I. Aberglauben im allgemeinen und seine Entstehung.

Wenn man definieren will, was ein Aberglaube ist, so stößt man dabei auf erhebliche Schwierigkeiten. Zwar erscheint die Antwort zunächst leicht: ein Aberglaube ist ein irriger, ein falscher Glaube. Aber wenn man fragt, was ein irriger oder ein falscher Glaube sei, so bekommt man sofort sehr verschiedene Antworten. Der eine wird etwas für einen falschen Glauben halten, was der andere für einen guten und echten Glauben erklärt. In Wirklichkeit gibt es nichts so Törichtes oder so offenbar unrichtiges, was nicht irgendwo in der Welt seinen Vertreter fände. Man braucht nur einen beliebig verbreiteten Aberglauben herauszugreifen, z. B. den, dass mit dem Vollmond das Wetter wechsle. Man kann aufs Genaueste nachweisen, dass der Vollmond mit dem Wetter absolut nichts zu tun hat, und doch gibt es unendlich viele Menschen, die so fest daran glauben, dass sie nicht von dem Gegenteil zu überzeugen sind. Man hat sich deshalb eine bestimmte Definition des Aberglaubens zurechtgelegt und gesagt: Aberglaube ist der Glaube an übernatürliche Folgen natürlicher Dinge oder an übernatürliche Ursachen natürlicher Ereignisse. Damit ist aber auch wenig gesagt, denn es kommt immer wieder auf die Frage heraus, was natürlich und was übernatürlich ist, und man wird im einzelnen Falle immer wieder auf den Glauben oder den Unglauben der einzelnen Menschen angewiesen sein. Dass überhaupt irgendetwas geglaubt oder nicht geglaubt wird, das ist der springende Punkt der ganzen Frage, denn wo man nicht glaubt, da kann es auch keinen Aberglauben geben. Wenn ich aber etwas beweisen kann, so brauche ich nicht mehr zu glauben, denn dann weiß ich, und die Gebiete, wo man weiß und nicht glaubt, nennt man Wissenschaften.

Man wird daher folgerichtig schließen dürfen, dass, wenn es in Wissenschaften keinen Glauben gibt, es bei ihnen auch keinen Aberglauben geben kann. Das ist aber in Wirklichkeit deswegen nicht der Fall, weil es nur wenige Wissenschaften gibt, in denen alles auf sicheren Beweisen beruht und der Glaube vollständig fehlt. Solche Wissenschaften bezeichnet man als exakte Wissenschaften gegenüber den anderen, die als empirische, Erfahrungswissenschaften bezeichnet werden. Ganz streng genommen gibt es nur eine einzige absolut exakte Wissenschaft, das ist die Mathematik. Die Mathematik baut sich auf den einfachsten Grundsätzen durch festgesetzte absolut sichere Schlüsse und Beweise auf. In ihr gibt es nur Wissen, keinen Glauben und deswegen auch keinen Aberglauben.


Der Mathematik sehr nahe steht die Physik, die angewandte Mathematik. In der Physik kommt zu den mathematischen Beweisen noch das Experiment, der Versuch hinzu. Der Versuch unterliegt der Beobachtung und deswegen auch der Täuschung, aber der Versuch in der Physik kann durch die mathematische Berechnung auf seine Richtigkeit geprüft werden. Und wenn der Versuch mit der Berechnung nicht übereinstimmt, so kann man daraus erkennen, dass der Versuch unrichtig war. Daher finden wir auch in der Physik heutzutage keinen Aberglauben mehr.

Der Physik wiederum sehr nahe steht die Mechanik, und auch diese entbehrt heutzutage des Aberglaubens. Aber es ist noch nicht lange her, dass es einen bekannten mechanischen Aberglauben gab, das war das sogenannte Perpetuum mobile. Unter Perpetuum mobile verstand man eine Maschine, die ohne menschliches Zutun sich selbständig weiter bewegt und imstande ist, andere Bewegung zu erzeugen, d. h. eine Maschine, die ihre Kraft immer wieder aus sich selbst nimmt. Es haben sich unzählige Menschen bemüht, dieses Perpetuum mobile zu erfinden, und viele haben darüber ihren Verstand und ihr Geld verloren, obwohl die Physik längst nachgewiesen hatte, dass das Perpetuum mobile eine Unmöglichkeit ist. Ja, heute finden sich gelegentlich noch Menschen, die versuchen, das Perpetuum mobile zu erfinden. Aber man betrachtete dieselben als geistesgestört oder mindestens als verschroben und sie finden daher keine Beachtung mehr.

Auch die Astronomie ist eine Wissenschaft, die sich auf der Mathematik aufbaut. Aber in der Astronomie wird schon vieles durch Beobachtungen festgestellt, und in solchen Beobachtungen kann man sich täuschen. So gibt es z. B. Astronomen, die glauben, dass auf dem Mars ebenso wie auf der Erde lebende Wesen, vielleicht sogar Menschen existieren. Ein Beweis dafür fehlt natürlich vollständig, und es kann das ebenso gut ein richtiger wie ein irriger Glaube sein.

In früheren Jahrhunderten gab es eine Art von Astronomen, die den besonderen Namen Astrologen führten und die sich damit beschäftigten, die Sterne zu den Geschicken, zu dem Leben und der Gesundheit der Menschen in Beziehung zu bringen. Man nahm an, dass jeder Mensch einen Stern besitze, dass aus der Stellung dieses Sterns bei seiner Geburt das Schicksal des Menschen vorhergesagt werden könnte, und dass dann der Mensch imstande sei, etwa vorher gesagtes Unheil, Krankheiten oder seinen frühzeitigen Tod von sich abzuwenden. Die Astrologen bestimmten bei der Geburt eines Menschen den betr. Stern und seine Stellung in einem Sternenbild. Man nannte das, einem Menschen das Horoskop stellen. Man wird vielleicht denken, dass ein solcher Aberglaube heutzutage vollständig verschwunden sei, aber in Wirklichkeit ist das nicht der Fall, sondern er lebt heutzutage noch in verschiedener Form weiter. Er wird freilich nicht mehr von besonderen Astrologen geübt, aber wohl von vielen Hebammen. Freilich ist mir hier aus Berlin kein Fall bekannt, dass eine Hebamme dem neugeborenen Kinde das Horoskop gestellt und ihm sein Schicksal verkündet habe. Aber von verschiedenen Gegenden Deutschlands sind solche Fälle bekannt geworden, und in manchen Gegenden ist das sogar allgemein verbreitet.

Man sieht also, wie die Aberglauben des Mittelalters sich in gewisser Form noch bis heute erhalten haben, und wir werden das im Verlauf unserer Besprechung noch wiederholt sehen, wie alte Aberglauben des Mittelalters und der Vorzeit sich in gleicher oder auch in veränderter Form bis in die Jetztzeit verfolgen lassen.

Auch die Chemie rechnet man zu den exakten Wissenschaften, aber auch hier hat es lange Zeit viel Aberglauben gegeben. Speziell waren die sogenannten Alchimisten, diejenigen Menschen, die sich damit beschäftigten, auf chemischem Wege Gold herzustellen oder sogar einen Menschen, den Homunkulus zu machen, sehr verbreitet. Heute freilich gibt es solche Alchimisten nicht mehr, aber die Chemie wird noch vielfach von gewissen Leuten benutzt, um den Aberglauben beim Volke zu erregen und zu erhalten, indem sie chemische Mittel anwenden, die in breiten Volksschichten nicht bekannt sind, und dieselben als Wunder oder Zauberei ausgeben. In Wirklichkeit aber handelt es sich um ganz natürliche Dinge, die man in jedem Laboratorium ohne weiteres erzeugen kann.

Auch die Elektrizität ist in dieser Beziehung vielfach benutzt worden, um Aberglauben zu unterstützen und zu erzeugen, selbst schon in einer Zeit, wo man noch nicht wusste, was Elektrizität sei, und als noch gar nicht der Name Elektrizität existierte.

Wie steht es nun mit der Medizin? Die Medizin gehört nicht zu den exakten Wissenschaften, obwohl auch manche Zweige derselben mit mathematisch, physikalischen Methoden und mit chemischen Methoden bearbeitet werden. In diesen Zweigen hat denn auch in der Tat der Aberglaube, wenigstens bei den Wissenden, aufgehört. Aber der größte Teil der medizinischen Wissenschaft beruht nicht auf solchen strengen Beweisen, sondern auf Beobachtungen. Die Beobachtung unterliegt aber wieder dem menschlichen Irrtum. Der eine beobachtet anders als der andere. Manche Menschen haben besonderes Talent, richtig zu beobachten, und andere wieder ein ausgesprochenes Geschick, falsch zu beobachten. Und so kommt es, dass von jeher in der Medizin häufig falsche Anschauungen verbreitet waren, die sich dann späterhin zu einem wahren Aberglauben entwickelten. Wenn aber solche Aberglauben einmal von den Menschen aufgenommen sind, so bleiben sie haften, selbst wenn die Wissenschaft ihre Unrichtigkeit schon lange erkannt hat, und so kommt es, dass heute noch vielfach falsche Anschauungen über medizinische Dinge in Laienkreisen verbreitet sind, die geradezu zum Aberglauben geworden sind und die ihren Ursprung haben in den medizinischen Anschauungen des Altertums und des Mittelalters.

Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist die medizinische Beobachtung durch Erfindung zahlreicher zweckmäßiger Instrumente und Untersuchungsmethoden gesichert worden, z. B. durch das Mikroskop, die Auskultation und Perkussion (das ist das Abhören und Beklopfen der Kranken), durch Instrumente, die es uns ermöglichen, in den Körper hineinzusehen, z. B. in das Auge, in das Ohr, in den Magen, in die Harnblase usw. So können wir denn heutzutage auch von sicheren Beobachtungen sprechen, die einem mathematischen Beweise gleichkommen, und die von jedem Arzt, auch einem weniger begabten, ausgeführt und erlernt werden können. Aber immer setzt das voraus, dass die Beobachtung angestellt wird von einem in der Medizin Erfahrenen.

Bei der medizinischen Wissenschaft kommt aber noch etwas anderes hinzu, was geeignet ist, falsche Anschauungen und Aberglauben zu verbreiten. Das ist die vielfache Beschäftigung von Laien mit der Medizin. Es gibt wohl kein Gebiet, vielleicht mit Ausnahme der Politik, auf dem jeder, auch derjenige, der absolut nichts davon versteht, sich mehr zu einem Urteil berechtigt fühlt, als das Gebiet der Medizin. Es ist ja auch nur natürlich, dass alle Menschen eine besondere Neigung haben, sich mit medizinischen Dingen zu beschäftigen. Was läge dem Menschen auch näher, als die Beschäftigung mit sich selbst, mit seinem eigenen Körper, mit seinem Wohl- oder Übelbefinden, Gesundheit oder Krankheit, Leben oder Tod. Und so kommt es, dass jeder an sich und an anderen beobachtet, dass er seine Beobachtungen erzählt und sich Beobachtungen von anderen erzählen lässt. Tiefe Beobachtungen aber von Menschen, die nicht der Medizin kundig sind und die man gewöhnlich als Laien bezeichnet, müssen natürlicherweise ganz unsicher sein. Es ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, dass auch ein Laie richtige Beobachtungen macht, aber er wird den wirklichen Zusammenhang und die Schlüsse, die aus den Beobachtungen zu ziehen sind, nicht erkennen können, ohne vollkommen medizinisch gebildet zu sein.

Dazu kommt noch etwas anderes. Wenn ein Mensch eine Beobachtung macht und dieselbe in einer gewissen Richtung deutet, und er macht nun wieder eine gleiche Beobachtung, so bleibt ihm diese unauslöschlich im Gedächtnis, während er Beobachtungen, die das Gegenteil zeigen, vergisst. Diese ganz allgemeine Eigenschaft der Menschen, die einen Dinge zu behalten und die anderen zu vergessen, ist die Ursache zahllosen Aberglaubens. Ich komme auf das vorher schon erwähnte Beispiel zurück von dem Einfluss des Vollmondes auf den Wetterwechsel. Man beobachtet im Jahre vielleicht dreimal, dass mit dem Vollmond das Wetter wechselt, die übrigen Male aber, dass das Wetter zu dieser Zeit sich nicht ändert. Die drei Mal wird man behalten und als Beweis seiner falschen Anschauung auffassen, die übrigen Male aber vergessen. Wenn man einmal wirklich Buch führt und sich bei jedem Vollmond notiert, wie das Wetter war und wie es nach dem Vollmond sich gestaltet, so wird man schon durch diese Erfahrung zu dem Schlusse kommen, dass der Vollmond einen Einfluss auf das Wetter nicht hat. Es passiert wohl jedem einmal, dass er an eine Persönlichkeit denkt oder von ihr spricht und dass dieselbe bald darauf in die Erscheinung tritt, wie der Wolf in der Fabel. Oder es geschieht, dass man an irgendein mögliches Ereignis denkt, an den Tod eines Menschen oder ein Unglück und bald darauf ereignet sich dieser Tod oder das Unglück wirklich. Dann gewinnt man den Aberglauben, dass man das geahnt habe oder dass der Mensch durch das Denken an ihn herbeigeschafft sei. In Wirklichkeit aber liegt die Sache anders. Man denkt sehr häufig an Menschen oder spricht von ihnen, ohne dass sie dann in die Erscheinung treten. Aber das vergisst man bald wieder, während man es als etwas höchst Merkwürdiges betrachtet, wenn der Mensch, von dem man gesprochen hat, nun wirklich kommt, oder wenn das Unglück, das man sich eingebildet hat, tatsächlich geschieht. So entstehen auch viele andere Aberglauben, z. B. dass man Unglück hat, wenn man einem alten Weib begegnet oder eine Katze über den Weg läuft usw. Trifft das wirklich einmal zu, so vergisst man es nie wieder und sieht seinen Aberglauben bekräftigt, ohne zu bedenken, dass dasselbe unendlich häufig nicht zutrifft.

So geht es auch mit vielen anderen Dingen und speziell auch in der Wissenschaft. Ich werde später noch Gelegenheit haben, eine große Reihe von Aberglauben anzuführen, die auf diese Weise entstanden sind.

Aus allen diesen Gründen ist es gekommen, dass es kein Wissensgebiet gibt, in dem so viel Aberglauben herrscht, wie in der Medizin. Ja, nicht bloß das, man kann auch umgekehrt sagen, die größte Menge der Aberglauben stehen in irgendeiner Beziehung zum Leben und Tod, zu Gesundheit und Krankheit der Menschen.

Es ist von Interesse, zu verfolgen, wo solche Aberglauben herstammen und wie sie ursprünglich entstanden sind. Bei allen ist das natürlich nicht mehr möglich, aber bei vielen kann man das sehr wohl verfolgen. Man wird dabei finden, dass manche Aberglauben aus der grausten Vorzeit stammen und in den ersten Überlieferungen, die wir besitzen, enthalten sind. So sind manche Aberglauben, die sich im deutschen Volke verbreitet finden, schon in den ältesten indischen Schriften, die mehrere tausend Jahre vor Christi erschienen sind, zu lesen. Andere Aberglauben sind nachweislich erst mit der christlichen Religion und durch diese entstanden. Wieder andere stammen aus den vorchristlichen Religionen, und gerade in Deutschland gibt es eine große Menge von Aberglauben, die auf die altgermanische Götterlehre zurückzuführen sind. Mancher Aberglaube hat sich unverändert aus der vorchristlichen germanischen Zeit bis auf den heutigen Tag erhalten. Wieder andere Aberglauben stammen aus dem Mittelalter und noch andere aus der neueren Zeit. Ja, man kann sagen, es werden fortwährend neue Aberglauben gebildet, und jede falsche Anschauung oder jede missverstandene Vorstellung kann sich zu einem Aberglauben verdichten.

Es ist natürlich nicht möglich, hier auch nur annähernd eine vollständige Zusammenstellung aller Aberglauben der Medizin zu veranstalten. Es würde das weit über den Zweck dieser Schrift hinausgehen und etliche Bücher zu füllen imstande sein. Vielmehr muss ich mich darauf beschränken, einige charakteristische Beispiele herauszugreifen und deren Bedeutung zu erläutern.

Einer der verbreitesten Aberglauben ist derjenige, der sich an die Zahl 13 knüpft. Man hat angenommen, dass dieser Aberglaube von Christus und den Jüngern herstammt, und da dieselben zusammen das Abendmahl feierten und einer von ihnen starb - das war natürlich nicht Christus, sondern Judas Ischariot - so nahm man an, dass, wenn 13 Menschen bei Tische sitzen einer von ihnen sterben müsse. Ob die Erklärung der Herkunft dieses Aberglaubens ganz zutreffend ist, ist nicht ganz sicher. Manche wollen annehmen, dass die Zahl 13 schon lange vor Christus als eine besonders ungünstige Zahl aufgefasst wurde, und man leitete das davon her, dass die Zahl als solche nur durch 1 teilbar ist und unmittelbar hinter der durch 1, 2, 3, 4 und 6 teilbaren 12 kommt. Dadurch erschien die Zahl 13 unbequem und daraus entwickelte sich dann nachher der Begriff der bösen Zahl. Nun ist man aber in dem Aberglauben weit darüber hinausgegangen, denselben nur auf das bei Tisch sitzen zu beziehen, sondern überall, wo die Zahl auftritt, wird sie als eine besondere Unglückszahl, die für den Menschen den Tod bedeutet, angesehen. Wie verbreitet eine solche Anschauung ist, geht daraus hervor, dass viele Menschen nicht in einem Hause mit der Straßennummer 13 wohnen wollen, oder nicht in einem Hotelzimmer mit der Nummer 13, oder dass sie nicht am 13. des Monats irgendetwas Wichtiges unternehmen wollen. Die Verbreitung dieses Aberglaubens ist so groß, dass sogar von Behörden darauf Rücksicht genommen wird. Und so wird man in Krankenhäusern, die aus einzelnen Pavillons bestehen, vergebens nach dem Pavillon 13 suchen, da viele Patienten eine Scheu haben würden, sich in einem solchen Pavillon 13 verpflegen zu lassen.

Auch die Zahl 7 gilt als böse Zahl, und zwar schon seit dem ältesten Altertum. Sie tritt uns überall als besonders ungünstig in der alten Medizin und auch in dem Volksglauben entgegen. Aber auf den Teufel wurde sie erst im Jahre 1562 angewendet, und von einer Frau als böse 7 war zum ersten Male im Jahre 1662 die Rede. Die Entstehung dieses Aberglaubens ist direkt auf medizinische Beobachtung zurückzuführen. Es gibt eine Krankheit, die Lungenentzündung, bei der am 7. Tage das Fieber plötzlich abfällt. An diesem Tage ist der Kranke besonders gefährdet, und es ist Sache des Arztes und der Pflege eines solchen Patienten, auf diesen Tag sein besonderes Augenmerk zu richten, damit der Patient an diesem 7. Tage nicht stirbt. Das ist nicht ein Aberglaube, sondern eine Tatsache. Diese Lungenentzündung war nun auch schon im Altertum eine weit verbreitete Krankheit, und die alten Ärzte, die vielfach sehr gut und genau beobachteten, mussten auf diesen 7. Tag, an dem ihnen viele Patienten starben, besonders aufmerksam werden. So ist denn allmählich die Zahl 7 auch ganz allgemein eine Zahl von böser Bedeutung geworden, und in dem Aberglauben kommt sie auch häufig doppelt vor als 77 und wird hier besonders auf Fieber angewendet. Die Sprüche, die der Aberglaube erfunden hat, um Fieber zu vertreiben, und mit denen sich die Menschen an Kobolde und Bäume, an Gewässer oder sonstige Gegenstände wendeten und heutzutage noch häufig wenden, bitten immer um die Beseitigung der 77 Fieber. Von geringerer Bedeutung sind andere Zahlen, die als unglücklich bezeichnet werden, zuweilen aber auch als glücklich, z. B. die Drei, die Zehn und die Fünfzehn.

Es ist bekannt, dass in dem Aberglauben auch der Freitag eine besondere Rolle spielt. Auch hier hat man es nun ganz ausgesprochen mit einem deutschen Aberglauben zu tun, der auf die deutsche Mythologie zurückgreift, denn der Freitag ist der Tag der Freya, und die Freya spielt in dem Volksaberglauben heute noch eine große Rolle. In vielen Gegenden tritt sie uns auch jetzt noch entgegen als die Frau Frigg, oder Frau Holda oder auch als die Frau Holle und spielt in Märchen und Sagen eine große Rolle. Wem sie erscheint, der wird krank oder stirbt. In manchen Gegenden findet man diesen Aberglauben übergegangen auf das Erscheinen der Weißen Frau oder der Ahnfrau, und es ist bekannt, dass das Erscheinen dieser Weißen Frau auch in der Sage unseres Hohenzollerngeschlechtes eine Rolle gespielt hat.

Diese hier angeführten Aberglauben, die sich noch durch zahlreiche Beispiele vermehren ließen, haben nun alle etwas Gemeinsames, das auch vielen anderen zukommt, nämlich, dass sie vorher hinweisen auf Unglück, Krankheit und Tod, d. h. sie stehen in naher Beziehung zu der auch heute noch sehr verbreiteten Methode des Wahrsagens. Es gibt noch heute eine große Zahl solcher Aberglauben, so z. B. wenn der Waldkauz über einem Hause schreit, so wird darin einer sterben. Oder wenn Platzregen oder Sternschnuppen auftreten, Kometen oder Nordlichter am Himmel erscheinen, so folgt dem Tod, Krankheit, in früheren Jahrhunderten Pest oder auch Misswachs. Damit ist dann auch gleichzeitig verbunden, was man zur Vermeidung dieser üblen Folgen tun kann, und deswegen findet man, dass es in manchen Gegenden Sitte ist, einen Waldkauz oder eine Fledermaus über die Tür zu nageln, um Krankheit und Unglück zu verhüten.

Es drückt sich darin der Aberglaube der Signaturen aus, auf dessen Erklärung ich später noch näher eingehen werde, und von dem wir sehen werden, dass er schließlich zur Homokopathie führte.

Sehr verbreitet ist auch heute noch der Aberglaube, der sich an das Hufeisen knüpft. Ein Hufeisen, das man auf der Straße findet, darf man nicht liegen lassen, sondern muss es mit nach Hause bringen, und man muss es dann, um Unglück und Krankheit von dem Hause fernzuhalten, in der Weise vor die Tür nageln, dass die geschlossene Seite nach außen steht. In diesem Aberglauben sind offenbar zwei Erinnerungen miteinander verknüpft. Die eine geht zurück auf die Legende von Christus, der das Hufeisen aufhob, das seine Jünger liegen gelassen hatten, dasselbe nachher verkaufte und für den Erlös Kirschen erstand, die er, als seine Jünger vom Durst gequält waren, unter dieselben verteilte. Das Annageln vor die Tür hängt aber unzweifelhaft mit dem Teufel zusammen, und die bestimmte Richtung soll bedeuten, dass der Teufel aus dem Hause herausgeht und nicht wieder hinein kann. Dahin gehört dann auch die Sage von dem Drudenfuß. Der Drudenfuß ist eine sternförmige Zeichnung, die in bestimmter Weise auf der Schwelle einer Tür angebracht wird, und zwar muss die Zeichnung etwas schief ausfallen, damit der Teufel nicht hinein kann. Legt man den Drudenfuß so an, dass die Öffnung nach außen fällt, so kann der Teufel wohl in das Haus hinein und dort Unglück anrichten, aber er kann nicht wieder heraus, und man muss dann erst den Drudenfuß entfernen. Dieser Aberglaube ist in so hübscher Weise in Goethes Faust verarbeitet.

An solche und ähnliche Aberglauben schließt sich nun das echte Wahrsagen und das Kartenlegen ohne weiteres an. Das Wahrsagen ist so alt wie das Menschengeschlecht überhaupt und besteht heute noch in ungeschwächtem Maße fort. Ja selbst in Berlin, der sogenannten Stadt der Intelligenz, gibt es noch eine ganze Anzahl von Wahrsagerinnen und Kartenlegerinnen, die sich mit diesem Berufe ein reichliches Auskommen verschaffen. Merkwürdigerweise haben sich von jeher die Frauen mit dieser sogenannten Kunst beschäftigt, und es geschieht nur selten, dass Männer wahrsagen. In früherer, besonders in vorchristlicher Zeit war das häufiger der Fall und kommt auch jetzt noch in nichtchristlichen Ländern vor. Nun hat das Wahrsagen und Kartenlegen freilich eine nicht sehr enge Beziehung zur Medizin, wenn auch gelegentlich Krankheiten oder die Heilung von Krankheiten, die bereits bestehen, vorausgesagt werden. Gewöhnlich bezieht es sich aber auf andere menschliche Dinge, und zwar fast immer auf angenehme. Nur ausnahmsweise sagen solche Wahrsagerinnen den Tod voraus. Sie haben ja überhaupt das Bestreben, ihren Klienten nur Angenehmes mitzuteilen, denn es will jeder für das Geld, das er diesen Frauen bezahlen muss, Angenehmes und nicht Unangenehmes hören. Das Wahrsagen geschieht heutzutage hauptsächlich aus Karten oder aus den Linien der Hand. Der Aberglaube, dass man aus diesen letzteren auf den Charakter der Menschen und auf deren gute oder schlechte Konstitution schließen könne, ist auch heutzutage noch ein recht verbreiteter. In früheren Zeiten wurde aber aus allen möglichen Dingen gewahrsagt, und im Altertum gab es offizielle Wahrsager, z. B. die Auguren im Römischen Reich, die aus dem Blute der Opfertiere und vielem anderem die Zukunft kündeten. Dass diese oft selbst nicht an ihre Aussage glaubten, geht aus vielen historischen Berichten hervor und auch aus dem bekannten Sprichwort „es lachen die Auguren“. Das soll bedeuten, dass die Wahrsager, wenn sie unter sich sind, sich über ihre eigene Kunst lustig machen.

Die Ärzte kommen gar nicht selten in die Lage, eine Art von Wahrsagung auszuüben, d. h. sie stellen aus wissenschaftlichen Gründen und Beobachtungen die sogenannte Prognose einer Krankheit, sie sagen voraus, ob die Krankheit in Heilung übergehen wird oder nicht, und ob diese Heilung bald ober erst später eintreten wird. Es gibt eine alte und sehr hübsche Sage, dass ein Arzt deswegen so berühmt wurde, weil er immer eine richtige Prognose stellte, und er war dazu gelangt durch einen Pakt mit dem Tod. Wenn der Patient sterben musste, so erschien ihm der Tod am Kopfende des Patienten, wenn aber der Patient am Leben blieb und bald gesund wurde, so erschien ihm der Tod am Fußende. Dadurch, dass er immer das Richtige voraussagen konnte, so erzählt die Sage, wurde er der berühmteste Arzt seiner Zeit.

Hierher gehört auch die bekannte Sage von der Alraunwurzel. Alraune sind die Kobolde der alten deutschen Sage, und es kommt das Wort von Nuna, das Geheimnis, oder der Geheimnisse kundig. Die Wurzel selbst stammt von einer im südlichen Tirol und im Orient wachsenden Pflanze (Madragora) und hat eine gewisse menschenähnliche Gestalt, die allerdings meist erst in betrügerischer Absicht durch künstliches Schnitzen anschaulich gemacht wird. Die Sage berichtet, dass, wenn man sie ausreißt, sie so laut schreit, dass der Mensch, der dabei steht, taub wird. Man bindet deswegen die Alraunwurzel an einen schwarzen Hund und lässt sie durch diesen ausreißen, wodurch der Hund jedes Mal stirbt. Diese Alraunwurzel wird dann für teures Geld an solche, die diesem Aberglauben anhängen, verkauft, und die natürlich in jedem Falle die Betrogenen sind. Aus der Farbe der Alraunwurzel und aus sonstiger Beschaffenheit derselben, die durch die Feuchtigkeit der Luft gelegentlich wechselt, kann man dann sehen, ob man gesund bleiben oder krank werden, ob man noch lange leben oder bald sterben wird usw. Auch sollen Krankheiten durch Bestreichen mit der Alraunwurzel geheilt und Geburten erleichtert werden.

In allen diesen und ähnlichen Aberglauben findet man überall ein Bedürfnis des Menschen, nicht nur seinen Tod und seine Krankheit vorher zu wissen, sondern auch die Ursachen der Krankheit zu erforschen, und je weniger man von einer Sache weiß, umso mehr hat man eine Neigung, sie auf irgendwelche beliebigen äußeren Umstände zurückzuführen. Daher kommt es, dass der Aberglaube bei eintretender Krankheit dieselbe mit Vorliebe auf die Einwirkung irgendwelcher besonderen äußeren Umstände oder auf die Einwirkung von Menschen und Tieren zurückführte. Eine große Menge solcher Aberglauben lassen ihren Ursprung deutlich erkennen, und zuweilen liegt denselben nichts, als der oberflächlichste Vergleich zugrunde. So z. B. ist es sehr verbreitet, dass man einen Maulwurf, der bekanntlich sehr schlecht sieht, nicht ansehen darf, ohne blind zu werden. Dasselbe wird vom Frettchen erzählt, und es gilt als besonders gefährlich für die Gesundheit, wenn man von dem Frettchen angehaucht wird. In früherer Zeit knüpfte sich dieser Glaube der Krankheitserscheinung bei Menschen und Tieren ganz besonders an die Vorstellung der Hexen. Die Hexen freilich selbst haben sich erst allmählich im Volksglauben herausgebildet. Vorher waren es schon alle möglichen bösen Geister und Unholde, bei den unkultivierten Völkerschaften nennt man es Fetische, die das Unglück herbeiführen und die deshalb als Gottheiten verehrt werden, um sie günstig zu stimmen. So bedeutet z. B. auch die Erscheinung des wilden Heeres Krieg oder Pest. Die Vorstellung des wilden Heeres, das während starker Stürme vorbeizieht, knüpft an die alte Wodansage, an den alten germanischen Gott an. Später, als solche Sagen verblassten, und als man weniger geneigt war, an böse Geister zu glauben, da traten die Hexen an ihre Stelle. Die Hexen waren Menschen, von denen man sich vorstellte, dass sie einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hätten. Sie konnten sich unsichtbar machen, sie konnten verschiedene Gestalt annehmen, und ihre Haupttätigkeit bestand darin, dass sie ihren Mitmenschen oder deren Vieh Übles zufügten, d. h. dass sie dieselben verhexten.

Die alten Hexenverbrennungen sind so bekannt, dass sie hier nicht näher erwähnt zu werden brauchen, und es ist noch nicht so sehr lange her, dass die letzten Hexen verbrannt worden sind. Die letzte deutsche Hexe wurde 1756 in Landshut verbrannt. Die Wirkung der Hexe sollte durch dieses Verbrennen aufgehoben werden, so dass das Verbrennen nicht nur eine Strafe dafür war, dass die Hexen den Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten, sondern auch einen Schutz gegen ihren bösen Einfluss darstellt. Der Hexenglaube ist vielfach im Volke noch so wenig geschwunden, dass man auch wohl jetzt noch Hexen verbrennen würde, wenn dies nicht durch das Gesetz verboten wäre. In Wirklichkeit kann es gelegentlich noch vorkommen, dass alte Frauen beim Volke als Hexen verschrien sind, und da sie nicht verbrannt werden dürfen, geächtet werden und der Umgang mit ihnen vermieden wird. In dem noch sehr verbreiteten Aberglauben des bösen Blickes hat sich dieser Hexenglaube erhalten. Dieser Aberglaube besagt, dass gewisse Menschen die Fähigkeit haben, durch Ansehen Schaden zu stiften und anderen Menschen, auch dem Vieh, Unglück zu bringen. Daher kommt es, dass die Menschen in vielen Ländern Gegenstände bei sich tragen gegen den bösen Blick, worauf später bei der Besprechung der Amulette noch näher eingegangen werden wird. So trägt man z. B. in Italien vielfach eine gewundene Koralle, um den bösen Blick abzuwenden, und begegnet man einem Menschen, dem der Ruf nachgeht, dass er einen bösen Blick habe, so macht man gegen ihn eine bestimmte Handbewegung, indem man den Zeigefinger und den kleinen Finger gegen ihn ausstreckt, während man die anderen Finger zur Faust ballt. Die Mohammedaner tragen zu diesem Zweck die sogenannte Hand der Fatme, der Schwester des Propheten. Es ist das ein Schmuckstück, das in der verschiedensten Ausführung, aus gewöhnlichem und aus edlem Metall, auch mit Emaille und Steinen besetzt, im Handel ist.

Dies Verhexen hängt ganz allgemein zusammen mit einer Vorstellung der Krankheiten, die auch heutzutage noch vielfach im Volke besteht. Man betrachtet die Krankheiten als selbständige Wesen, als Wesen, die in den Menschen hineinfahren und ebenso wieder aus ihm herausfahren können. Man treibt den bösen Geist aus, sagt man, und wir werden später auf diese Anschauung noch mehrfach zurückkommen müssen. In manchen Gegenden hat der Hexenglaube ganz bestimmte Gestalt angenommen, und so war schon in vorgeschichtlicher Zeit eine Sage verbreitet, die heute noch an vielen Orten und besonders bei den Kleinrussen vorkommt, das ist die Vampirsage. Unter dem Vampir stellte man sich ein Wesen vor, das dem Menschen das Blut aussaugt. Gewöhnlich wurde schon während des Lebens irgendein Mensch als Vampir bezeichnet, und wenn er starb, so stellte man sich vor, dass seine Seele nicht zur Ruhe kommen könne und er nachts umging, und sich nun seine Opfer aussuchte, denen er das Blut aussaugte, und die dann auch krank wurden und schließlich starben. Zahlreiche Verbrechen sind darauf zurückzuführen, dass Menschen als Hexen und als Vampire bezeichnet worden sind. Turgenjeff hat die Vampirsage zu einer Novelle verarbeitet. Die Seele des Vampirs brachte man zur Ruhe, indem man durch den Kopf der Leiche einen großen Nagel oder einen Pfahl stieß, und diese Sitte ist heutzutage noch bei den Kleinrussen im Gebrauch, wenn sie einen Menschen im Verdacht haben, ein Vampir zu sein. Dass dieselbe so außerordentlich alt ist, geht daraus hervor, dass sich in prähistorischen Gräbern in Schlesien Schädel gefunden haben, durch die ein großer eiserner Nagel hindurch getrieben war. Ein solcher Schädel befindet sich z. B. in dem Breslauer Museum. Nun könnte man glauben, dass bei uns der Hexenglaube vollständig verschwunden wäre. Das ist aber keineswegs der Fall. Wir finden noch manche Gegenden Deutschlands, wo bei Krankheiten von Menschen oder Tieren gewisse Persönlichkeiten oder gewisse äußere Umstände beschuldigt werden, diese Krankheiten erzeugt zu haben. Ja, auch dort, wo man nicht mehr an Hexen und Vampire glaubt, hat sich die Neigung, solche Beschuldigungen zu erheben, erhalten.

Wir Ärzte können es in unserer Praxis sehr häufig erleben, dass wenn ein Mensch krank wird, von ihm selbst oder von den Angehörigen irgendein äußerer Umstand oder irgendein anderer Mensch beschuldigt wird, die Krankheit erzeugt zu haben. Zum Teil beruht ja eine solche Anschauung auf ganz richtiger Unterlage, und die moderne Gesetzgebung hat dem vollkommen Rechnung getragen, indem sie die Unfallgesetze geschaffen hat; denn es gibt in Wirklichkeit eine große Menge äußerer Einflüsse, die bei den Menschen Krankheiten erzeugen können. Dabei ist natürlich in erster Linie an den direkten Einfluss eines Unfalls auf den menschlichen Körper zu denken. Wenn man sich schneidet oder quetscht, einen Stoß oder Schlag bekommt oder aus irgendeiner Höhe herunterfällt, so dass einzelne Knochen brechen, so ist der Zusammenhang der Krankheit mit dem Unfall natürlich ohne weiteres klar. Daran schließen sich aber noch andere Krankheiten, die den Unfällen nicht unmittelbar folgen, sondern die erst später aus den Unfällen hervorgehen. Es ist natürlich dem Laien nicht leicht, einen solchen Zusammenhang zwischen Unfall und Krankheit richtig zu beurteilen. Und hier hat dann das Gutachten des Arztes einzutreten. Nun gibt es in Wirklichkeit eine große Menge von Krankheiten, die durch Unfälle erzeugt werden können und von denen der Arzt aus Erfahrung oder durch den Tierversuch weiß, dass solch Krankheiten durch Unfälle entstehen. In solchen Fällen genügt das Gutachten des Arztes, um den Zusammenhang mit den Unfällen zu bemessen, so dass dann auch von dem Schiedsrichter der Zusammenhang anerkannt wird. Die wirklich bestehende Möglichkeit, dass nicht nur unmittelbare Verletzungen, sondern auch andere Krankheiten durch Unfälle entstehen können, hat im Zusammenhange mit den Unfallgesetzen bei den Laien die Vorstellung hervorgerufen, die einem Aberglauben nicht ganz fern steht, dass jede Krankheit, die sich zeitlich an einen Unfall anschließt, auch Krankheiten durch Schuld eines Dritten die direkte oder indirekte Folge dieses Unfalls sein müsste. Es gibt viele Menschen, die durch ihren Beruf besonders häufig Unfällen ausgesetzt sind, sei es, dass sie häufig Gelegenheit haben, sich direkt zu verletzen, oder dass sie mit giftigen Stoffen, z. B. Blei oder Quecksilber zu tun haben. Solche Menschen können also natürlich nicht leicht irgendeine Krankheit bekommen, ohne dass sie vorher irgendeiner Schädigung in ihrem Beruf ausgesetzt waren, oder dass sie einen Unfall erlitten haben. Gar nicht selten werden sie sich dieser Schädigung oder dieses Unfalls erst erinnern, wenn sie krank geworden sind, und nun entwickelt sich bei ihnen die feste Vorstellung, dass die Krankheit notwendig auf diese Schädigung oder den Unfall zurückgeführt werden müsste. Das ist aber keineswegs in Wirklichkeit notwendig der Fall, denn es versteht sich ja von selber, dass Menschen, die vielen Schädigungen ausgesetzt sind, auch unabhängig von diesen Schädigungen erkranken können. Diese Dinge zu beurteilen sind aber außerordentlich schwer, und der Laie wird wohl niemals imstande sein, im einzelnen Falle zu entscheiden, ob eine Krankheit die Folge eines Unfalls, eine Berufsschädigung ist, oder unabhängig davon entstanden ist. Es gehört dazu in der Tat nicht allein eine weitgehende medizinische Kenntnis, sondern auch eine große Spezialerfahrung über diejenigen Krankheiten, die durch Unfälle oder Berufsschädigungen hervorgebracht werden können. Nun hat sich in der Praxis herausgestellt, dass die Laien den Ratschlägen der Ärzte in dieser Beziehung sehr wenig zugänglich sind. In der Aussicht, für ihre Erkrankung entschädigt zu werden, behaupten sie, ohne weitere Erkundigungen einzuziehen, dass die Krankheit auf einen solchen Unfall zurückgeführt werden müsse, während ihnen jeder sachverständige Arzt vorher die Auskunft geben könnte, ob das tatsächlich der Fall ist oder nicht. Dann kommt die Angelegenheit vor die Schiedsgerichte, und schließlich entstehen Prozesse daraus, die sich über lange Zeit hinziehen, und die natürlich mit großen Unkosten verbunden sind. Wenn schließlich die Kläger in solchen Prozessen abgewiesen werden, so haben sie sich durch diese Unkosten nicht selten erheblich geschädigt. Es wird in solchen Fällen von besonderem Nutzen sein, wenn die Patienten oder die Angehörigen derselben, bevor sie in einer Unfallsache den Klageweg beschreiten, zunächst sich an einen vertrauenswürdigen, in der Sache erfahrenen Arzt wenden und sich Auskunft erbitten, ob eine solche Unfallklage wirklich Aussicht auf Erfolg hat oder nicht. In Wirklichkeit aber besteht dieses nötige Vertrauen zu den Ärzten häufig nicht. Zwar ist es mir wiederholt gelungen, Menschen davon abzubringen, andere Leute zu verklagen, weil sie dieselben ganz unberechtigt im Verdacht hatten, dass sie die Krankheit oder den Tod eines ihrer Anverwandten verursacht hätten, aber trotzdem liest man noch häufig genug von solchen Prozessen speziell auch gegen Ärzte selbst. Wenn ein Mensch krank wird und stirbt, so gibt es viele Menschen, die glauben, dass der Arzt an dem Tode des Patienten schuld sei, und dass er irgendetwas versäumt habe. Ich will natürlich nicht leugnen, dass das gelegentlich vorkommt, aber wie überaus häufig solche Klagen uns zu Ohren kommen, die durchaus unberechtigt sind, davon wissen alle Ärzte und auch viele Juristen zu erzählen. Bei vielen außereuropäischen Völkern ist dieser Aberglaube, der sich gegen die Ärzte richtet, noch außerordentlich verbreitet. Wir hören, dass wiederholt Aufstände ausgebrochen sind, verursacht durch hygienische Maßnahmen von europäischen Ärzten. Im Orient wird der Schutz gegen die Cholera und die Pest so sehr erschwert, weil im Volke der Aberglauben lebt, dass diese Krankheiten durch die Ärzte erzeugt werden.

Man sieht, wie vielfach an die Stelle der Hexen im modernen Leben andere Dinge getreten sind, selbst unter Umständen die Ärzte.

In Wirklichkeit kann man auch in diesen Auswüchsen, die sich bei der sonst so nützlichen Unfallversicherung ergeben haben, einen letzten Rest, der sich an den Hexenglauben anschließenden Aberglauben erkennen.

In vielen Gegenden, auch Deutschlands, wo das Volk noch wenig gebildet ist und im Aberglauben lebt, der mitunter durch übertriebene religiöse Anschauungen besonders genährt wird, da besteht der alte Hexenglaube und der Glaube an die bösen Geister, von denen die Kranken besessen sind, auch heutzutage noch ungeschwächt fort. Ja, es gibt Gegenden, wo heute noch das Austreiben des bösen Geistes durch alle möglichen, anscheinend religiösen Maßnahmen sogar von Geistlichen vorgenommen wird. Wir können mit Stolz konstatieren, dass sich solche Vorfälle in Deutschland ausschließlich in katholischen Ländern ereignen, und dass der Protestantismus gründlich mit diesen Dingen aufgeräumt hat. Das Austreiben des bösen Geistes, der die Personifikation der Krankheit darstellt, sowie das Besprechen mit allen möglichen abergläubischen Formeln wird in vielen Gegenden von bestimmten Menschen ausgeübt, die von dem abergläubischen Volk als besonders geeignet dazu bezeichnet werden. Und wie es von jeher Menschen gegeben hat, denen man dazu eine besondere Kraft zutraute, so finden sich auch heute noch in manchen Gegenden Leute, denen eine solche besondere Kraft angedichtet wird. Dass diese in katholischen Ländern ganz besonders durch die Geistlichkeit repräsentiert werden, ist erklärlich aus dem großen Einfluss, den die katholischen Geistlichen auf ihre Gemeinden ausüben, und daraus, dass sie häufig in weiten Gegenden die einzigen mehr Gebildeten darstellen, die dadurch schon dem übrigen ungebildeten Volk als besonders verehrungswürdig erscheinen. Wir werden später in dem Kapitel über den Aberglauben bei der Behandlung von Krankheiten hierauf noch einmal zurückkommen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf ein auch bei sonst Gebildeten vielfach verbreitetes Missverständnis hinweisen. Für viele praktische Lebenslagen ist es von größter Bedeutung, mit Sicherheit zu wissen, an welcher Krankheit Anverwandte gestorben sind. Nicht nur für die jetzt so verbreiteten Versicherungen gegen Unfall ist das von Wichtigkeit, denn der Zusammenhang von Krankheiten mit Unfällen, kann oft erst durch die Sektion festgestellt werden. Auch für manche anderen Lebenslagen kann das von Bedeutung sein. Wenn sich z. B. herausstellt, dass ein Mensch an einer ansteckenden oder an einer erblichen Krankheit gestorben ist, so kann man unter Umständen dadurch die Übertragung auf andere Familienmitglieder und die Nachkommen verhindern, wenn man vorbeugende Maßregeln ergreift. In vielen Fällen ergibt sich auch in späteren Jahren der Wunsch, genau zu wissen, woran ein früher verstorbener Anverwandter gelitten hat. Sehr häufig aber ist die Krankheit eines Verstorbenen nicht genügend bekannt, sei es, dass der Tod plötzlich eingetreten ist, ohne dass vorher eine gründliche Untersuchung durch einen Arzt möglich war, oder sei es, dass die Krankheit so komplizierter Natur war, dass der Arzt eine sichere Diagnose nicht stellen konnte. Nun lässt sich die Diagnose einer Krankheit unter allen Umständen nach dem Tode durch anatomische Untersuchung der Leiche nachweisen. Es besteht aber vielfach der Aberglaube, dass in einer solchen nachträglichen Untersuchung eine Pietätlosigkeit gegen den Verstorbenen läge. Im Mittelalter waren solche Leichenöffnungen geradezu als Leichenschändungen verboten, und es ist dadurch, dass die Ärzte infolgedessen keine Erfahrungen über den inneren Bau der Menschen machen und über die Krankheiten sammeln konnten dem gesamten Menschengeschlecht großer Schaden geschehen. Ja, man kann geradezu sagen, dass das absolute Darniederliegen der ärztlichen Wissenschaft im Mittelalter auf diesen Umstand zurückzuführen ist. Mit dem Moment, wo wieder gestattet wurde, Leichen anatomisch zu untersuchen, stieg die Wissenschaft, und jeder Sachverständige weiß, dass sie ihre heutige Höhe und ihre Steigerungsfähigkeit für die Zukunft ganz wesentlich aus diesen anatomischen Untersuchungen hergeleitet hat. In der Jetztzeit werden solche Untersuchungen in Krankenhäusern und Universitätsinstituten vielfach ausgeübt. Aber gar nicht selten kommt es vor, dass gerade in den wichtigsten Fällen solche Untersuchungen durch die Vorurteile und den Aberglauben der Anverwandten der Verstorbenen verhindert werden. Das liegt nun z. T. auch daran, dass sich die Laien unter solchen anatomischen Untersuchungen ganz etwas Falsches vorstellen, etwas, was vielleicht in früheren Jahrhunderten vorkam, aber sich heutzutage nicht mehr ereignet, nämlich die Vorstellung, dass durch eine solche anatomische Untersuchung die Leiche in ausgedehntestem Maße zerstückelt oder entstellt würde. Dass das in Wirklichkeit nicht der Fall ist, davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man sieht, dass Laien der Leiche oft gar nicht anmerken, wenn die anatomische Untersuchung ausgeführt ist, und dass dadurch dieselbe eine wirkliche Entstellung oder Zerstückelung gar nicht mit sich zu bringen braucht. Der Laie sollte sich klarmachen, dass durch eine solche anatomische Untersuchung dem Verstorbenen niemals ein Schaden geschieht, dass auch das Pietätsgefühl der Anverwandten dabei vollständig gewahrt bleibt, und dass durch eine solche anatomische Untersuchung den Anverwandten und Nachkommen des Verstorbenen und der gesamten Menschheit ein sehr großer Nutzen geschaffen wird. In Wirklichkeit findet man, dass es fast immer auch sonst abergläubische Menschen sind, die die Sektion ihrer Anverwandten verhindern. Wirklich Gebildete und Aufgeklärte sollten sich einer solchen wichtigen Maßnahme nicht widersetzen.

Sehr nahe verwandt mit dem Aberglauben der Menschen, der sie veranlasst, sich gegen die anatomischen Untersuchungen menschlicher Leichen aufzulehnen, ist die Bewegung gegen die sogenannte Vivisektion. Im Publikum sind darüber ganz verkehrte Anschauungen verbreitet und zwar ganz besonders durch die tendenziöse Agitation, die von einigen, man kann wohl sagen geradezu in ihren Anschauungen verbohrten Menschen ausgegangen ist. Es wird zunächst vielfach angenommen, dass die Vivisektion in größter Ausdehnung von jedem Medizin Studierenden geübt würde. Aus den Schriften der Antivivisektionisten geht hervor, dass dieselben der Anschauung sind, aber wenigstens dieselbe verbreiten, dass jeder Student der Medizin imstande sei, auf seiner Stube oder wo sonst Versuche an lebenden Tieren zum Zwecke der Studien zu machen. Das ist absolut aus der Luft gegriffen. Tierversuche können nur dort angestellt werden, wo die notwendigen Einrichtungen dazu vorhanden sind, und zwar in wissenschaftlichen Instituten. Solche Tierversuche sind recht kostspielig und schon dadurch verbietet es sich, dass auf diesem Gebiete mehr geschieht, als dringend notwendig ist. Es fällt natürlich keinem Institutsvorsteher ein, jeden beliebigen Studierenden Tierversuche anstellen zu lassen, sondern nur diejenigen machen Tierversuche in solchen Instituten, die dazu besonders autorisiert und befähigt sind, die ganz genau wissen, welche Fragen sie zu beantworten haben, und in welcher Art sie den Gang ihrer Untersuchung zu leiten haben. Von einer wilden Vivisektion, wie es aus den Schriften der Antivivisektionisten hervorgeht, ist also gar keine Rede.

Auch die Art, wie die Tierversuche ausgeführt werden, wird von den Laien durchaus verkannt. Von einer systematischen Tierquälerei ist dabei durchaus nicht die Rede, vielmehr geschehen die Tierversuche mit denkbar größter Schonung der Empfindung der Tiere. Es erscheint aber jedem vernünftig Denkenden selbstverständlich, dass die Empfindung der Tiere, die übrigens vielfach sehr überschätzt wird, zurückstehen muss hinter dem Nutzen, der aus solchen Versuchen für die Menschheit hervorgeht. Und dieser Nutzen ist ein ganz ungeheurer. Man würde nicht imstande sein, irgendein Heilmittel auf seinen Wert zu prüfen, wenn man nicht den Tierversuch dazu heranzieht. In Wirklichkeit müssten dann diese Versuche an Menschen gemacht werden und es wird jeder unschwer zugeben, dass der Tierversuch unter allen Umständen mehr zuzulassen ist als der Versuch am Menschen. Über die normale Tätigkeit der Organe, aus der wieder auf die krankhafte Tätigkeit derselben und auf die Beseitigung der krankhaften Tätigkeit geschlossen werden kann, hat man alle grundlegenden Kenntnisse lediglich aus Tierversuchen gewonnen. Die ganze moderne Heilwissenschaft der Serumtherapie und der Bakteriologie, die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, viele hygienische Einrichtungen, das alles sind Segnungen, deren wir nicht teilhaftig geworden wären ohne Tierversuche. Die Antivivisektionisten würden also in ihren Konsequenzen die Menschen selbst aufs Äußerste schädigen, und es würde bei Aufhören der Tierversuche eine Menschenquälerei anfangen, die alles Maß übersteigen würde. Wenn sich ein Laie vorstellt, dass ein solcher Tierversuch ein besonderes Vergnügen ist, so täuscht er sich außerordentlich. Im Gegenteil findet man, dass diejenigen, die sich mit Tierversuchen beschäftigen müssen, häufig die größten Tierliebhaber sind und die Tiere stets so schonend wie möglich behandeln. Ich führe als Beispiel den verstorbenen Professor der Physiologie in Leipzig, den berühmten E. Ludwig an, der durch seine Tierversuche unendlichen Nutzen für die Menschheit geschaffen hat, und der lange Jahre hindurch Vorsitzender des Tierschutzvereins in Leipzig war.

Übrigens sind die Menschen in ihrem gewöhnlichen Leben, und sehr häufig auch die Antivivisektionisten selber viel größere Tierquäler, als es jemals ein Mediziner gewesen ist, der sich wissenschaftlich mit Tierversuchen beschäftigt hat. Es gibt wohl wenig Menschen, die nicht gern eine Gänseleberpastete essen, und auch unter den Antivivisektionisten habe ich schon viele gefunden, die sich die Gänseleberpastete mit großem Vergnügen schmecken ließen. Nun gibt es aber keine größere Tierquälerei, als die Bereitung der Gänseleberpastete, denn zu diesem Zweck werden die Gänse in einen so kleinen Käfig gesperrt, dass sie sich weder aufrichten noch sonst bewegen können, häufig werden sie sogar mit den Füßen an die Unterlage festgenagelt. In dieser barbarischen Situation werden sie mit Nahrung gestopft, wie man sagt. Es wird ihnen so viel Nahrung in den aufgesperrten Schnabel hineinstopft, wie mechanisch hineinzubringen ist.

Mit der größten Grausamkeit ist auch die Jagd verbunden. Ich erkenne vollständig an, dass die Tiere, wenn sie den Menschen nicht umbringen sollen, selbst umgebracht werden müssen, aber es gibt keine grausamere Methode, Tiere umzubringen, als durch die Erlegung mit Schusswaffen. Ja, wenn jedes Mal garantiert werden könnte, dass der Schuss die Tiere sofort tötet, aber das ist gar nicht der Fall. Wie oft werden die Tiere nur angeschossen, wie oft laufen sie noch lange in krankem Zustande herum, bevor sie elend im Dickicht verenden. Was ist grausamer als eine Fuchs- oder Hasenhetze, bei denen das Tier so lange gehetzt wird, bis es ermattet zusammenbricht. Die Jagd auf wilde Tiere lasse ich mir noch gefallen, selbst vom Standpunkt des Antivivisektionisten, denn hier setzt doch der Mensch sein eigenes Leben aufs Spiel, indem er die Welt von diesen gefährlichen Bestien zu befreien sucht. Es besteht dabei eine Art Gegenseitigkeit. Aber eine Treibjagd, bei der die unglücklichen, manchmal geradezu gezähmten Tiere vorbeigetrieben werden, um dann niedergeknallt zu werden, das kann nur als eine Tat bezeichnet werden, die weit über jede andere Tierquälerei hinausgeht, insbesondere, da hier auch der moralische Hintergrund fehlt, der bei den wissenschaftlichen Tierversuchen vorhanden ist.

Aus allen diesen Gründen aber wird man auch nicht auf die Jagd verzichten, und man kann nicht ohne weiteres einem Menschen vorwerfen, der auf die Jagd geht, dass er ein roher Tierquäler ist. Sich aber gegen die wissenschaftliche Vivisektion aufzulehnen, dass ist ein Aberglaube, der, wenn er sich weiter verbreitet und schließlich zum herrschenden Prinzip wird, die größten Schädigungen dem Menschengeschlecht zufügen würde.

Ein vielfach verbreiteter Aberglaube, den ich hier bei dieser Gelegenheit noch erwähnen möchte, ist der vom lebendig begraben werden. Es existieren darüber so viele Schauergeschichten, dass es eine Menge Menschen gibt, die mit Schrecken daran denken, es könnte ihnen selbst das lebendig Begrabenwerden widerfahren, und manche fordern direkt ihre Nachkommen auf, besonders dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht lebendig begraben würden. Es ist ja zweifellos, dass in früheren Jahrhunderten Fälle vom lebendig Begrabenwerden wirklich vorgekommen sind. Ader ich glaube nicht, dass das durch wirkliche Irrtümer geschehen ist, sondern dass man vielleicht absichtlich, um Menschen beiseite zu schaffen, Bewusstlose als Tote begraben hat. Besonders mag das bei großen Epidemien vorgekommen sein, wo die genaue Kontrolle in manchen Fällen vielleicht gefehlt hat. Aber es ist ganz undenkbar, dass heutzutage in Kultur-Staaten so etwas vorkommt, wenn ein Sachverständiger, d. h. ein Arzt, die Leichenschau ausübt. Ein Lebender unterscheidet sich so vollständig von einem Toten, dass auch die tiefste Bewusstlosigkeit mit dem Tode nicht zu verwechseln ist. Die Farbe der Haut, vor allen Dingen die Beschaffenheit der Augen, die Weichheit der Haut, der Glanz und alles ändert sich im Moment des Todes ganz plötzlich. Es ist vielfach in Laienkreisen verbreitet, dass es bestimmte Formen von Ohnmachten gebe, bei denen die Menschen kaum noch irgendein Lebenszeichen von sich geben, die Atmung vollständig aufhört und das Herz still steht. Das sind alles Einbildungen, und so etwas gibt es in Wirklichkeit nicht. Zwar kann die Atmung wohl eine Zeitlang still stehen, aber das geht doch nicht über wenige Minuten hinaus, und selbst wenn die Atmung noch so gering und oberflächlich ist, so ist sie doch immer noch leicht als solche zu erkennen. Auch kommt es in Wirklichkeit vor, dass das Herz zuweilen aufhört, zu schlagen, ohne dass der Tod eingetreten ist, aber auch das erstreckt sich niemals über lange Zeit, sondern nur über Bruchteile einer Minute. Nun kann der Puls freilich sehr schwach werden, so schwach, dass er kaum noch gefühlt werden kann. Aber immerhin wird ein Sachverständiger den Puls noch leicht fühlen können, wenn der Laie dazu nicht mehr imstande ist. Wenn ein Mensch stirbt, so entstehen außer den plötzlichen Veränderungen, die sich innerhalb einer halben Minute ungefähr, im Moment des Todes entwickeln, im Weiteren noch Veränderungen, die den Unterschied zwischen Tod und Leben noch deutlicher machen. Dazu gehört die sogenannte Leichenstarre. Die Leichenstarre besteht darin, dass die Muskeln steif und hart werden, und es beruht auf einer sehr schnell eintretenden chemischen Veränderung der lebenden Substanz. In dieser Leichenstarre ist es nur sehr schwer möglich, die Gelenke zu krümmen, und es würde nur mit einer gewissen Gewaltwirkung gemacht werden können. Nach einiger Zeit lässt die Leichenstarre wieder nach, nämlich mit dem Beginn der Fäulnis. Dann bilden sich bereits die sogenannten Leichenflecke aus, die darin bestehen, dass das Blut in der Leiche nicht gleichmäßig verteilt ist, sondern der Schwere nach in den abhängigen Partien des Körpers sich anhäuft. Wenn also die Leiche, wie es gewöhnlich der Fall ist, auf dem Rücken liegt, so erscheinen diese roten Flecke an der hinteren Körperseite, während die vordere Körperseite blass zu sein pflegt. Die weiteren Veränderungen, die noch eintreten, gehören schon so sehr in das Gebiet der Zersetzung, dass sie hier nicht ausführlicher betrachtet zu werden brauchen. Aus alledem erkennt man mit Sicherheit, dass zwischen Leben und Tod ein so bedeutender Unterschied ist, dass in bei weitem den meisten Fällen auch einsichtige Laien ihn erkennen können, unter allen Umständen aber Ärzte. Speziell ist es als ein Aberglaube zu bezeichnen, dass es Geisteskrankheiten gebe, sogenannte kataleptische Zustände, bei denen das Leben so sehr dem Tode gleicht, das nur schwer ein Unterschied gemacht werden kann. Die kataleptischen Zustände gibt es tatsächlich, aber dieselben unterscheiden sich durch alle die eben angeführten Tatsachen von dem Tode ebenso vollständig wie irgendwelche anderen tiefen Ohnmachten. Ich glaube, dass alle Zeitungsberichte, die gelegentlich wiederkehren über lebendig Begrabenwerden, in das Gebiet der Hundstagsenten und der Seeschlangen gehören.