Abendländische Blicke auf den Orient

Aus: Die Grenzboten
Autor: Kuranda, Ignatz (1811-1884) tschechisch-österreichischer Schriftsteller und Parlamentarier, Erscheinungsjahr: 1845
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Türkei, Islam, Ottomanisches Reich, Russland, Sultan, Verwaltungsreformen
Aus: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur, redigiert von Ignatz Kuranda. Vierter Jahrgang. II. Semester. IV. Band. 1845.


Die Türkei und Polen. — Der Türke des neunzehnten Jahrhunderts. — Der lange Vorabend großer Ereignisse. — Noch ist die Türkei nicht verloren. — Christlich-griechische Moralien. — Die Bürokratie in Konstantinopel. — Der Türke als Privatmann und als öffentlicher Charakter. — Sultan Mahmud als Reformator. — Anekdote. — Der hinkende Teufel, oder Talleyrand im Serail. — Neue lettres persanes in Aussicht. — Ein türkischer Schlagfluss und kaiserliche Tränen. — Reschid-Pascha, der konstantinopolitanische Hartenberg. — Delirium tremens. — Das Dekret des Rosenpavillons, oder die türkische Constitution. — Kritik des Dekrets von Gul-Hané. — Der besonnene Fortschritt in der Türkei und ... anderswo, — Orden und Pelze. — Die neue Wendung. —
Es sind kaum über hundert und fünfzig Jahre, da stand die Fahne Mahomeds unter den Mauern von Wien und bedrohte die Christenheit, der türkische Halbmond wollte die Sonne des Okzidents verfinstern. Und wenn einst Polen aus der Geschichte ganz verschwinden sollte, doch wird das undankbare Europa nicht vergessen, wer in der damaligen Not sein feurigster und mutigster Helfer war. Das ritterliche Polen schlug den letzten Sturm des barbarischen Orients auf die Zivilisation zurück. Aber wie haben sich seitdem die Weltverhältnisse geändert! Der Kampf zwischen dem Dränger und dem Retter Europas ist für beide verhängnisvoll gewesen. Die Türkei sank, als sie aufhörte, ein Schrecken der Welt zu sein, zum Gegenstande des Mitleids herab, und Polen ließ man fallen, da man es nicht mehr als Bollwerk gegen den barbarischen Orient brauchte. Denn man scheint im vorigen Jahrhundert nicht geahnt zu haben, welch ein seltsamer Rollenwechsel bevorstand und dass Polen sehr gut ein Schild sein konnte gegen eine neue barbarische Übermacht. Russland, welches zur Zeit der letzten Türkenbelagerung Wiens noch in den Windeln lag, ist, obgleich christlich, der Türke des 19. Jahrhunderts geworden; Polen und die Pforte sind heutzutage die Handhaben, mit denen es die Tore Europas zu erschüttern sucht; aber während man ihm die Türkei noch zu entwinden strebt, scheint man ihm Polen ohne Widerstand zu überlassen.

So verschieden durch Religion, Bildung und Rasse Polen und die Türkei sind, doch ist die Parallele zwischen dem Schicksal beider Staaten nicht zu gewagt; beide mussten sinken von dem Tage an, wo sie aufhörten zu kämpfen. Ohne anderes Lebens- und Einheitselement, als den Krieg, blieben sie, außerhalb der Sphäre moderner Staatenorganisation, eine isolierte Individualität, und als sie aufhörten, die eine ein Schrecken, das andere ein Paladin Europas zu sein, wurden sie ein Anachronismus und ein Stein im Wege, den man bei Seite wirft. Polen aber, welches dem Werke der europäischen Staatenverschmelzung näher stand, wurde zuerst von dem umschwingenden Rade der politischen Maschine ergriffen und hinabgerissen.

Wir haben gesehen, welches Bild der Todeskampf des polnischen Reiches am Ende des vorigen Jahrhunderts bot: Anarchie, Bürgerkrieg, Kampf zwischen den Einflüssen der Nachbarn, deren Eifersucht allein ihm eine Gnadenfrist verschaffte. Und mitten in dieser Verwirrung erhoben sich zu spät gekommene Reformatoren und bemühten sich, ihr Vaterland vor der Raubsucht des Fremdlings zu bewahren, unter dessen zweideutigem Schutz sie an der nationalen Wiedergeburt arbeiten. Dieses selbe Schauspiel bietet, seit einer Reihe von Jahren, das ottomannische Reich: Bürgerkrieg, anarchische Verwaltung, teilweise Zerstücklung, listige Einmischung der Fremden schwache Reformversuche, Nichts fehlt zur Ähnlichkeit des Bildes; — wird aber auch die Katastrophe dieselbe sein, oder wird die Türkei am Leben bleiben, weil vielleicht die Nägel zu seinem Sarge das penelopäische Gewebe des europäischen Friedens zerreißen könnten? Wir wagen es nicht, diese Frage zu lösen: obschon uns die Pforte dem Grabe näher scheint, als der Auferstehung, so mögen wir doch nicht so fix und fertig sein, wie unsere politischen Kartenschläger, die eben so schnell die Türkei in drei Portionen teilen, wie sie das geteilte Deutschland zu einer festen Einheit zusammenschweißen.

Gewiss trägt das ottomannische Reich in seinen Herzen mehr Todeskeime und zersetzende Elemente, als das gebildete, schwungvolle und christliche Polen; die herrschende Rasse, die, ein Zweig der tatarischen Stämme am kaspischen Meere, von Hause aus ein Nomadenvolk, von den Arabern mit dem Koran nur den Geist der Eroberung, nicht der arabischen Bildung annahm und in Europa nur zerstört, nicht gebaut hat, — diese Rasse zählt heutzutage nicht mehr als drei oder vier Millionen Seelen, Weiber und Kinder mitgerechnet; und diese vier Millionen sind in Asien und Europa auf einen Flächenraum zerstreut, der zweimal so groß ist als Deutschland. Das Eroberungsvolk hat sich mit den übrigen Einwohnerstämmen nicht vermischt, sondern steht gleichsam als — ohnmächtiger — Herr über ihnen. Die zurückgesetzten Stämme sind teils durch Abstammung und Sprache, teils auch durch Religion und Sitte von ihnen geschieden, sind aber viel zahlreicher als ihre Herren; in seinem blinden Stolze hat es der Türke verschmäht, sie in sich aufzunehmen, und, als er mächtig war, hat er sie nur zu unterdrücken verstanden, statt sie an seiner Größe teilnehmen zu lassen und dadurch zu entwaffnen. Heutzutage daher, wo sie die Hinfälligkeit ihres alten Despoten sahen, zeigten sie sich für seine späten und unfreiwilligen Zugeständnisse nichts weniger als erkenntlich, sondern nur um so mehr geneigt, sein Joch völlig abzuschütteln. Eben so haben die seit dreißig Jahren unternommenen Reformversuche bisher nur dazu gedient, das erobernde Volk zu schwächen und sein einziges Lebensprinzip, den Fanatismus, abzutöten, während sie das Volk der Rajahs nicht befriedigt und nicht gewonnen, sondern mit Gedanken der Unabhängigkeit erfüllt haben. So ist die Pforte ein baufälliges Haus; status quo oder Reform, beides droht ihm gleiche Gefahr und hängt außerdem von dem Gutdünken einer Schutzmacht ab, in deren Interesse es liegt, dass das alte Haus baldmöglichst eingerissen oder im baufälligen Zustande so lange erhalten wird, bis es von selber zusammenstürzt. Bedenkt man dies Alles, so möchte man allerdings glauben, dass der „Vorabend großer Ereignisse,“ von der unsere konstantinopolitanischen Zeitungskorrespondenten seit Jahren reden, doch mehr als eine Phrase ist.

Allein das Bild hat auch eine andere Seite. Derselbe Grund, der eine Verschmelzung der Ottomanen mit den unterworfenen Völkern zu einem nationalen Ganzen verhinderte, ließ auch die letzteren zu keiner Vereinigung kommen. Die Araber, Kopten, Türken, Maroniten, Drusen, Kurden, usw. in Asien, die Armenier, Albanesen, Bosnier, Bulgaren und Serben in Europa, alle diese Völkerschaften sind teils durch Glauben und Sprache, teils durch Sitten und Interessen mit einander fast eben so im Widerstreit, wie mit ihrem gemeinsamen Herrn, dem die Tradition, und die Gewohnheit zu befehlen, immer noch ein größeres Übergewicht gegen jeden einzelnen von ihnen verleiht, als man im Abendlande anzunehmen pflegt. Ferner wäre selbst auf den Fall, dass Europa die Russen gewähren ließe, die Frage damit noch nicht gelöst; denn Konstantinopel zu bombardieren und zu besetzen, ist zwar ein Leichtes, aber nicht so leicht wäre seine Behauptung; eine noch gefährlichere Aufgabe wäre die Bändigung einer aus sieben bis acht verschiedenen Nationalität ten bestehenden Nation, die, nicht an persönliche Sicherheit, aber an tausendmal größere persönliche Freiheit gewöhnt sind, als die Muschicks und die Leibeigenen in hyperboräischen Norden; besonders wenn man dabei noch die Verwaltung eines Riesenlandes, des siebenten Teils unserer Erdoberfläche, auf den Schultern und die Beherrschung von fünfzig Millionen Menschen auf dem Herzen hat, die trotz aller Ukase und Knuten noch lange nicht gleichmäßig in die griechisch-russische Form gegossen sind. Bedenkt man daher, dass eine russisch-türkische Katastrophe nicht so sehr das Ende der orientalischen Frage als der Anfang einer neuen wäre, so begreift man die zurückhaltende, aber unruhige Aufmerksamkeit, mit der unsere Staatsmänner nach dem Osten blicken; und eben so wird man es begreiflich finden, dass es unter den Türken Männer gibt, die noch nicht verzweifeln wollen am Schicksal ihres Reiches, sondern auf dem Reformwege, den Sultan Mahmud mit mehr Energie als Klugheit betreten hat, mutig weiter wandeln.

Zu dieser kleinen Anzahl Reformatoren gehört Reschid Pascha, ein Mann, der durch Geist, Gesinnungen und diplomatisches Talent auch in zivilisierten Ländern hervorragen würde. Reschid Pascha hat seit zehn Jahren den wichtigsten Anteil an der Regierung der Pforte genommen. Seinem Einfluss hat man das berühmte Dekret zu verdanken, welches unter dem Namen des Hattischerif von Gul-Hané bekannt ist und gleichsam den positiven, organischen und administrativen Teil jenes Werkes bildet, welches Mahmud nur zu sehr in negativem und zerstörendem Sinne begonnen hatte. Als die sogenannte türkische Konstitution kaum ihre Früchte zu tragen anfing, wurde Reschid plötzlich vom Ruder des Staates entfernt, aber nicht wie man allgemein glaubte, durch eine Reaktion des muselmännischen Fanatismus, sondern durch die Umtriebe eines diplomatischen Jesuitismus, durch jene nordischen Intrigen, welche in Konstantinopel die alte byzantinische Zeit und ihre griechisch-christliche Moral zu erneuen streben. Jetzt, wo Reschid Pascha von seinem pariser Gesandschaftsposten nach Stambul zurückberufen ist, um wieder an das Steuerruder des Staats zu treten, wenden sich mit Recht alle Blicke auf ihn und erwarten eine neue Wendung der Dinge. Im Orient ist es nichts weniger als lächerlich, wenn man Alles von einer Persönlichkeit erwartet; dort, wo keine fertige Staatsmaschine in einem hergebrachten Systeme fortarbeitet, kann eine starke Individualität, im Guten wie im Bösen, despotisch eingreifen, dort sind noch immer die Saladine und die Harun-al-Raschid's möglich. Reschid aber ist, abgesehen von seinem angeborenen Talent, ein Mann von Erziehung, was unter den hohen türkischen Staatsdienern sich nicht von selbst versteht und daher besonders erwähnt werden muss. Im Lande der Günstlinge und Tyrannen sieht man die radikalste Gleichheit mit dem absolutesten Despotismus verbunden. Noch jetzt herrscht die Tradition, dass, wer immer den Blick des Padischah auf sich gezogen, dadurch allein schon zu Allem befähigt sei; Sachkenntnis und das Bewusstsein seiner Pflichten sind die letzten Eigenschaften, die man von dem Bewerber um ein Amt fordert. Der Sklave oder Lastträger, der Gondolier oder Marqueur im Kaffeehaus kann durch eine Sultans- oder Günstlingslaune mit melodramatischer Plötzlichkeit in einen General oder Minister, in einen Admiral oder Statthalter verwandelt werden, und Niemand wird sich darüber wundern; freilich kann er eben so schnell wieder abgesetzt und ins Elend zurückgestürzt werden, wenn nicht gar die seidene Schnur dem Roman ein Ende macht. Es ist wahr, jeder Türke fühlt sich, als Glied des erobernden Stammes und des rechtgläubigen Volkes, gleichsam von Natur geadelt, und dies gibt ihm die Fähigkeit, im Nu die äußere Würde anzunehmen, die zu den höchsten Stellen und Ämtern gehört; aber darin besteht auch sein ganzes Talent und die Folge jener plötzlichen und zufälligen Erhebungen ist daher, dass bei den ersten Würdeträgern mit der absolutesten Kopflosigkeit sich eine gehörige Dosis von verstockter Ruchlosigkeit und Gemeinheit zu verbinden pflegt. Der Türke ist, als Privatmann, stolz und unwissend, aber redlich und offenherzig, gerecht und großmütig; wie er aber eine öffentliche Rolle spielen soll, wird die Gewalt, die eben so prinziplos als ephemer ist, zur vergifteten Waffe in seinen Händen. Anderswo veredelt eine höhere Stellung oft den Charakter Dessen, der sie allmählich erklommen; hier erniedrigt und verdirbt sie ihn fast immer. Der Türke verliert in Amt und Würde nicht seine krasse Unwissenheit und seinen beschränkten Gesichtskreis, aber dafür entwickelt er bald einen Geist der Doppelzüngigkeit und Feilheit, der Raubsucht und der hochmütigen Gewalttätigkeit, dem nichts gleichkommt, als seine Kriecherei gegen den Oberen, von dem er abhängig ist. Darum glänzt Reschid-Pascha doppelt unter seinen barbarischen Kollegen hervor; er ist sowohl durch sittliche Tugenden als durch geistige Begabung ein lebendiges Bild der Reform, die er seinem Vaterlande zu geben suchte.

Reschid's Vater, Mustapha Effendi, war Oberadministrator auf den Gütern der Moschee des Bajazet, seine Mutter zählte mehrere Veziere unter ihren Vorfahren. Sie ward frühzeitig Witwe und bildete das Herz des jungen Reschid*), ihres Ältesten, der den Titel Bey führte, zu einem Spiegel orientalischer Frömmigkeit und Großmut; sie ahnte, dass ihm ein hoher Beruf bestimmt war, und wollte ihn desselben würdig machen. Eine ihrer Töchter hatte sie an Ali Pascha, den Gouverneur von Morea, vermählt, der denn auch den jungen Reschid als Kiatib oder Privatsekretär zu sich nahm. Ali-Pascha, der bald zum Großvezier ernannt, dann in Ungnade entlassen und endlich wieder Oberbefehlshaber der Armee gegen das insurgierte Griechenland wurde, erfuhr zuletzt, in Folge seiner unglücklichen Feldzüge, einen definitiven Sturz, den er nicht lange überlebte. In allen diesen Glückswechseln hatte der junge Sekretär die Gefahren und Mühen seines Herrn geteilt; nach Ali-Paschas Tode aber trat er in eines der Regierungsbüros ein, wo er sich bald dem Vezier Izzet-Pascha und später dem Pertew-Pascha durch seinen eleganten Styl und seine klare Beredsamkeit bemerkbar machte.

*) Geboren zu Konstantinopel im Jahre 1802.

Damals begann Sultan Mahmud, nachdem er an dem berüchtigten Bluttage (16. Juni 1826) die rebellischen Janitscharen vertilgt hatte, zwischen zwei Feuern, sein Werk der Neuerung. Während er mit einer Hand ohnmächtig sich gegen die Griechen, dann gegen die Mächte, dann gegen Russland und Mohamed-Ali wehrte, arbeitete er mit der andern Hand eifrig an der Umgestaltung des Reiches. Er halte weniger Einsicht in die Natur der europäischen Institutionen, als eine Passion für die Trachten und Moden, für die Amüsements und den Wein des Okzidents, da er dem Allen zusammen die Überlegenheit zuschrieb, welche ihn die vermaledeiten Giaurs mit starker Faust hatten spüren lassen. Wenn er ihnen nachäffte, glaubte er eben so mächtig zu werden wie sie. Als er seine Armeen verloren, trieb er eine Miliz zusammen und prügelte ihnen geschwind das europäische Exerzitium ein, wobei er allerdings nur dem Beispiele benachbarter Staaten buchstäblich folgte. Er ächtete den Turban und den langen Kaftan, wie Peter der Große den Bart, und kleidete seine Osmanlis in Fes, Oberrock und Pantalons. Dies Alles trieb er mit der Naivetät eines Wilden, die sich noch komischer ausnahm, wo es höhere Dinge betraf. So ließ er einmal aus Wien für seine neue Artillerieschule und für das chirurgische Lehrinstitut die notwendigen Instrumente kommen. Da ihm dergleichen immer selbst vorgelegt werden musste, so brachte man ihm die angekauften Reformationsmaschinen in Einem Kasten. Sultan Mahmud teilte, mit orientalischer Gerechtigkeitsliebe, die Ware in zwei gleiche Teile für die beiden Institute und so kam es, dass die chirurgischen Zöglinge mit geometrischen Instrumenten, die Artilleristen dagegen mit Lanzetten, Skalpellen und Geburtshelferzangen beschenkt wurden.

Man kann sich denken, dass Mahmud kein leichtes Werk hatte, und dass die nationale Opposition, die sich ihm entgegenstemmte, oft eben so blind war, wie seine Reformsucht. Während Pertew-Pascha, ein redlicher, aber starr orthodoxer Türke, im Divan selbst mit Kühnheit für das anciem règime kämpfte, gefiel sich der alte Chosrew-Pascha, der hinkende Teufel von Stambul, ein türkischer Nachdruck von Talleyrand, darin, der Laune seines Despoten zu fröhnen, und ihn mit innerer Schadenfreude zu den gefährlichsten Übertreibungen zu reizen. Der alte Schelm spielte seine Komödie so gut, dass er, um sich bei Mahmud einzuschmeicheln, sogar seinen ehrwürdigen Silberbart den griechischen Hetären opferte, welche die Orgien des kaiserlichen Reformators würzten.

Mitten unter diesen Reibungen machte der junge Reschid seine Karriere. Seit dem Vertrage von Adrianopel, bei dessen Abschlusse er als Sekretär mit tätig gewesen, diente er im Ministerium des Auswärtigen, unter Pertew-Pascha, an welchem er einen warmen Freund und Beschützer fand. Wenn sein reifer Verstand sich auch später weit über den Ideenkreis seines Gönners erhob, so behielt sein Herz doch immer eine tiefe Verehrung für den edeln und großmütigen Charakter Pertews.

Im Jahre 1833 wurde Reschid, nach der Niederlage von Konieh, abgesandt, um mit dem Sieger über die Bedingungen des Vertrags von Kutahieh zu unterhandeln. Ein Jahr darauf war er der erste ordentliche Gesandte, den die Pforte bei den europäischen Höfen förmlich anstellte. Zwei Jahre lang versah er diesen Posten, bald in Paris und bald in London. Welch eine Schule und welche Überraschungen für einen intelligenten Türken! Wir haben leider nicht Gelegenheit gehabt, einen Blick in Reschids Reisenotizen zu werfen, aber wir sind überzeugt, dass sie jedenfalls origineller ausgefallen sind, als die geistreichen Expektorationen unserer zahllosen Touristen, und dass sie für Europa vielleicht eben so lehrreich wären, als die Briefe des Herrn von Raumer. Schade, dass solche veritable lettres persanes oder turques ungedruckt bleiben.

Mitten in seinen modernen Studien wurde Reschid durch ein echt orientalisches Intermezzo gestört. Pertew-Pascha war es gelungen, den alten Chosrew zu stürzen, und er rief den jungen Gesandten zurück, um ihn zum Minister des Auswärtigen im neugebildeten Kabinett zu machen. Aber Pertews Triumph dauerte nicht lange. Noch war Reschid nicht aus Paris zurück, als Pertew schon wieder den Intrigen seines Gegners erlag und nach Adrianopel verwiesen wurde. Mahmud dachte aber schon daran ihn zurückzurufen, als die Intriganten in einer bacchanalischen Nacht dem berauschten Sultan einen Todesferman für ihren Gegner entlockten. Den andern Morgen hatte Mahmud vergessen, was in der Nacht vorgegangen, während ein Courier mit dem verhängnisvollen Ferman nach Adrianopel eilte, und Pertew sein Haupt mit muselmännischer Ergebung in die seidene Schlinge steckte. Man sagt sogar, dass der Gestürzte, der ein Poet war, noch Zeit und Fassung gehabt habe, seinen Abschied vom Leben in harmonische Verse zu bringen und schriftlich zu hinterlassen.

Einige Tage darauf kam Reschid, auf der Heimreise, nach Adrianopel, und fand das Grab seines Gönners, den er auf dem Gipfel der Macht geglaubt hatte. Dieser tragische Vorfall wurde ein Wendepunkt in Reschids Leben und scheint von entscheidendem Einflusse auf seine politische Richtung gewesen zu sein. Ungewiss über seine eigene Zukunft, kam er nach Stambul. Der Sultan wusste Nichts von den Folgen seines unseligen Rausches und betrauerte aufrichtig den Tod des edlen Pertew, der, wie man ihm gesagt hatte, an einem Schlagflusse dahingegangen war. Reschid aber sagte ihm die Wahrheit und rezitierte ihm sogar die letzten rhythmischen Worte des hingerichteten Ministers. Darauf soll Mahmud, der längst den guten Vorsatz gefasst hatte, sich nicht mehr mit dem Blute seiner Diener zu beflecken, in Tränen zerflossen sein, und dieser späten Reue hatte es Reschid zu verdanken, dass plötzlich die Gewalt in seine Hände überging. Aber nicht so rachsüchtig wie seine Gegner, begnügte er sich damit, Halil-Pascha, der sich vom Sklaven zum Schwiegersohne des Sultans aufgeschwungen hatte, und Akif, also die beiden Haupturheber von Pertews Ermordung, zu verbannen.

Reschid-Pascha begann nun eifrig den Samen der Zivilisation, den er im Westen gesammelt hatte, auszusäen. Er schuf zuerst die zwei Staatsdivans, welche die Arbeit der Regierung regeln sollen, und den Divan für die Wohlfahrt des Gemeinwesens, der die administrativen Vorschläge auszuarbeiten hat. In diesen ehrenwerten Bestrebungen fand er aber nur eine schwache Stütze an den europäischen Legationen gegen die Einflüsterungen Russlands und den fanatischen Argwohn des Volkes. Seine Feinde Chosrew, Achmet*) und Halil, eifersüchtig auf ein Verdienst, das nicht, gleich dem ihren, aus Blutvergießen und Schande entsprossen war, untergruben ihm den Boden unter den Füßen, und um einem eklatanten Sturz zuvorzukommen, verbannte er sich freiwillig und ging wieder als
*) Achmet, seines Zeichens ein Schuster, wurde später Schiffsknecht, wo er sich vermutlich so viel nautische Kenntnisse erwarb, dass ihn Mahmud zum Admiral erhob. Als solcher hatte er in der Tat den Heldenmut, die kaiserliche Flotte, nach der Schlacht bei Nezib, an Mehemed-Ali zu übergeben.

außerordentlicher Gesandter nach London, wo er ein Schutz- und Trutzbündnis zwischen England und der Pforte gegen Russland zu erwirken hoffte. Auf der Reise berührte er Paris, Brüssel, Berlin, Wien und Rom. Dort hatte der Gesandte des „Feindes der Christenheit“ eine Audienz beim heiligen Vater. Gewiss ein merkwürdiges Ereignis in der Geschichte des ottomanischen Reiches.

In Paris erhielt Reschid, gegen Ende des Jahres I8S9, die Nachricht von der Niederlage der Türken bei Nezib und vom Hintritte des Sultans Mahmud, den ein Übermaß von Aufklärung getötet hatte. Der Padischah hatte sich nämlich durch ein zu fortwährendes Übertreten des Verbotes gegen geistige Getränke das delirium tremens zugezogen, eine Krankheit, die in der Geschichte der Abkömmlinge des Propheten wohl unerhört war, und die der ottomanische Haushistoriograph wohl eben so ruhig verschweigen wird, wie die russischen Schulbücher die Todesart von Peter und Paul verschweigen.

Um den Manövern Chosrews zuvorzukommen, eilte Reschid heim und langte am 4. September in Stambul an; aber schon hatte der graue Schlaukopf sich des Ruders bemächtigt und sich eine so feste Stellung geschaffen, dass Reschid es nicht offen mit ihm aufzunehmen wagte. Er griff also zu den alten Hausmitteln orientalischer (und auch okzidentalischer) Politik, machte sich klein und bescheiden, schürte dabei den aufkeimenden Hass Chosrews gegen Halil und Achmet, und wusste, nachdem er diese Spaltung zwischen seinen Todfeinden unversöhnlich gemacht, bald mit geschickter Hand alle seine Widersacher aus der Nähe des Thrones zu entfernen. Allmählich wuchs sein Einfluss auf den Divan, dessen Macht sich durch die Jugend des Sultans bis zur Unabhängigkeit steigerte, und er benützte die kritische Lage des Reiches, das einerseits von Mehemed-Ali und den Mächten, andererseits von inneren Gährungen bedroht war, als den rechten Moment für eine große und wesentliche Reform. Wir meinen das Dekret von Gul-Hané. Der gewandte Reschid hatte es selbst redigiert, seine Kollegen im Divan, der junge Sultan und der Scheik-ul-Islam, der türkische Pontifex, hatten es sanktioniert, und die Verkündung des wichtigen Aktenstückes geschah mit allem Pomp und aller erdenklichen Feierlichkeit des Orients.

Es war der dritte November 1839, ein Sonntag. Ein weiter Raum im Innern des Serails, der an den Kiosk von Gul-Hané (Pavillon der Rosen) stößt, empfing die Repräsentanten aller europäischen Mächte, den Prinzen von Joinville, die Minister des Reiches, die Pascha-Gouverneurs der Provinzen, die ersten Generale und die höchsten Beamten, das Corps der Ulemas, die Patriarchen aller nichtmohamedanischen Konfessionen, eine Deputation der Sarrafs (der armenischen Bankiers), und endlich eine zahlreiche Volksmenge, aus Türken sowohl wie aus Rahjahs bestehend. Der junge Sultan thronte im offenen Pavillon, vor welchem eine Tribüne errichtet war, die Reschid-Pascha bestieg, um mit tönender Stimme nichts geringeres als die Wiedergeburt des Reiches zu verkünden.

Wir wissen sehr wohl, dass der Hanischerif von Gul-Hané, den Europa Anfangs mit Enthusiasmus aufnahm, später sehr viel Anlass gab zu Spöttereien über türkischen Liberalismus und besonnenen Fortschritt auf gesetzlich mohamedanischen Wegen. Indessen möge der Leser selbst urteilen. Wir werden die Hauptzüge und die schlagenden Stellen des merkwürdigen Dokumentes gewissenhaft anführen.

„Man weiß,“ sagte der Sultan durch den Mund seines Ministers, „dass in den ersten Zeiten des ottomanischen Reiches die glorreichen Gebote des Korans und die Gesetze des Staates stets beobachtet wurden. In Folge davon wurde das Reich groß und mächtig, und alle Untertanen, ohne Ausnahme (?), lebten in Glück und Wohlsein. Seit hundert und fünfzig Jahren aber hat eine Reihe von unglücklichen Ereignissen diesen Gehorsam gegen die heiligen Gesetze geschwächt, der frühere Flor des Reiches ist geschwunden und hat der Erschlaffung und Verarmung Platz gemacht. Denn ein Staat muss erschüttert werden, wenn er aufhört, nach seinen Gesetzen zu leben.“

„Diese Betrachtungen haben fortwährend unsern Geist beschäftigt etc. Indem wir also die Hilfe des Allerhöchsten und die Verwendung unseres Propheten anrufen, erachten wir es für gut, durch neue (!) Institutionen den Provinzen unseres Reiches die Wohltat einer guten Verwaltung zu verschaffen.“

Es gehört allerdings nicht erst die Gründlichkeit unserer historischen Schule dazu, um die kleinen Sophismen nachzuweisen, auf welche der Eingang dieser türkischen Charte gebaut ist. Die Berufung auf den Koran, dessen Beobachtung früher das Heil des Staates gesichert habe, und dann die geschwinde Unterschiebung neuer Institutionen, von denen der Koran Nichts gewusst hat, das ist eine sehr diplomatische Logik, und das allerliebste jesuitische Talent, das daraus hervorlächelt, könnte Einen bewegen, auszurufen: Noch ist die Türkei nicht verloren! sie ist würdig, in die Reihe der europäischen Staaten aufgenommen zu werden. Doch kann man die kleine Eskamotage entschuldigen. Erstens galt es, die Reform, die unter den brutalen Händen Mahmuds den Charakter einer unnützen Frivolität angenommen hatte, pietätsvoll unter den Schutz des Korans zu stellen, zweitens endlich ist der Koran besser als sein Ruf. Ohne grade ein Lehrbuch der Toleranz zu sein, trägt er doch lange nicht die Verantwortlichkeit für alle Gräuel, die man in seinem Namen begangen hat; und mit einigermaßen rationalistischer Auslegung könnte er in der Tat dem Dekret des Rosenpavillons als Grundlage dienen.

Der Hattischerif zählt dann die „neuen Institutionen“ auf. Drei Punkte werden besonders hervorgehoben: 1) Sicherheit des Lebens, Eigentums und der Ehre der Individuen, 2) eine regelmäßige Steuererhebung und 3) eine gehörig geordnete Konskription.

„Deshalb soll künftig der Prozess jedes Angeklagten öffentlich, dem göttlichen Gesetze gemäß, und nach vorhergegangener Untersuchung entschieden werden, und ohne ein solches Urteil soll Niemand einen Andern, weder heimlich noch öffentlich, durch Gift oder auf andere Weise hinrichten lassen.“

Dieser kleine Paragraph, der eine pragmatische Geschichte der türkischen Justiz aufwiegt, spricht jedenfalls für die Notwendigkeit neuer Institutionen d. h. von Institutionen überhaupt im Reiche des Padischah.

„Die unschuldigen Erben eines Verbrechers sollen ihrer legitimen Rechte nicht beraubt und die Güter des Schuldigen nicht konfisziert werden. Diese Rechte erstrecken sich auf alle unsere Untertanen, welcher Religion oder Sekte sie angehören mögen, auf dass Jeder seines Lebens, seiner Ehre und seines Vermögens „sicher sei, wie es der heilige Wortlaut unseres Gesetzes verlangt.“

Indem Reschid-Pascha diesen „heiligen Wortlaut des Gesetzes“ ein wenig auf die Folter spannte, traf er mit einem einzigen Schlage das exklusive System der muselmännischen Lebensordnung aufs Haupt. Ferner kündigt der Hattischerif ein strenges Gesetz gegen den Ämter- und Stellenhandel an, den ebenfalls „die heilige Schrift verbiete“ und der vorzugsweise Schuld sei am Verfalle des Reiches; und nachdem er zur Beratschlagung und Feststellung der übrigen Punkte eine Art gesetzgebender Versammlung angekündigt, die aus den Ministern und Notabeln des Reiches bestehen, an gewissen Tagen zusammenkommen, und wo Jeder frei seine Meinung äußern soll, schließt er mit der folgenden originellen Strafbestimmung: „Diejenigen aber, welche diesen Institutionen entgegenhandeln werden, soll der Fluch Gottes treffen, und mögen sie unglücklich sein ihr Leben lang“

Das ist der Hattischerif von Gul-Hané, und das hat man bei uns einen ohnmächtigen Nachdruck der französischen Charte nennen wollen, vermutlich nur, um der letzteren ein Kompliment zu machen. Nein, der Hattischerif ist keine Charte und will keine sein; in diesen einfachen Verordnungen, die sich auf die natürlichsten Forderungen des gemeinen Verstandes stützen, ist Nichts von dem künstlichen Bau einer konstitutionellen Staatsmaschine; es ist Nichts als das ABC einer gesellschaftlichen Ordnung, und nur die Form, in welcher der Sultan seinen Untertanen Garantien gibt, die sie bisher nicht besessen, erinnert an unsere oktroyierten Staatsgrundgesetze. Das Oktroyieren aber ist echt orientalisch, echt patriarchalisch und eben darum in Konstantinopel besser an seinem Platze, als in Hannover oder Baden, als in München oder Berlin. Die feierliche Proklamation des Hattischerifs aber, in der man die komödiantenhafte Deklamationssucht des französierten Reschid zu erkennen meinte, hatte ihren guten politischen Grund, und war nach gewissen Seiten hin eine Demonstration, die bei der kritischen Lage der Pforte notwendig und heilsam war.

Der einzige Vorwurf, den man dem Hattischerif von Gul-Hané machen kann, ist der, dass es so schwer ist, ihn zu verwirklichen; daran ist aber nicht seine Tendenz Schuld, sondern die Lage der Dinge. Dadurch wird der Hattischerif zu einem bloßen Programm, zu einer öffentlichen Beichte und einer Proklamation guter Vorsätze ... Mit guten Vorsätzen aber, sagt das Sprichwort, ist die Hölle gepflastert.

Reschid selbst jedoch muss man die Gerechtigkeit widerfahren lassen, dass er alle mögliche Tatkraft und Gewandtheit aufbot, um das Programm des Rosenpavillons zu verwirklichen; und man muss in Anschlag bringen, dass nur eine sehr kleine Minorität redlicher und einsichtsvoller Männer ihn dabei unterstützte. Seine mächtige Beredsamkeit gewann ihm das Vertrauen des jungen Sultans, der von Hause aus gut ist; und so behauptete er sich, trotz der Schwierigkeiten der ägyptischen Frage, zwei Jahre lang gegen alle diplomatischen und Hausintrigen und wusste auf mehreren Punkten die gelobten Verbesserungen einzuführen. So schaffte er das System der Verpachtung der Staatseinkünfte (iltizam) ab, ein System, das auch im übrigen Europa nicht unerhört ist, welches aber in der Türkei zu den grässlichsten Schindereien führte. Der Staat verkaufte jährlich an den meistbietenden Pascha den Ertrag der verschiedenen Steuern; und da die Paschas in der Regel kein Vermögen besitzen, so wendeten sie sich ihrerseits wieder an die armenischen Bankiers und erhoben bei ihnen Anlehen zu blutigen Interessen, um die Kaution zu bestreiten. Die Provinz hatte dann den Staat, den wuchernden Bankier und endlich die habgierigen Paschas zu befriedigen; denn diese wollten so schnell als möglich ihre Beutel füllen, da sie von einem Tag auf den andern abgesetzt werden konnten. Statt dessen wurden nun die Gemeinden selbst mit der Verteilung und Eintreibung der Steuern beauftragt; die Zentralgewalt, die bisher der Pascha in Händen führte, wurde getrennt; die militärische, Justiz- und Finanzverwaltung wurde nämlich drei verschiedenen, von einander unabhängigen und unter dem unmittelbaren Befehl der Regierung stehenden Häuptern anvertraut. — Eben so ward der Karatsch oder die Kopfsteuer der Rajahs, deren Erhebung bisher zu den empörendsten Misshandlungen der Nichtmohamedaner Anlass gegeben, den Gemeinden selbst zur gleichmäßigen und billigen Verteilung überlassen. — Die Munizipalbehörden wurden mit Bürger n aller Konfessionen, ohne Unterschied, besetzt und man sah, was man auch im zivilisierteren Europa nicht überall sieht, Muselmänner, Juden und Christen der verschiedensten Sekten friedlich zusammensitzen und nach Stimmenmehrheit über ihre inneren Angelegenheiten entscheiden. — Endlich wurde auch ein Strafgesetzbuch abgefasst, aus welchem einige der altbarbarischen, dem mohamedanisch-türkischen Prinzip angemessenen Hinrichtungsmethoden, das Spießen, Rädern usw., verschwunden sind. Allerdings ist Vieles von diesen Verbesserungen mehr de jure als de facto eingeführt, der türkische Augiasstall ist, wie jeder andere, nicht mit einem Besenstrich zu säubern, aber dennoch sind bereits viele Missbräuche, die einst an der Tagesordnung waren, eine Seltenheit geworden.

Diese Fortschritte mögen eine Bagatelle sein in den Augen des europäischen Lesers, bedenkt man aber den Standpunkt der Zivilisation im Orient, so sind sie es nicht; eben so wenig als die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland eine Bagatelle wäre, weil sie sich bei uns von selbst versteht. Die türkischen Fortschritte sind für die Türkei eben so viel und noch mehr, als für uns Pressefreiheit und Geschworenengerichte, die sich doch in England auch von selbst verstehen. Was Gerichtspflege und Verwaltung betrifft, dürfte der Türke übrigens weder den Russen, noch den Bewohnern des Kirchenstaates zu beneiden haben. Ein wohldenkender und kluger Minister hat diesem barbarischen Volke seine Bagatellen wenigstens in dem Augenblicke verschafft, wo das Bedürfnis darnach allgemein wurde, während hochgebildete Völker ihre Bagatellen mit allen längstgefühlten Bedürfnissen, mit allen politischen Gedichten, mit allen Agitationen und Zweckessen sich nicht erringen können.

Kehren wir zu Reschid-Pascha zurück. Die türkisch-ägyptische Frage war immer verwickelter geworden. Reschid, der den Bürgerkrieg zwischen Muselmännern und Muselmännern, bei dem sich nur der Erbfeind des Reiches ins Fäustchen lachte, tief beklagte, hätte ihn gern durch einen unmittelbaren Vergleich zwischen dem jungen Sultan und dem alten Pharao von Ägypten geschlichtet; ein Vergleich, den der Tod Mahmuds, des halsstarrigen und persönlichen Feindes von Mehemed-Ali, erleichtert hätte. Allein ehe Reschid in Stambul zurück war, hatte sich Europa zum Schiedsrichter aufgeworfen. Das österreichische Kabinett sah in der Frage eine Klappe, um zwei Fliegen auf einmal zu treffen; nämlich ein Mittel, das ausschließliche Protektorat Russlands, welches auf dem Traktate von Unkiar-Skelessi beruhte, zu brechen, und die englisch-französische Allianz zu sprengen. Es beeilte sich daher, den Mächten eine gemeinsame Intervention vorzuschlagen; und Reschid-Pascha musste sich mit einer passiven Zuschauerrolle begnügen, während das Abendland zu Gerichte saß über den Streit der beiden Osmanlis. Man weiß, wie das schiedsrichterliche Urteil ausfiel; die Macht Mehemed Alis ward gebrochen, ohne dass die Macht der Pforte dadurch befestigt wurde. Der einzige Gewinn des Reiches bestand darin, dass es von dem ausschließlichen Schutze der nordischen Macht erlöst und unter den Schatten des allgemeinen europäischen Völkerrechtes gestellt wurde, wie es seit dem >Wiener Kongress gültig ist; aber die Vorhand des russischen Einflusses, obwohl vom Papiere verschwunden, blieb darum sehr fühlbar und spielte immer neue und neue Intrigen, bis endlich am 29. März 1841, wenige Tage nachdem die kaiserliche Flotte aus ihrer Gefangenschaft im Hafen von Alexandrien heimgesegelt kam, der reformatorische Minister seine Entlassung erhielt und wieder als Gesandter nach Paris geschickt wurde. Zur Versüßung der Pille bezeigte ihm der Sultan in den huldvollsten Ausdrücken die glänzendste Anerkennung seiner Verdienste und hing ihm, tout comme chez nous, einen Nischan der dritten Klasse um. Auch diese Form ist modern, denn in früheren Zeiten pflegte die Byzentinische Hauspolitik ihre Diener mit kostbaren Pelzen zu dekorieren; ein solideres Geschenk, welches, gleichsam ein Orden über den ganzen Leib, mehr in die Augen fiel, als die mageren Orden der Neuzeit.

Jetzt hört Europa, welches über die Wandlungen der orientalischen Politik bereits eben so wenig zu erstaunen gewohnt ist, wie über die wunderbaren Wechsel in „Tausend und Einer Nacht“, dass Reschid als Minister des Auswärtigen zurückberufen ist. Und warum? Hat der Sultan vielleicht die Notwendigkeit einer zeitgemäßeren Politik eingesehen? Haben Reschids aufgeklärten Freunde es dahin gebracht? Wer weiß? Vielleicht dass der vorige Premier zur unrechten Zeit ausgespuckt, vielleicht dass er dem Nachfolger des Propheten, während einer Orgie in den mysteriösen Serailgemächern, ins Gehege kam, - genug, der Beherrscher der Gläubigen macht eine Spazierfahrt auf einem Dampfboote, und bei einer duftenden Nargileh fällt ihm plötzlich ein, zur Abwechslung es wieder einmal mit dem modernen Steuermanne Reschid zu probieren. Allein eben so gut hätte eine großherrliche Laune das Portefeuille einem Chosrew, einem Halil oder Achmet an den Kopf werfen können. Gewiss hat der Einfluss einer auswärtigen Macht die sonst blinde Wahl des Großfürsten auf Reschid gelenkt. In aller Eile wird daher tabula rasa gemacht; Exschuster, Schiffsknechte oder Bartkräusler stürzen von den ministeriellen und statthalterlichen Höhen, auf die sie sich während des Reformators Abwesenheit hinaufgezaubert, und dieser hat nun das süße Geschäft, gut zu machen, was jene verdorben haben, d. h. seine Arbeit von Neuem anzufangen. Wer weiß, ob Reschid nicht müde wird, Wasser in das Fass der Danaiden zu tragen, zwischen dem griechischen Feuer der nordischen Diplomatie und den arabischen Flammen des heimischen Fanatismus ewig durchzulavieren, und das ohnmächtige Szepter Abd-ul-Medschids in der Hand die Erbschleicher vom Totenbette der Türkei zu scheuchen? Wer weiß, vielleicht beneidet er zuweilen das Los des letzten Streiters in der Pariser Presse, oder vielleicht zöge er es vor, ein Rivale Hammer-Purgstalls zu werden und mit orientalischer Ruhe ein Werk zu schreiben über die „Größe und den Verfall des ottomanischen Reiches“. Der Gründer der türkischen Konstitution wäre vielleicht der beste Nekrologist der Türkei.

Constantin XIII. letzter byzantinischer Kaiser

Constantin XIII. letzter byzantinischer Kaiser

Pilger

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Handwerker auf dem Bazar

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Im Harem

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