dem alten Oxus liegen. Afghanistan, wörtlich in persischer Sprache das „Land der Afghanen“, ist der nordöstliche Teil des vorderasiatischen Hochlandes Iran und greift mittelst seiner politischen Grenzen weit über die Naturgrenzen von Iran hinaus.

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Auf seinem gebirgigen Flächenraum von etwa 19.000 geogr. Quadratmeilen beherbergt es gegen fünf Millionen Einwohner, welche ein kriegerisches Mischvolk von den verschiedensten Stämmen sind und nomadisch von Viehzucht oder sesshaft von Ackerbau leben, sich zum Islam bekennen und sich durch hohen Wuchs, hervorragende Körperschönheit und mancherlei physische Vorzüge auszeichnen, denen aber trotz großer geistiger Begabung nur wenige sittlich rühmenswerte Eigenschaften gegenüberstehen. So eingekeilt zwischen Persien im Westen, das indo-britische Reich im Osten, Beludschistan im Süden und die mehr oder weniger schon von Russland beeinflussten obengenannten Khanate im Norden, bildet Afghanistan als ein gegen Westen sich abdachendes, auf mehreren Seiten von unwegsamen Hochgebirgen (bis zu 3.500 und 4.900 Meter Meereshöhe) begrenztes, teilweise nur durch wenige tief eingeschnittene Pässe zugängliches Land den Schlüssel zu Indien, wie es denn auch bis zur Auffindung des Seeweges ehedem den einzigen Landweg von Westen hernach Indien darbot. Auf diesem Wege zogen einst die auswandernden indischen Stämme (Zigeuner) gen Westen, und die erobernden Heere eines Alexander des Großen, Timur, Dschingiskhan, Nadir Schah u. s. w. nach Indien hernieder; die Karawanen, welche den Handel zwischen Morgenland und Abendland vermittelten, durchzogen das Land und seine Pässe trotz allen Schwierigkeiten und gründeten die Größe, den ehemaligen Glanz und die heutige Bedeutung jener vier großen Hauptstädte von Afghanistan: Kabul, Ghasna (Ghuznen), Kandahar und Herat, über welche einst die großen Handelsstraßen von Indien nach Persien und Turan führten. Afghanistan ist daher ein Land, dessen Besitz für die künftige politische Gestaltung von Asien ungemein wichtig ist und dessen Herrschaft Großbritannien und Russland sich eben deshalb gegenseitig nicht gönnen. Es ist daher schon seit einer Reihe von Jahren das Ziel britischer Eroberungsgelüste und der Schauplatz unglücklicher Eroberungskriege der Engländer gewesen, und die indisch-britische Geschichte der jüngsten vier Jahrzehnte hat manche blutige Seiten aufzuweisen, auf welchen die Kämpfe gegen Dost Mohammed Khan und seinen Sohn Akbar verzeichnet stehn.

Dost Mohammed Khan war es gelungen, durch kluge Politik und kühne Waffentaten mehrere der kleinen Herrscher in Afghanistan, namentlich die Fürsten von Kandahar und Herat, sich zu unterwerfen und alle Teile des Landes auf dem rechten Indus-Ufer wieder unter seiner Herrschaft zu vereinigen, als er am 9. Juni 1863 in Herat starb, nachdem er seinen Sohn Schir Ali zu seinem Nachfolger ernannt hatte. Schir Alis Brüder Afzul, Azim und Enim, sowie sein Oheim Azim Khan empörten sich gegen Schir Ali und bekämpften ihn mit wechselndem Glücke drei Jahre, so dass Schir Ali den Süden seines Reiches verlor und erst Ende 1868 Kabul zurückeroberte, Azim Khan bei Ghasna schlug und sich wieder in der Alleinherrschaft befestigte. Schir Ali, nun etwa 50 Jahre alt, hat aber auch seither wenig Ruhe und Frieden im Innern gehabt, obwohl er eifrig bemüht war, die Wunden des 4 ½ jährigen Bürgerkrieges zu heilen, die frühere Misswirtschaft in der Verwaltung zu beseitigen und gerecht, zu regieren. Die indo-britische Regierung hat ihm daher bislang Subsidien bezahlt und seinem Staate noch zu Anfang 1873 alle Länder südlich des Oxus bis Khodscha Salah, sowie die Städte westlich zwischen Balkh und
Herat zugeteilt und die Grenze von Afghanistan durch eine britisch-russische Kommission zu regeln versprochen. Der Emir Schir Ali, wie schon erwähnt gegenwärtig etwa 50 Jahre alt, ist, wie unser Porträt von ihm auf S. 145 zeigt, ein Mann von scharfgeschnittenen, energischen und intelligenten Gesichtszügen. Die natürliche Schlauheit seines Volkes verbindet sich in ihm mit einem brennenden Ehrgeize und einem stark ausgeprägten Nationalsinne, so dass er jedenfalls kein zu verachtender Gegner ist. Sein Sohn und designierter Thronfolger, Abdullah Khan, ist zum größten Schmerz seines Vaters am 17. August 1878 gestorben. Der älteste Sohn Jakub Khan hatte sich 1873 gegen seinen Vater empört und wurde deshalb bis vor Kurzem in strenger Haft gehalten.

Die Ursache zu dem gegenwärtigen Bruche zwischen Afghanistan und der indo-britischen Negierung hat die entschiedene Weigerung des Schir Ali Khan geliefert, einer Gesandtschaft Lord Lyttons, des Vizekönigs von Indien, welche mit starker militärischer Bedeckung unter Sir Neville Chamberlain durch den Khyberpass das afghanische Gebiet betreten wollte, den Eintritt in sein Land und die Reise an sein Hoflager in Kabul zu gestatten, während kurz zuvor einer russischen Gesandtschaft der Zutritt gestattet worden war. Für diese Beleidigung fordert England Genugtuung und trifft inzwischen alle Rüstungen, welche eventuell zu einem kriegerischen Vorgehen erforderlich sind.

Die mehrfach erwähnte Hauptstadt Kabul, von welcher wir S. 153 eine Ansicht geben, liegt am Fuße schöner Berge in fruchtbarer, reizender und wohlbewässerter Gegend am gleichnamigen Fluss und ist eine Stadt von etwa l ½ Stunden im Umfang, überragt vom Bala Hissar oder der Königsburg, die am Abhang einer Höhe von hohen Felsenmauern mit Türmen umschlossen und mit einem Unterwall umgeben ist. Die Königsburg umfasst mehrere königliche Paläste und Gärten und bildet mit den Kasernen u. s. w. eigentlich eine Stadt für sich mit etwa 5.000 Einwohnern. Die untere oder eigentliche Stadt ist nicht mit Mauern umgeben, sondern durch eine Reihe von Verschanzungen gedeckt, dagegen in ihrem Inneren durch Mauern und Tore in eine Anzahl gesonderter Quartiere zerlegt, mit engen, finsteren Straßen, schmalen, meist zwei- und dreistöckigen Häusern von Fachwerk und Lehm, ohne große Plätze, ohne schönere Bauten, denn selbst die Moscheen und öffentlichen Gebäude und die von Gärten und Höfen mit Springbrunnen umgebenen Paläste der Großen sind meistens von Fachwerk und Lehm aufgeführt. Die Stadt liegt 6.000 Fuß über dem Meer und hat furchtbar strenge Winter von anfangs Oktober bis Ende März; aber dennoch kennt man weder Glasfenster noch Öfen, und die 60—65.000 Einwohner sind verhältnismäßig arm, weil sie nur wenig Gewerbsamkeit haben und der Haupterwerb der Stadt im Transithandel besteht, der aber vorwiegend in den Händen der Juden, Armenier und Banianen (indische Kaufleute) ist.

Afghanistan - Schir Ali, Emir von Kabul

Afghanistan - Schir Ali, Emir von Kabul

Afghanistan - Ansicht von Kabul, der Hauptstadt

Afghanistan - Ansicht von Kabul, der Hauptstadt